Sterben | Verkopftes Familienporträt von Matthias Glasner
Corinna Harfouch + Lars Eidinger

Sterben

Tom Lunies (Lars Eidinger) dirigiert sein Orchester. Foto: © Port au Prince, Schwarzweiss, Senator Film, Wild Bunch
(Kinostart: 25.4.) Eine ziemlich kaputte Familie: Im autobiografisch inspirierten Film von Matthias Glasner herrschen hochgradig dysfunktionale Beziehungen vor. Drei Stunden zwischen prätentiöser Zumutung und Mut zum Risiko werden allein durch die hervorragende Besetzung erträglich.

Nachdem der Film etwa zwei Drittel seiner Laufzeit hinter sich gebracht hat, bringt einer der Charaktere das Problem selbst zur Sprache: Der depressive Komponist Bernard (Robert Gwisdek) sinniert darüber, wie schwierig es sei, den schmalen Grat zwischen Kitsch und Kunst zu treffen, zwischen Anbiederung an das Publikum und genuinem Ausdruck der eigenen künstlerischem Intention. Vor allem riskiere man mit Letzterem, vom Publikum nicht verstanden zu werden und in der Unsichtbarkeit zu versinken.

 

Info

 

Sterben

 

Regie: Matthias Glasner,

180 Min., Deutschland 2024;

mit: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Ronald Zehrfeld, Robert Gwisdek

 

Weitere Informationen zum Film

 

Anlass zu Bernards Verzweiflung ist die orchestrale Komposition namens „Sterben“, die sein Freund Tom Lunies (Lars Eidinger) für ihn dirigieren soll. Da drängt sich die Frage auf, ob der Film „Sterben“ eigentlich selbst diesen schmalen Grat trifft, oder man die filmische Zumutung, die er darstellt, nun mutig oder einfach nur prätentiös findet.

 

Graue Menschen in grauer Umgebung

 

Das zentrale Unbehagen des Filmes bereiten seine Figuren. Sie sind in der Mehrheit entweder schlicht unsympathisch oder emotional sehr distanziert. Es sind graue Menschen in grauen Wohnungen im grauen, deutschen November. Selten hat man sich mehr nach dem Frühlingsgrün außerhalb des Kinosaals gesehnt.

Offizieller Filmtrailer


 

Es ist kompliziert

 

Im Zentrum steht der Dirigent Tom Lunies. Er hilft seiner Ex-Freundin Liv (Anna Bederke) in Berlin, ihre neugeborene Tochter großzuziehen, weil sie mit dem biologischen Vater des Kindes nicht zusammen sein möchte. Das scheint eine Kompensation für eine Abtreibung zu sein, die Liv vor vielen Jahren hatte, während sie noch mit Tom zusammen war. Aus dieser komplizierten Konstellation ergeben sich allerlei Konflikte.

 

Noch schmerzhafter jedoch ist Toms Verhältnis zu seiner Mutter Lissie (Corinna Harfouch). Sie lebt mit ihrem dementen Mann irgendwo im platten Norddeutschland und ist selbst schwer krank. Lissie ist eine dieser Mütter, deren permanente subtile Kritteleien ihre Kinder in den Wahnsinn treiben. Kein Wunder, dass Tom und seine Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) schon lange auf Distanz zu ihr gegangen sind.

 

Großartig gespielte Herzenskälte

 

Corinna Harfouch zeigt in „Sterben“, was für eine großartige Schauspielerin sie ist. Lissie wirkt wie innerlich erstarrt und unfähig zur Kommunikation. Das kalte Herzstück des Filmes ist ein Dialog am Küchentisch mit ihrem Sohn nach der missglückten Beerdigung des Vaters. Beide knallen sich seelenruhig die furchtbarsten Dinge an den Kopf. Das ist grandios gespielt und gleichzeitig unendlich traurig.

 

Ellen spart sich lieber gleich die Pflichtbesuche bei ihrer emotional minderbemittelten Familie. Sie flieht stattdessen in den Alkoholrausch und in flüchtige Beziehungen. Ihr aktueller Liebhaber ist ein verheirateter Zahnarzt (Ronald Zehrfeld), der als einziger etwas Herzenswärme versprüht. Nach einigen Drinks entpuppt sich Ellen als gute Sängerin, die Verbindung zu ihrem musikalischen Bruder meidet sie trotzdem.

 

Ein Film als Frage

 

Wäre es nicht ein so exzellentes Ensemble, man würde „Sterben“ wohl kaum bis zum Ende aushalten. Worauf will Regisseur Matthias Glasner mit seiner mäandernden, autobiografisch inspirierten Handlung eigentlich hinaus? Im Regiekommentar verrät er: „Es ist ein Experiment: Ist es möglich, einen Film als eine Annäherung an sich selbst zu machen, gegen alle dramaturgischen Regeln? (…) Einen Film, der sich selbst nicht kennt, der aus reiner Atmosphäre besteht, der im Ungefähren verharrt?“ Das klingt nach Film als Therapiesitzung

 

Für eine Gesprächstherapie bietet „Sterben“ jedoch keine besondere behagliche Atmosphäre; der Film ist stellenweise sehr drastisch. Die Erniedrigungen des Alters werden ebenso unbarmherzig und realistisch dargestellt wie die Schauplätze. Da wird jeglicher filmischer Budenzauber vermieden. Ein Pflegeheim sieht aus wie ein Pflegeheim und fühlt sich im Film genauso deprimierend an wie im echten Leben.

 

Beihilfe zum Selbstmord

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "All my Loving" - bittersüße Dramödie über drei Geschwister von Edward Berger mit Lars Eidinger

 

und hier einen Bericht über den Film "Das Haus am Meer" – subitiles Familiendrama über drei Geschwister in einer Bucht bei Marseille von Robert Guédiguian

 

und hier eine Besprechung des Films "Liebe" - Ergreifendes Kammerspiel über Liebe + Tod von Michael Haneke

 

und hier einen Beitrag über den Film "Halt auf freier Strecke" - über die letzte Lebenszeit eines Krebskranken von Andreas Dresen.

 

Darüber hinaus gibt es ein paar unappetitliche Szenen. Aber ist es nun mutig zu zeigen, wie jemand sich im Suff einen Zahn zieht oder im Konzert kotzt? Regelrecht grenzwertig wird es, wenn Tom quasi genötigt wird, bei einem Suizid zu assistieren. Dieses auch im Bild explizit dargestellte Ereignis und seine Auswirkungen auf den Dirigenten und sein Inneres werden jedoch im Weiteren unter den Teppich gekehrt. Dafür hat der Film dann trotz seiner Überlänge keine Zeit mehr.

 

Überhaupt führt der Filmtitel in die Irre. Zwar sterben im Verlauf der Handlung verschiedene Figuren, aber es geht nicht wirklich um den Sterbeprozess oder darum, was der Verlust mit den Hinterbliebenen macht oder um eine Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des Lebens.

 

Thesenfilm mit schalem Beigeschmack

 

Ein verkopfter Thesenfilm wie dieser verdient das Prädikat „typisch deutsch“; vielleicht wird er deshalb in Deutschland so hoch dekoriert: „Sterben“ gewann einen Silbernen Bären für das beste Drehbuch auf der diesjährigen Berlinale und sammelte neun Nominierungen für den Deutschen Filmpreis.

 

Die spärliche Hoffnung in dieser Geschichte müssen einmal mehr die Frauen spenden. Sie setzen Kinder in die Welt, damit der Zyklus des Lebens von neuem beginnen kann und die an der Welt verzweifelnden Männer durch ihre Vaterrolle genesen können. Diese Vorstellung von Frauen als Retterinnen für gebeutelte Männerseelen hinterlässt doch einen sehr schalen Beigeschmack.