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Kunst / Kunsttheorie / Ästhetik, Philosophie

In dem 1931 erschienenen Werk entwirft der Autor u. a. ausgehend von der philosophischen Phänomenologie (E. Husserl, K. Twardowski) eine Schichtenontologie (W. Conrad, N. Hartmann) des literarischen Kunstwerks. Ingarden, der sich in Abgrenzung zu Husserl als Vertreter einer realistischen Phänomenologie (A. Pfänder, H. Conrad-Martius) sieht, versteht Das literarische Kunstwerk primär als eine ontologische Studie, die Teil eines umfassenderen philosophischen Projekts ist, das auf die Lösung der Frage abzielt, ob es eine bewusstseinsunabhängige Welt gebe („Realismus-Idealismus-Problem“). Eine adäquate Rekonstruktion von Das literarische Kunstwerk bedarf also der Einbettung der Kunsttheorie Ingardens in seine allgemeine Ontologie, die Ingarden später in Der Streit um die Existenz der Welt (1947 und 1948) entwickelt hat.

Die Bemühung um die Überwindung von Dichotomien wie der von realem und idealem Sein ist für Ingarden der Ausgangspunkt für die Bestimmung des Seinsmodus des Kunstwerks. Mittels dieser Bestimmung lässt sich nämlich feststellen, dass keine der etablierten ontologischen Kategorien das Werk zu erfassen vermag: Bei einem literarischen Werk handelt es sich weder um ein reales physikalisches Sein (z. B. Bäume oder Bücher) oder um den realen psychischen Inhalt eines Bewusstseins (z. B. konkrete Erlebnisse des Autors bei der Niederschrift oder des Lesers bei der Lektüre des Werkes), noch um ein autonomes ideales Objekt, das weder geschaffen noch verändert werden könne (z. B. geometrische Figuren).

Für Ingarden ist das literarische Werk ein „seinsheteronomer“ Gegenstand, der sein „Seinsfundament“ außerhalb seiner selbst hat. Aufgrund dieses Charakters wird das literarische Werk erst durch seine „Konkretisationen“ als Gegenstand konstituiert. Das heißt für Ingarden, der sich vehement gegen alle psychologistischen Tendenzen auch in der Ästhetik wendet, aber nicht, dass sich das literarische Werk auf Bewusstseinsinhalte oder -vorgänge reduzieren ließe. Das Kunstwerk, das weder mit seinem physikalischen Substrat noch seinen psychischen Korrelaten verwechselt werden darf, ist eine in Schichten angelegte schematische Struktur. Ingarden entwirft eine Schichtenontologie des literarischen Kunstwerks, die vier konstitutive Ebenen enthält: die Ebenen des Wortlauts, der Bedeutung, der „dargestellten Gegenstände“ und der „schematisierten Ansichten“. Darüber hinaus kann das Werk eine fünfte (nicht-konstitutive) Ebene der „metaphysischen Qualitäten“ aufweisen.

Die Struktur des Kunstwerks, dessen Identität durch die materiale Invarianz der sprachlichen Zeichen gewährleistet wird, ist deshalb schematisch, weil sich im Kunstwerk alle genannten ‚Ebenen‘ nur als Potenzialitäten auffinden lassen, die erst einer Konkretisation bedürfen. Das Kunstwerk wird erst im Vorgang der Konkretisation als ästhetisches Objekt konstituiert. Das literarische Werk erscheint uns also immer nur im konkretisierten Modus des ästhetischen Objekts. Zwischen schematischem Werk und konkretisiertem ästhetischem Objekt besteht eine Differenz, gleichwohl können beide nicht unabhängig voneinander ‚existieren‘.

Auch die in literarischen Werken entworfenen fiktionalen Welten weisen einen schematischen Charakter auf. Die im literarischen Werk dargestellten Gegenstände sind weder reale noch ideale, sondern „rein intentionale Gegenstände“. Während reale Gegenstände „allseitig [...] eindeutig bestimmt“, „individuell“ und „konkret“ sind, sind die in literarischen Werken dargestellten Gegenstände „generell“ und „allgemein“ und weisen zudem „Unbestimmtheitsstellen“ auf. Mit „Unbestimmtheit“ meint Ingarden, dass viele Eigenschaften von fiktional dargestellten Gegenständen unspezifiziert sind. So bleibt z. B. in Shakespeares Macbeth unbestimmt, wie viele Kinder Lady Macbeth hat. Nach Ingarden besteht das Problem nun nicht darin, dass Lady Macbeth tatsächlich eine spezifizierbare Anzahl von Kindern hätte und der Leser nur aufgrund von Informationslücken in Macbeth nicht wissen könne, wie viele Kinder Lady Macbeth zuzuschreiben seien. Das Problem besteht laut Ingarden vielmehr darin, dass Lady Macbeth als Gegenstand (im Gegensatz zu einem realen Gegenstand, dessen Eigenschaften alle spezifiziert sind) selbst Unbestimmtheitsstellen aufweist und deshalb keine spezifizierte Anzahl von Kindern hat.

Dass literarische Werke Unbestimmtheitsstellen aufweisen, bedeutet aber nicht, dass auch die Konkretisationen des Werks (im jeweiligen ästhetischen Objekt) diese Unbestimmtheitsstellen aufweisen würden. In der Konkretisation des Werks werden die Unbestimmtheitsstellen (teilweise) spezifiziert. Derart gewinnen die dargestellten Gegenstände im ästhetischen Objekt auch eine höhere „Anschaulichkeit“ als im schematischen Werk. Da diese Spezifikationen auf unterschiedliche Weisen erfolgen können, kann die Konkretisation des Werks unterschiedliche ästhetische Objekte hervorbringen. Die unterschiedlichen ästhetischen Objekte, die alle auf dem gleichen Werk basieren, können dann auch in ihren wertrelevanten ästhetischen Eigenschaften voneinander abweichen. Laut Ingarden ergibt sich die Abweichung ästhetischer Urteile bei ein und demselben Werk meist daraus, dass die Urteile sich auf unterschiedliche ästhetische Objekte (mit abweichenden wertrelevanten ästhetischen Eigenschaften) beziehen, die aber alle legitime Konkretisierungen des gleichen literarischen Werks sein können. Ingarden ist jedoch nicht der Auffassung, dass sich ein Werk auf beliebig viele Weisen konkretisieren lässt. Das Werk hat ein latentes ‚Potenzial‘, und die Konkretisierung bringt dieses Potenzial idealerweise umfassend im Sinne einer „polyphonen Harmonie“ der unterschiedlichen Schichten des Kunstwerks zur Geltung.

Ingarden wurde häufig vorgeworfen, dass er mit dem für ihn anleitenden ästhetischen Ideal („polyphone Harmonie“) einer klassizistischen Ästhetik anhänge. Seine Konzeption, dass das Werk einer Konkretisation bedarf, um sich überhaupt erst als ästhetisches Artefakt zu konstituieren, hat sich dennoch für die Entwicklung der Rezeptionsästhetik (H.-R. Jauß, W. Iser) und empirischen Rezeptionsforschung (S. J. Schmidt, N. Groeben) als zentral erwiesen. In der literaturwissenschaftlichen Rezeption wurde die Position Ingardens allerdings häufig missverstanden und die Werkstruktur auf ihre jeweiligen Gegebenheitsweisen in konkretisierten ästhetischen Objekten reduziert. Gegenwärtig erscheinen mehrere Fragen, die in Das literarische Kunstwerk aufgeworfen werden, von anhaltendem Interesse: Darunter die medientheoretische Frage, inwiefern mit der Konkretisation von Kunstwerken immer ein Medienwechsel verbunden ist, d. h. inwiefern auch das Lesen eines Textes analog zur Realisation von dramatischen oder musikalischen Werken als Medienwechsel zu konzeptualisieren ist; und die literaturtheoretische Frage, wie innerhalb einer Ontologie des Kunstwerks das Verhältnis von potenzieller schematischer Werkstruktur und realisiertem ästhetischem Objekt präzisiert werden soll.