Zur Premiere von Corinna Harfouch als „Tatort“-Ermittlerin g�nnt die ARD dem Berliner Team einen zweiteiligen Krimi mit au�erordentlicher gesellschaftlicher Relevanz. „Nichts als die Wahrheit“ (rbb / Madefor Film) handelt von einem rechten Netzwerk in Polizei, Justiz und Wirtschaft. Harfouch spielt eine erfahrene Kommissarin, die nach dem Tod einer Polizistin und nach zw�lf Jahren als Ausbilderin in der Polizei-Akademie in die Praxis zur�ckkehrt. Mit Mark Waschke bildet sie ein sehenswertes und vielversprechendes Team, wobei sich der Berliner „Tatort“ mit der abgekl�rten Figur einer �lteren Kommissarin deutlich ver�ndert: Umgangston und Atmosph�re sind weniger rau. Die hohen Erwartungen kann der von Stefan Kolditz und Katja Wenzel ambitioniert konstruierte Verschw�rungs-Thriller nicht ganz erf�llen, ein spannendes Krimi-Drama �ber die Bedrohung von rechts, �ber Loyalit�t und Verrat ist der von Robert Thalheim inszenierte Fall aber allemal.
Foto: RBB / Pascal B�nningZwei eigenwillige Charaktere in Berlin: Bonard und Karow erarbeiten sich schnell gegenseitigen Respekt. Und genauso spielen Corinna Harfouch und Mark Waschke die Phase des Kennenlernens: souver�n, unspektakul�r und ohne extreme Emotionen.
Das Publikum lernt Susanne Bonard, die von Corinna Harfouch gespielte Neue im Berliner „Tatort“, als Dozentin im H�rsaal der Polizei-Akademie kennen. Mit dem Richter Kaya Kaymaz (Ercan Kara�ayli), ihrem Ehemann, bildet sie nicht nur dort ein eingespieltes Team. „Recht ist nicht das, was Sie sich w�nschen. Recht ist das, was Sie durchsetzen“, gibt Bonard den jungen Polizistinnen und Polizisten mit auf den Weg. Bonard hat ein Standardwerk geschrieben und gilt als angesehene Dozentin. Der beeindruckte Malik (Tan �ağlar) nennt sie „Heilige Susanne“, sein Chef Robert Karow (Mark Waschke) begegnet der neuen Kollegin eher reserviert, denn sie habe „zw�lf Jahre lang die Welt drau�en durchs Fenster beobachtet“. Der Praxisschock h�lt jedoch nicht lange an, Bonard und Karow erarbeiten sich schnell gegenseitigen Respekt. Souver�n, unspektakul�r und ohne extreme emotionale Ausschl�ge spielen Harfouch und Waschke die Phase des Kennenlernens und Abtastens.
Im Berliner „Tatort“ herrscht eine sp�rbar andere, weniger hitzige Atmosph�re als in den Zeiten, als Meret Becker an der Seite Waschkes zu sehen war und die oft ungl�ckliche, in sich zerrissene Kommissarin Nina Rubin gab. Die �ltere, abgekl�rte Kollegin Bonard ist dagegen ein echter Kontrast, zumal ihr Privatleben dank warmherzig-humorvoller Ehe-Dialoge und einer sympathisch-schr�gen Sohn-Figur (Ivo Kortlang) harmonisch und gefestigt wirkt. Auch Karow tritt nach der vorherigen, sehr pers�nlichen Episode („Das Opfer“) wie ausgewechselt in Erscheinung: nicht mehr so grob, aufbrausend und zynisch. Trotz der Top-Besetzung: Wer gerade das Rotzige und Raue im Berliner Gro�stadt-„Tatort“ gesch�tzt hat, wird von diesem ersten gemeinsamen Fall von Waschke und Harfouch wom�glich entt�uscht sein.
Foto: RBB / Marcus GlahnRalf (Gustav Schmidt), zwischen den Mitstudenten Michael (Vito Sack) und Maximilian (Baris G�l), schildert seine Sicht auf die Lehr�bung in der Polizei-Akademie, in der es zu einem gewaltsamen �bergriff kam. Anstatt die Vorg�nge �ffentlich zu machen, werden sie unter den Teppich gekehrt. Bonard ist au�er sich.
Der Tod einer Streifenpolizistin f�hrt die 62 Jahre alte Kommissarin Bonard wieder zur�ck in die Praxis. Rebecca K�stner (Kaya Marie M�ller), eine ehemalige Sch�lerin, ruft am Abend an und bittet um Hilfe, doch Bonard wimmelt sie ab: Zum einen ist sie abgelenkt durch ein Video, das ihr zugespielt wurde und einen gewaltsamen �bergriff bei einer Praxis�bung in der Akademie dokumentiert. Zum anderen hat sie K�stner wegen eines rassistischen Witzes in schlechter Erinnerung. Am n�chsten Morgen wird K�stner erschossen in ihrer Wohnung aufgefunden. Am Telefon hatte sie Bonard gebeten, etwas zu bewahren, „ehe es zu sp�t ist“. Und: „Es ist gr��er, als ich dachte“, sagte die aufgel�ste K�stner. Die Inszenierung von Robert Thalheim („The Billion Dollar Code“, „Am Ende kommen Touristen“) legt zwar nahe, dass ein Selbstmord nicht ausgeschlossen ist. Aber die Polizei findet keinen Abschiedsbrief. Stattdessen entdeckt Kommissar Robert Karow K�stners vierj�hrigen Sohn Matti (Yvon Sable Moltzen) im Garten, wo sich der Junge versteckt hat. Der getrennt von seiner Frau lebende Vater Paul (Bernhard Conrad) scheint mit dem verst�rten Matti �berfordert zu sein.
Die zweiteilige Episode „Nichts als die Wahrheit“ thematisiert – nicht zum ersten Mal beim „Tatort“ – Rassismus und rechte Tendenzen (nicht nur) bei der Polizei. Drehbuch-Autor Stefan Kolditz selbst hatte in der NDR-Folge „Verbrannt“ (2015) den realen Fall des 2005 in einer Dessauer Polizei-Zelle verbrannten Guineers Oury Jalloh aufgegriffen. Gemeinsam mit Katja Wenzel – beide hatten bereits bei den Serien „Das Geheimnis des Totenwaldes“ und „Der �berfall“ zusammengearbeitet – erz�hlt Emmy-Preistr�ger Kolditz („Unsere M�tter, unsere V�ter“) nun aber eine Geschichte, die tats�chlich „gr��er“ ist und deshalb auch mehr Zeit beanspruchen darf. Dass die Vorbereitungen eines rechten Netzwerks in Polizei, Justiz und Wirtschaft zur Bek�mpfung der Demokratie nicht v�llig aus der Luft gegriffen sind, liegt auf der Hand. Man denke nur an Themen aus der j�ngeren Vergangenheit wie die rechtsextremen Chat-Beitr�ge von Polizisten oder die Waffenfunde bei ehemaligen Elite-K�mpfern.
Foto: RBB / Marcus GlahnZwei, die von vornherein nicht koscher sind: Schutzpolizistin Tina Gebhardt (Bea Brocks) im Gespr�ch mit Immobilieneigent�mer Dietrich P�tzold (J�rn Hentschel).
Die im Zusammenhang mit den Umsturzpl�nen der Reichsb�rger-Szene verhaftete Richterin und ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkelmann sowie Hans-Georg Maa�en, der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes, standen augenscheinlich Pate f�r eine Figur, die erst in Teil 2 auftaucht. Birge Schade spielt eine Juristin, die stellvertretende Pr�sidentin des Bundesverfassungsgerichts werden soll. Aber diese Julia Kirchhoff, die von Thalheim wie eine Politikerin inszeniert wird, bleibt eine plakative Randfigur. Bisher erscheint es – zum Gl�ck – unglaubw�rdig, dass sich Kandidatinnen f�r das Karlsruher Gericht mit populistischer Rhetorik in der �ffentlichkeit zu profilieren versuchen. Aber auch so ist diese Figur am Ende eher eine Schwachstelle, weil sie keinen erkennbaren Bezug zur Handlung hat.
An einen ernsthaft drohenden politischen Umsturz mag man ohnehin nicht glauben. Trotz rechten V-Leuten, Waffensammlung f�r den „Tag X“ und Todeslisten reicht es nur ansatzweise f�r einen packenden Verschw�rungs-Thriller, aber immerhin f�r einen ambitionierten und spannenden, wenn auch etwas �berladenen Krimi �ber allt�glichen Rassismus und rechtsextreme Tendenzen auf verschiedenen Ebenen. Gleich zu Beginn wird ein schwarzer Jugendlicher von einer aus lauter Wei�en bestehenden Polizeistreife an einem Skatepark willk�rlich herausgepickt und kontrolliert. Vor den Augen der erschrockenen Rebecca K�stner rei�t sich der Jugendliche los und wird auf der Flucht von einem Auto erfasst. Ein klassischer Fall von „Racial Profiling“, der K�stner dazu veranlasst hat, belastendes Material gegen ihre Kolleg:innen zu sammeln. Auf der Polizei-Akademie wiederum l�sst es Ausbilder G�tz Lennart (Thomas Niehaus) zu, dass das Rollenspiel einer Verh�rsituation eskaliert und der angehende Polizist Ralf (Gustav Schmidt), Sohn des Akademie-Direktors Hans Lompert (J�rg Pose), seinen Mitsch�ler Max (Baris G�l) schl�gt, um eine Information zu erhalten. Lennart greift nicht ein, sondern schaltet nur das Video aus, das dann Susanne Bonard zugespielt wird. Als sie den Vorfall �ffentlich machen will, will der Direktor sie in den Vorruhestand abschieben. Immerhin gibt es auch noch Netzwerke anderer Art. Da die befreundete Polizeipr�sidentin ihr noch einen Gefallen schuldig sei, kapert Bonard kurzerhand Rubins frei gewordene Stelle – nur f�r diesen einen Fall, „dann bin ich weg“, erkl�rt sie dem �berrumpelten Karow. Diesen Satz darf man aber nicht allzu w�rtlich nehmen.
Foto: RBB / Marcus GlahnDer einzige Zeuge. Der Gefl�chtete Najim (Shadi Eck) wei� offenbar, wer seinen Bruder auf dem Gewissen hat, aber er hat Angst. Auch der Zuschauer wei� oft mehr.
Weitere Schaupl�tze sind eine d�stere Baustelle, auf der zwei aus Syrien gefl�chtete Br�der schwarz besch�ftigt sind, und eine gro�e, offenbar florierende Sicherheitsfirma, die sich gerne aus dem Pool unzufriedener Polizist:innen bedient, angeblich um sie zu Eins�tzen im Ausland zu schicken. Dass deren Chef Arne Koch (Sebastian H�lk) und Bau-Unternehmer P�tzold (J�rn Hentschel) ebenso zu dem rechten Netzwerk geh�ren wie K�stners Dienststellenleiter Guido Konrad (Christoph J�de), ist unschwer zu erraten. Und nat�rlich mischt auch der Geheimdienst mit. Verfassungssch�tzer Reitemeier (Tilo Nest) trifft sich mit seinen V-Leuten gerne in Sichtweite des Berliner Regierungsviertels, was wohl unterstreichen soll, wie nahe das rechte Netzwerk der Macht gekommen ist. Spannend wird es insbesondere, als sich K�stners besonders stramm rechts wirkende Kollegin Tina Gebhardt (Bea Brocks) als Undercover-Agentin entpuppt. Bonard ist emp�rt, dass Reitemeier bei einem Verh�r Gebhardts auftaucht und der Polizei weitere Ermittlungen verbietet. „Willkommen in der Realit�t“, kommentiert Karow trocken.
Nicht zuletzt geht es in dem vergleichsweise komplexen, zweiteiligen „Tatort“-Drama um Loyalit�t und Verrat, um den „Code of Silence“ innerhalb geschlossener Gruppen. Nach zwei weiteren Morden als Cliffhanger am Ende des ersten Teils spitzt sich die Handlung zu und m�ndet in ein m�gliches Attentats-Szenario. F�r Spannung ist also durchaus gesorgt, auch wenn der Zweiteiler die hohen Erwartungen, die sich naturgem�� mit einer Verpflichtung von Corinna Harfouch verbinden, nicht ganz erf�llen kann. (Text-Stand: 18.4.2023)
Foto: RBB / Marcus GlahnEin guter Einstand. Der war bei dieser Besetzung auch zu erwarten. Auch der Plot um Loyalit�t, Verrat und den Code of Silence geschlossener Gruppen tr�gt zwei Teile, wenngleich die 180 Minuten thematisch etwas �berladen und politisch allzu erwartbar sind. Aufrechte Ermittlungsarbeit ersetzt hier die fiebrig-raue Gro�stadt-Atmosph�re.
Thomas Gehringer, freiberuflicher Journalist aus K�ln, schreibt f�r epd medien, den "Tagesspiegel" und andere regionale Tageszeitungen, Mitglied in Jurys und Nominierungskommissionen des Grimme-Preises.