Erinnerung an Hans-Jürgen Wischnewski: Der Retter von Willy Brandt | Vorwärts
Geschichte

Erinnerung an Hans-Jürgen Wischnewski: Der Retter von Willy Brandt

Heute, am 24. Juli 1922, wurde Hans-Jürgen Wischnewski geboren. Falken, Jusos, SPD – Wischnewski galt manchen als unbequem. Doch ohne seinen neuen Wahlkampfstil wäre ein Wahlsieg von Willy Brandt 1969 wohl undenkbar gewesen. Ein Porträt.
von Klaus Wettig · 22. Juli 2022
Prägten lange gemeinsam die SPD: Willy Brandt (links) mit Hans-Jürgen Wischnewski auf dem Parteitag 1971 in Godesberg.
Prägten lange gemeinsam die SPD: Willy Brandt (links) mit Hans-Jürgen Wischnewski auf dem Parteitag 1971 in Godesberg.

Wer den Lebenslauf von Hans-Jürgen Wischnewski liest, dem drängt sich das Urteil auf: Wischnewski hätte einen völlig anderen Weg einschlagen können. Der Zweite Weltkrieg mit seinen katastrophalen Folgen für Millionen von Menschen warf auch ihn aus dem angedachten Berufs- und Lebensweg. Er erlitt das Schicksal der Kriegsteilnehmergeneration, die die Last von sechs Jahren Krieg und nachfolgender Gefangenschaft zu tragen hatte und danach ohne Ausbildung vor einem schwierigen Neustart stand.

Der in Allenstein/Ostpreußen am 24. Juli 1922 geborene Hans-Jürgen Wischnewski machte in Berlin Abitur und wurde danach zur Wehrmacht eingezogen. Den Krieg überlebte er als Oberleutnant. Nach kurzer Gefangenschaft verschlug es ihn nach Niederbayern. Die ostpreußische Heimat war verloren, die Rückkehr nach Berlin nicht naheliegend. Er startete ein Studium der Literaturgeschichte in München, das er finanziell nicht organisieren konnte. Sehr bald musste er diese Pläne aufgeben. Sein Versuch scheiterte, Arbeit in einem Metallwerk mit dem Studium zu vereinbaren.

Metallarbeiter – und natürlich in der IG Metall

Die Arbeit in der Metallindustrie eröffnete ihm eine neue Perspektive. Er wurde Mitglied der IG Metall, er fällt auf als Vertreter der Interessen seiner Kollegen und die IG Metall entdeckte ihn für weitere Förderungen, für hauptamtliche Aufgaben wollte sie ihn aufbauen. In die erste hauptamtliche Station schickte sie ihn nach Köln, wo er bis zu seiner Wahl in den Bundestag 1957 als Gewerkschaftssekretär arbeitete.

Mitglied der SPD war Hans-Jürgen Wischnewski schon 1946 geworden. Nach seinen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus wollte er seinen Beitrag zum Aufbau der neuen Demokratie leisten. „Einen bescheidenen Beitrag“, wie er später schrieb. Und ihn beeindruckte bei der SPD die Leistung vieler Frauen und Männer, die im Kampf gegen den Faschismus ihr Leben gelassen hatten. Dass dieser Eintritt die zentrale Weichenstellung für sein späteres Leben werden würde, ahnte er nicht, so sein Urteil in den Memoiren.

In Köln begann dann sein Weg in der SPD, der allgemein als „Ochsentour“ bezeichnet wird, was in Köln ohne die Beteiligung am „kölschen Klüngel“ nicht möglich ist. Als Zugereistem gelang ihm diese Integration, obwohl ihm vieles, wie der Karneval, zunächst fremd war.

Von den Falken zu den Jusos an die Spitze

Er fand bald eine politische Heimat bei der Sozialistischen Jugend, den Falken, und später bei den Jungsozialisten, die als eine von der Parteiführung vernachlässigte Organisation für die jungen SPD-Mitglieder bis zum 35. Lebensjahr überall ein Schattendasein fristete. Als in den 1950er Jahren der demokratische Aufbau der JUSOS begann, stieg Wischnewski in Führungsämter auf. Er wurde Vorsitzender der JUSOS im Bezirk-Mittelrhein und schließlich 1957 der erste Bundesvorsitzende der JUSOS. Der Parteivorsitzende Erich Ollenhauer nannte ihn unbequem.

Schon als Gewerkschaftssekretär arbeitete Hans-Jürgen Wischnewski mit den in Köln tätigen Vertretern von Befreiungsorganisationen, was er 1957 nach seiner Wahl in den Bundestag intensivierte. Das Mandat schützte, half ihm bei dem Öffnen von Türen. Intensiv entwickelte sich seine Zusammenarbeit mit der algerischen Befreiungsfront (FLN), die gegen die französische Kolonialmacht kämpfte, dabei aber wenig Unterstützung erfuhr. In der Bundesrepublik wurde sie als terroristische Organisation betrachtet und vom Verfassungsschutz beobachtet. Nur Bundestagsabgeordnete besaßen bei der Unterstützung der FLN Freiräume. Unter den zahlreichen Hilfen für die FLN ragt die Rettung der Kriegskasse durch Wischnewski heraus. Gut 1,8 Millionen Deutsche Mark konnten sie auf seinem Bankkonto vor dem Zugriff der französischen Verfolger retten.

Zauberwort und Spitzname: „Ben Wisch“

Als 1962 der Algerienkrieg endete, besaß Hans-Jürgen Wischnewski zahlreiche Freunde in der algerischen Regierung. In der gesamten arabischen Welt wurde sein mutiges Engagement gewürdigt. Dort standen ihm über Jahrzehnte bei Aktionen und Sondermissionen die Türen offen. Ohne seine Kontakte wäre manche Geisel nicht befreit worden, ohne ihn wäre die Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine in Mogadischu nicht gelungen. Sein bei diesen Aktionen erworbener Name Ben Wisch“ wurde zu einem Zauberwort.

Bemerkenswert an dieser frühen politischen Orientierung Wischnewskis ist sein Verständnis für die Befreiungsbewegungen, die den Kolonialismus, die Ausbeutung und die Bevormundung durch die weiße Kolonialmacht abschütteln wollten. Blauäugig blieb er dabei nicht, denn er sah sehr wohl das Abgleiten in autoritäre Systeme, mit Kritik an dieser Entwicklung sparte er nicht.

Neue Akzente als Entwicklungsminister 1966

1966 war Wischnewski die Überraschung auf der Minister*innenliste der SPD, die sie beim Eintritt in die Große Koalition präsentierte. Neben den Altvorderen Brandt, Wehner, Schiller, Heinemann sah man ihn in der Rolle der Nachwuchshoffnung. Das von ihm übernommene Entwicklungsministerium existierte erst seit 1961, seine Aufgaben und sein politischer Einfluss waren noch offen. Wischnewski nutzte seine Chance mit neuen Akzenten, die von der bisherigen Linie der Exportförderung abwichen und stärker auf die Interessen der Entwicklungsländer eingingen. Als er nach zwei Jahren das Ministerium für eine neue Aufgabe verließ, konnte sein Nachfolger Erhard Eppler diese Vorarbeit fortsetzen.

Auch die nächste Karrierestation Wischnewskis war überraschend, als er aus dem Ministeramt in die für die SPD neue Funktion des „Bundesgeschäftsführers“ wechselte. Den Eintritt in die Große Koalition bezahlte die SPD zunächst mit Wahlniederlagen und hoher Unzufriedenheit in der Mitgliedschaft. Zwar konnte 1967 in Niedersachsen die SPD ihre Mehrheit behaupten, doch 1968 erlebte sie katastrophale Niederlagen in Baden-Württemberg und Bremen; auch Kommunalwahlen endeten mit Verlusten. Auf dem Parteitag 1968 stützte die Mehrheit den Kurs der Führung, die Parteitagsdebatte und das Stimmergebnis spiegelten jedoch die Skepsis der Parteibasis wider. Im Herbst 1968 war klar, wenn der Führung in den nächsten Monaten keine Stimmungskorrektur gelänge, dann würde die Beteiligung an der Großen Koalition bei der Bundestagswahl in einer Niederlage enden.

Retter von Willy Brandts Wahlkampf

In dieser Situation bot sich Hans-Jürgen Wischnewski Willy Brandt als Retter an. Er skizzierte in einem Brief die bis zur Wahl zu lösenden Aufgaben und erklärte sich zur Aufgabe des Ministeramtes bereit. Als Organisationssekretär der SPD mit dem Titel „Bundesgeschäftsführer“ versehen, wollte er sich der SPD für die Bundestagswahl 1969 widmen. Willy Brandt nahm dieses Angebot an und setzte das neue Amt durch.

Nach den verfehlten Wahlkämpfen in den 1950er Jahren modernisierte die SPD ihren Wahlkampfstil schon für die Brandt-Wahlkämpfe 1961 und 1965, doch ein altbackener Zug blieb weiterhin erhalten. Hier setzte Wischnewski 1969 an. Mit einem jungen Team in der Baracke, einer kreativen Werbeagentur und mit Offenheit gegenüber zahlreichen Unterstützer*innen, die ein Ende der CDU/CSU-Dauerregierung wollten. In wenigen Monaten gewann die SPD an Selbstbewusstsein und im Wahlkampf repräsentierte sich die SPD als attraktive Reformkraft. Das Resultat von 42,7 Prozent legte die Grundlage für die Ablösung der CDU/CSU-Regierungsführung durch eine Sozialliberale Koalition aus SPD und FDP. Erstmals wurde mit Willy Brandt ein Sozialdemokrat Bundeskanzler.

Auf den Wahlsieg folgt der Rücktritt

Wer gedacht hatte, die Delegierten eines SPD-Parteitages würden diese Leistung besonders würdigen, sah sich auf dem außerordentlichen Parteitag 1971 getäuscht. Die SPD versuchte wieder einmal eine Parteireform, bei der die Reform ihrer Satzung im Mittelpunkt stand. Als Wischnewski mit seiner Forderung scheiterte, dass der Bundesgeschäftsführer vom Parteitag und nicht vom Parteivorstand gewählt werden solle, trat er zurück. Dem Parteitag widerstrebte die Stärkung dieses Amtes. Erst Jahrzehnte später kam es zur Direktwahl, die 1999 zum Amt des Generalsekretärs führte.

Wischnewski hätte in die Wirtschaft wechseln können, wo seine Fähigkeiten und seine internationalen Kontakte gesucht waren, doch entschied er sich für die Politik und das Bundestagsmandat. In Helmut Schmidts Kabinetten wurde er wieder Bundesminister, beauftragt mit Sonderaufgaben und Sondermissionen. Willy Brandt half er in der Sozialistischen Internationale an vielen Orten der Welt. Auch stellvertretender SPD-Vorsitzender war er einige Jahre. Nur als Schatzmeister der SPD erkannte er schnell, dass er sich falsch entschieden hatte. Sein politischer Instinkt bewahrte ihn auch hier vor Fehlentscheidungen.

Als Hans-Jürgen Wischnewski 1990 nach 33 Jahren den Bundestag verließ, würdigten ihn alle Fraktionen mit Respekt. Er hatte mehr als einen „bescheidenen Beitrag“ zum Aufbau der zweiten deutschen Demokratie geleistet, und er hatte für die Bundesrepublik internationales Ansehen erworben.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

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