„Ein Kind wird gesucht“ (ZDF, Arte / Lailaps Pictures) wirkt wie ein Dokudrama ohne Interviews: Der Film schildert umfassend und sachlich die Arbeit der „Soko Mirco“, die 2010 am Niederrhein fast f�nf Monate lang nach einem verschwundenen Jungen gesucht hat. Das Drehbuch von R�der/Breinersdorfer orientiert sich an den B�chern, in denen der Soko-Leiter und die Eltern des Kindes die Ereignisse verarbeitet haben. Urs Eggers Inszenierung setzt den beharrlichen Bem�hungen der Beamten, die nie aufgegeben und den T�ter schlie�lich zur Strecke gebracht haben, ein Denkmal. Kein klassischer Krimi, aber trotzdem spannend.
Es klingt etwas absurd, einem Krimi zu attestieren, er sei spannend wie ein Krimi. Aber „Ein Kind wird gesucht“ funktioniert anders: keine Vernehmungen, keine Verfolgungsjagd, kein „Wenn’s der nicht war, dann vielleicht jener?!“ Und wer sich noch an den „Fall Mirco“ erinnert, wei� ohnehin, wie die Geschichte ausgeht, denn das Drehbuch von Katja R�der und Fred Breinersdorfer h�lt sich eng an den authentischen Fall: Im Sommer 2010 verschwindet in einem Dorf am Niederrhein der zehnj�hrige Mirco. Die Polizei tut alles Menschenm�gliche, um den Jungen zu finden. „Soko Mirco“-Leiter Ingo Thiel l�sst auch dann nicht nach, als die blutbefleckte Kleidung des Kindes entdeckt wird und kaum damit zu rechnen ist, dass es noch lebt. Es dauert f�nf Monate, bis sich die Eltern endlich von Mirco verabschieden k�nnen.
Foto: ZDF / Kerstin StellerIngo Thiel (Heino Ferch) & sein Kollege (Felix Kramer) suchen nach Augenzeugen.
Nat�rlich geht es auch darum, den M�rder aufzusp�ren, aber der Film k�nnte ebenso gut „Das Versprechen“ hei�en: weil Thiel zu Beginn der Geschichte sein Wort gibt, er werde den Jungen finden. Der Titel „Ein Kind wird gesucht“ trifft daf�r die erz�hlerische und gestalterische Haltung: Da R�der und Breinersdorfer die Arbeit der Polizei minuti�s schildern und Regisseur Urs Egger die Ereignisse betont sachlich inszeniert, wirkt der Film mit seinen f�rs ZDF typischen k�hlen Krimibildern und der sparsam eingesetzten Musik mitunter wie ein Dokudrama ohne Interviews. Eigen- und Ortsnamen der wichtigsten Beteiligten wurden nicht fiktionalisiert, regelm��ige Einblendungen („Tag 16“) zeigen an, wie viel Zeit seit dem Verschwinden des Jungen verstrichen ist. Das Drehbuch basiert auf den Sachb�chern „Soko im Einsatz“ von Thiel sowie „Mirco: Verlieren. Verzweifeln. Verzeihen“ von den Eltern des Jungen. Sie geben dem Fall eine spezielle Note, denn sie sind Mitglieder einer freikirchlichen Pfingstgemeinde. Mit tiefgl�ubigen Menschen tut sich das Fernsehen immer schwer, und auch dieser Film bildet da keine Ausnahme: Sandra und Reinhard Schlitter machen auf die Beamten (und damit auf die Zuschauer) den Eindruck, als seien sie nicht von dieser Welt. „Bisschen verspult“ nennt sie einer der Polizisten. Dass es befremdlich anmutet, wenn die Eltern Trost im Gebet finden oder Thiel versichern, Jesus sei immer bei ihm, ist jedoch Sache des Regisseurs: Egger zeigt die Schlitters konsequent aus sekularer Perspektive und l�sst sie wie sektiererische Sonderlinge wirken. Die Besetzung unterstreicht diese Haltung noch.
TV-Spielfilm urteilt: "Viel besser kann ein Tatsachenkrimi ncht sein. Packend erz�hlte Realit�t statt Krimieinerlei – stark!"
Foto: ZDF / Kerstin StellerIst Sohn Mirco tot? Sandra Schlitter (Silke Bodenbender) findet Trost in ihrem Glauben an Gott, w�hrend ihr Mann Reinhard (von B�low) zu zweifeln beginnt.
Heino Ferch spielt den Soko-Leiter, wie er solche Rollen meistens angeht: ohne eine Miene zu verziehen. Es sind nicht die Sonnenbrille oder die schwarze Lederjacke, die Ingo Thiel zu einem coolen Typen machen, sondern Ferchs Ausstrahlung. Zwischendurch rastet der Mann mal aus, weil ein Vorgesetzter die Soko verkleinern will oder weil ein Mitarbeiter unbest�tigte Informationen an die Eltern weitergegeben hat, aber ansonsten verk�rpert Ferch den Polizisten als Mann, der sein sich gesetztes Ziel erreichen will; nicht obsessiv, aber ohne R�cksicht auf Verluste. Die zwei Szenen, die dies verdeutlichen sollen, sind Egger allerdings arg klischeehaft geraten: Thiel, offenkundig geschieden, bekommt Krach mit seiner Ex-Frau, weil er nach Mirco sucht, anstatt sich um seine eigenen S�hne zu k�mmern. Aus Sicht des offenbar nicht religi�sen Polizisten ist Sandra Schlitter eine sonderbare Frau, zumal Silke Bodenbender die Mutter in ihrem unersch�tterlichen Gottvertrauen mit einem imagin�rem Heiligenschein versieht. Im Vergleich zu soviel Sanftmut im Verbund mit der Bereitschaft, dem M�rder zu vergeben, versieht Johann von B�low den Vater mit einer fast schon erfrischenden Diesseitigkeit, denn er stellt die Frage aller Zweifelnden: Wenn Jesus immer da ist, wie kann er dann so eine Untat zulassen? Die Soko-Mitglieder �berpr�fen Reinhards Alibi und erkundigen sich nach allzu innigen Kontakten zu den m�nnlichen Gemeindemitgliedern. Zur Routine geh�rt auch die Frage, ob Sandra wom�glich ein Verh�ltnis habe, weil sich p�dophile M�nner gern �ber die M�tter an die Kinder ranmachten. Gegenseitige Vorw�rfe der Eltern bleiben nicht aus, aber die jeweils einzeln ausgesprochene Aufforderung der Polizei, sich gegenseitig im Auge zu behalten, schwei�t das Paar wieder zusammen. Gr��ter Identifikationsmoment ist ein TV-Auftritt Sandras, bei dem Bodenbender die Verzweiflung der Mutter derart gut vermittelt, dass sp�testens jetzt jede Distanz erlischt. Abgesehen von Thiels Wutausbr�chen ist dies die einzige zutiefst emotionale Szene des Films, was ihre Wirkung nochmals verst�rkt.
Foto: ZDF / Kerstin StellerDie Journalisten-Meute st�rzt sich auf die Schlitters (Bodenbender & Letizia Caldi).
Der Rest ist Polizeiarbeit und entsprechend m�hsam: Drau�en durchk�mmen Suchtrupps die Gegend, drinnen werden Unmassen von Daten ausgewertet; der Schauplatz, ein verlassenes Finanzamt, ist �hnlich trostlos wie irgendwann die Stimmung der Beamten. Umso gr��er ist der Respekt, den der Film ihnen erweist: Erstaunt und erfreut stellt Thiel fest, dass selbst an Weihnachten alle geschlossen zum Dienst erschienen sind. Da Buch und Regie gerade in der zweiten H�lfte, in der die Eltern nur noch am Rande auftauchen, sehr n�chtern die Ermittlungsarbeiten schildern, bekommen die wenigen zwischenmenschlichen Momente umso mehr Gewicht: als die Truppe g�nzlich unironisch den f�nftausendsten telefonischen Hinweis feiert oder von Sandra an Nikolaus mit Pr�senten �berrascht wird. Alles andere als angenehm, gerade aus journalistischer Sicht, sind dagegen die absto�enden Methoden der Boulevardpresse, der �lteren T�chter ein paar S�tze zu entlocken. Das M�dchen ist auch an der einzig unglaubw�rdigen Szene beteiligt, als die kleine Schwester in kindlicher Unbefangenheit fragt, ob sie nun Mircos Zimmer bekommen k�nne, und von der gr��eren zurechtgewiesen wird. Diese Emp�rung wirkt �hnlich aufgesetzt wie einige Dialogs�tze der Kinder �ber Gott, aber wom�glich wollte Egger diese Momente ganz bewusst so wirken lassen: um nahezulegen, dass gerade die �ltere Tochter nicht sagt, was sie denkt; die Eltern m�gen ein gottgef�lliges Leben f�hren, aber die Kinder wollen vor allem den Eltern gefallen. Seltsam, dass der Film die Familie so diskreditiert. (Text-Stand: 19.11.2017)
Foto: ZDF / Kerstin StellerDer emotionalste Moment des sachlich erz�hlten Films. Bodenbender & von B�low
Tilmann P. Gangloff ist seit 1985 freiberuflicher Fernseh- und Filmkritiker f�r Tageszeitungen und Fachzeitschriften, seit 1990 regelm��iges Mitglied der Jury f�r den Grimme-Preis sowie Mitglied diverser anderer Fernsehpreisjurys.