Frau im Schatten

Eine Künstlerin muss […] frei sein, sonst kann sie sich nicht entwickeln“, schrieb Clara Westhoff (1878 –1954) in einem Brief an ihre Eltern. Da war die in Bremen Geborene gerade 19 Jahre alt und konnte noch nicht wissen, wie sehr dieser Satz ihr lebenslanges Ringen um Freiheit beschreibt. Denn Clara Westhoff war nie frei. Vor allem nicht von finanziellen Sorgen und Abhängigkeiten. Doch nicht nur das hat ihre Entwicklung als Künstlerin entscheidend beeinflusst, behindert und auch verhindert. Von Beginn ihrer Karriere an kämpfte sie – wie einige ihre Künstler-Freundinnen und Kolleginnen – gegen die weit verbreiteten Vorstellungen von den Aufgaben und Fähigkeiten einer Frau. So wurde ihre Kunst, die sie 1899 erstmals in der Kunsthalle Bremen zeigen konnte, zwar gelobt. Der Fakt aber, dass es eine junge Frau war, die da Plastiken vorstellte, wurde heftig kritisiert. In der „Weser-Zeitung“ hieß es: „Eines möchten wir zu bedenken geben. Die Künstlerin ist, wie wir hören, eine noch sehr junge Dame; dafür scheint uns ihre Kunst schon ein bißchen reichlich dreist. Dreistigkeit steht nur ganz kleinen Kindern wohl, hernach, und namentlich junge Mädchen, kleidet eine zarte Schüchternheit viel anmutiger, bis dann, bei reiferen Jahren die kindliche Dreistigkeit als jugendliche Kühnheit wieder hervortreten und alle Herzen bezaubern mag“, schrieb der einflussreiche Bremer Kunstkritiker Arthur Fitger. Es lohnt nicht, das Frauenbild dieses Herrn zu kommentieren.

Die Sätze stehen beispielhaft für eine Zeit, in der – trotz vieler Emanzipationsbemühungen – selbst die Ausbildung zur Künstlerin von Rollenklischees bestimmt war. Als Auguste Rodin 1900 seine private Bildhauerschule in Paris eröffnete, richtete er zwei Ateliers ein: das eine für den Künstler-Unterricht, das andere für die Künstlerinnen. Dass nur wenige Frauen etwas dagegen einwenden würden, wusste Clara Westhoff, eine der Schülerinnen Rodins, bereits aus ihren Münchner Studienjahren. Dort hatte sie die private Malschule Fehr besucht und an ihre Eltern über die Mitstudentinnen geschrieben: „Viele Damen wollen so für sich und ihre Familie etwas malen lernen. […] Das kann man in zwei Jahren erreichen. Sie können dann aber nichts ordentlich.“

Oskar Zwintscher, Clara Rilke Westhoff,1902,102 × 93 cm; Privatbesitz
Oskar Zwintscher, Clara Rilke Westhoff,1902,102 × 93 cm; Privatbesitz

„Nichts ordentlich“ zu können, war Clara Westhoff ein Gräuel, und so verließ sie die Münchner Malschule bald wieder, ging nach Worpswede, um bei Fritz Mackensen weiter zu lernen. Der bestärkte sie, Bildhauerin zu werden. Das war eine ungewöhnliche Entscheidung, denn Frauen wurden vielleicht Malerinnen, Bildhauerinnen nicht. Diese Kunst galt für eine Frau als zu anstrengend. Auch war es Frauen in Deutschland untersagt, am Anatomieunterricht teilzunehmen. Das hatte Clara Westhoff schon erfahren, als sie während der Malerei-Ausbildung in München versuchte, zum Anatomieunterricht zugelassen zu werden. Alle Mühe blieb erfolglos, obwohl sie sogar beim Minister für „Cultus und Unterricht“ vorsprach. Doch Clara Westhoff gab nicht auf. Nachdem sie bei Mackensen gelernt hatte, zog sie weiter zu Max Klinger nach Leipzig und dann nach Paris. Denn in Paris, wo sie ab 1899 die Académie Julian besuchte, hatte sie immerhin die Möglichkeit, an Anatomiekursen teilzunehmen. Und sie traf Rodin, der sie schätzte, den sie bewunderte, dem sie ihre Arbeit zur Begutachtung und Korrektur vorlegen durfte. Wie zuvor schon Max Klinger Einfluss auf die Entwicklung der jungen Künstlerin nahm, so war die Begegnung mit Rodin für die Herausbildung eines eigenen Stils entscheidend. Dabei blieb Clara Westhoff weit entfernt von der Monumentalität und Expressivität Rodins. Ihre Arbeiten – vor allem die frühen Porträts und die Kinderakte – zeigen nicht nur technisches Können, sondern viele Ansätze zu einer eigenen künstlerischen Handschrift mit ruhigem Ausdruck, eleganten Formen, einem perfekten Gespür für die Fragilität von Körpern und die Eigenheiten von Gesichtern. Man könnte meinen, das wären gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere. Doch sie gelang, wie bei den meisten Frauen ihrer Zeit, nicht. Zu behaupten, das hätte allein mit den beschriebenen Umständen zu tun, wäre zu einfach. Doch es wäre ebenfalls falsch, diese Umstände auszublenden.

Die Schwierigkeiten zeitgenössischer Künstlerinnen, die gleiche Anerkennung zu finden wie ihre Kollegen, erscheinen im Vergleich mit den Widerständen, denen Clara Westhoff vor 110 Jahren begegnete, weniger groß. Nicht nur, weil es heute gleiche Ausbildungsmöglichkeiten gibt, sondern vor allem, weil Künstlerinnen (meist) unabhängig von ihrem Äußeren und nicht mehr als Kunstwerk an sich betrachtet werden. Das war selbst 1954, als die Nachrufe auf Clara Rilke-Westhoff erschienen, noch anders. In diesen Nachrufen war mehr vom „Adel ihrer Erscheinung“ die Rede als von ihrem Werk. Ihr klarer Blick habe Menschen und Dinge durchdrungen, hieß es. Sie erinnere an „die sagenumwobenen Frauen der Vorzeit, denen übernatürliche Kräfte zugesprochen wurden“, stand in einem Nachruf. Bei Clara Rilke-Westhoff verstellte allerdings nicht nur die traditionelle Sicht auf die Rolle der Frau den Blick auf die Kunst. Das große Interesse an ihrem Ehemann Rainer Maria Rilke ließ die Bildhauerin komplett hinter dem Dichter und seinem Leben voller schöner, interessanter Frauen verschwinden. Man könnte auch meinen, allein diese Ehe habe das Interesse an der Person Clara Rilke-Westhoff und ihrer Kunst wachgehalten. Beides stimmt ein wenig und trifft es doch nicht.

Ursel Berger, ehemalige Direktorin des Georg Kolbe Museums in Berlin, sieht Clara Rilke-Westhoff zerrieben zwischen einflussreichen Menschen, Kunststilen und Städten. Sie habe sich nicht finden können, sagt Berger, die ihre „feinen, zarten Porträts und die Zeichnungen“ jedoch sehr schätzt. Es steht uns Nachgeborenen nicht zu, über die Ehe mit Rilke zu richten. Die Fakten sprechen sowieso für sich: Als Rainer Maria Rilke im Sommer 1900 zu Besuch nach Worpswede kam, war er bezaubert von der drei Jahre jüngeren Clara Westhoff. Die Heirat folgte schnell und unspektakulär. Am 28. April 1901 nahm Rilke im Esszimmer der Schwiegereltern die wohl bereits schwangere Clara Westhoff zur Frau. Zum Kirchgang war Rilke zu schwach – er hatte Scharlach. Die Flitterwochen verbrachte das Paar im Lahmann-Sanatorium am Weißen Hirsch Dresden, damit sich Rilke kurieren konnte. Danach zogen sie nach Westerwede, im Dezember wurde die gemeinsame Tochter Ruth geboren, im folgenden Sommer zog Rilke wieder aus. Er konnte seine Familie mit seiner eigenen Arbeit nicht ernähren und ertrug das Leben mit Frau und Kind in bürgerlicher Bescheidenheit nicht. Rilke ging nach Paris und wurde Privatsekretär von Rodin.

Clara gab die Tochter zu den Großeltern und begleitete ihn jahrelang nach Italien und Schweden, nach Paris und Berlin. Denn richtig lösen konnte sie sich nicht von ihrem Ehemann, der sich längst von ihr gelöst hatte. Zwischendurch versuchte sie immer mal wieder, allein Fuß zu fassen. Nichts gelang so gut, dass sie bleiben konnte.  Erst als die Tochter elf Jahre alt war, konnte Clara Rilke-Westhoff sie zu sich nehmen. 1911 hatte sie sich in München niedergelassen, bekam ein wenig Unterstützung von Rilke und hatte den einen und anderen Auftrag. Nun reichte sie auch die Scheidung ein. Rilke war einverstanden. Offiziell vollzogen wurde die Trennung jedoch nie. Beide Ehepartner hatten nicht genug Geld, um die Scheidungskosten zu bezahlen. Als Rilke Ende 1926 starb, war Clara Rilke-Westhoff seit Jahren zurück in ihrer Heimat und lebte dort bis an ihr Lebensende – immer weiter arbeitend, immer weiter ums finanzielle Überleben kämpfend. Es entstanden viele Porträts, geprägt von genauer Beobachtung. Doch im Vergleich zu den frühen Bildnissen wirken sie allzu glatt, sehr einheitlich, fast süßlich, mit wenig eigener Handschrift.

In Fischerhude kennt man sie noch heute als ­„Unsere Frau Rilke“, erzählt Rainer Noeres, Direktor des Otto Modersohn Museums. Noeres plant zum 60. Todestag der Künstlerin (gest. am 9. März 1954) eine Ausstellung. Sie wird zwischen März und Mai 2014 gezeigt werden. Dann gibt es eine der seltenen Gelegenheiten, zumindest einem Teil des Werks von Clara Rilke-Westhoff direkt gegenüberzutreten. Momentan ist das nahezu unmöglich. Allein das Werkverzeichnis von Marina Sauer versammelt alle erreichbaren Werkabbildungen und ist damit nicht nur die verlässlichste, sondern auch die einzige umfassende Quelle zu Leben und Werk von Clara Rilke-Westhoff. Marina Sauer, Direktorin der Städtischen Galerie Albstadt, interessierte sich 30 Jahre nach dem Tod der Künstlerin als erste Kunsthistorikerin für Clara Rilke-Westhoff. „Sie wurde immer nur als Anhängsel erwähnt: als Frau von Rilke, als Freundin von Paula Becker, als Schülerin von Mackensen und Klinger und Rodin“, sagt Sauer, die mit Biographie und Werkverzeichnis dieser Sichtweise entgegentreten wollte. Es gelang. 1985 erschien nicht nur ihr Buch, eine Ausstellungstournee mit vier Stationen folgte.

Bekannter ist Clara Rilke-Westhoff durch Werkverzeichnis und Ausstellungen geworden. Populär nicht. Noch immer werden ihre Werke – soweit sie überhaupt in öffentlichen Sammlungen sind – nur selten hervorgeholt und allzu wenig in Publikationen oder For­schungen einbezogen. Für Rainer Stamm, Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg, ist das allerdings nicht besonders verwunderlich, denn auch er schätzt längst nicht alle Werke der Künstlerin. „Am Anfang war sie sehr stark, doch dann gab es einen deutlichen Qualitätsverfall. Doch das starke Frühwerk ist es unbedingt wert, wiederentdeckt zu werden“, sagt er. Rainer Stamm ist einer der wenigen, die sich mit dem Werk der Bildhauerin überhaupt beschäftigt haben. So zeigte er in den Kunstsammlungen Böttcherstraße 2003 eine Rekonstruktion der Ausstellung, die Clara Westhoff, Paula Becker und Marie Bock als junge (unverheiratete) Künstlerinnen in der Bremer Kunsthalle hatten.

Auf dem Kunstmarkt taucht nicht öfter als alle paar Jahre ein Werk der Bildhauerin auf. Es ist dann, nach den Erfahrungen des Galeristen Wilfried Cohrs-Zirus, auch schnell wieder verkauft. Denn wer etwas von Clara Rilke-Westhoff besitzt, gibt es selten her. Das meiste, was die Bildhauerin schuf, ist daher auch heute in Privatbesitz und im Nachlass, der von der Familie Rilke in Gernsbach bei Baden-Baden betreut wird.

Rainer Noeres würde diesen Nachlass gern nach Fischerhude holen. Seitdem im vergangenen Jahr der Erweiterungsbau des Otto Modersohn Museums eröffnet wurde, gäbe es Platz für Claras Kunst und endlich einen Ort, an dem sie dauerhaft gezeigt und erforscht werden könnte. Doch das ist momentan nur ein Wunsch.