Springer-Chef Döpfner hat mit seiner Geringschätzung, ja Verachtung gegenüber den Ostdeutschen, wenn die von der Zeit zitierten Äußerungen stimmen, klar gemacht, was er von Demokratie, Meinungsfreiheit und gesellschaftlichem Dialog hält – null Komma nichts, es sei denn, man stimmt völlig mit ihm überein. So soll er u.a. in Mails und SMS kundgetan haben: „Die ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“
Zugleich hielt er als Verlagschef die Bild-Redaktion an, im letzten Bundestagswahlkampf eine Partei, die FDP, nach oben zu schreiben. Da er Frau Merkel ablehnte, war auch die Union bei ihm vorübergehend abgeschrieben. Frau Merkel stammt bekanntlich aus dem Osten. Eigentlich sollte es eine redaktionelle Unabhängigkeit geben, die Medien gelten als vierte Gewalt im Staat, mit der Aufgabe betraut, die anderen Gewalten objektiv und kritisch zu begleiten – bei Springer und Döpfner geschenkt.
Bildstrecke
Die Wochenzeitung Die Zeit hat am 13. April 2023 über den Springer-Chef Mathias Döpfner berichtet. In einer investigativen Geschichte wird dargelegt, wie der Springer-Chef angeblich Einfluss auf die Bild-Zeitung genommen hat und wie er angeblich despektierlich über bundesrepublikanische Eliten und vor allem die Ostdeutschen sich äußerte. Der Text wurde von den Journalisten Cathrin Gilbert und Holger Stark verfasst. Es folgen die krassesten Zitate, die Döpfner geschrieben oder gesagt haben soll.dpa
Die Zeit schreibt auch darüber, woher die Zitate stammen. In dem Text heißt es: „Die Dokumente stammen aus den vergangenen Jahren, es sind Mails und Chatnachrichten aus dem engsten Führungskreis von Springer, viele davon von Döpfner selbst. Manche wurden frühmorgens oder zu nachtschlafener Zeit verfasst und enthalten Tippfehler, manchmal sind sie halb in Deutsch und halb in Englisch (...).“ Hier sind einige der wichtigsten Döpfner-Zitate, die in dem Zeit-Text vorkommen. Die Schreibweise wurde aus dem Original übernommen.imago
Mathias Döpfner laut Zeit-Bericht über Ostdeutsche: „Die ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“dpa
Mathias Döpfner laut Zeit-Bericht über den ehemaligen Bild-Chefredakteur Kai Diekmann: „Kai hat BILD aus Sehnsucht nach bürgerlicher Anerkennung zu politisch korrekt gemacht (...). Das kann auf Dauer nicht gut gehen.“imago
Der neuen Bild-Führungsspitze gab Döpfner laut Zeit-Bericht eine Art politisches Manifest im Juli 2017 an die Hand: „Mein Kompass geht so: Menschenrechte – keine Kompromisse. Rechtsstaat – zero tolerance und alles für die reine Lehre. Lebensstil (( was Ficken und solche Sachen betrifft – Fritz zwo: jeder soll nach seiner Fasson (oder facon)...))“ (Hier ein Bild von Friedrich II., auf den Döpfner laut Zeit angespielt haben soll.)CC BY_SA 4.0
Über Muslime äußerte er sich laut Zeit-Bericht so: „free west, fuck the intolerant muslims und all das andere Gesochs“. Dann: Wer „die Türen öffnet wird Rassismus ernten“. Außerdem: „Und natürlich: Zionismus über alles. Israel my country.“dpa
Über den Klimawandel sprach er laut Zeit so: „Umweltpolitik – ich bin sehr für den Klimawandel. Zivilisationsphasen der Wärme waren immer erfolgreicher als solche der Kälte. Wir sollten den Klimawandel nicht bekämpfen, sondern uns darauf einstellen.“dpa
Döpfner schrieb nach der Reichelt-Affäre laut Zeit-Bericht an Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt folgende Nachricht: „Beruflich hast du mich getäuscht und mir Schaden zugefügt wie niemand sonst. Persönlich und was unsere gemeinsame Weltsicht betrifft fühle ich mich Dir nach wie vor sehr verbunden. Ich glaube, Du weißt das, aber ich wollte es Dir noch einmal sagen.“Screenshot YouTube Achtung Reichelt
Döpfner beschrieb sich laut Zeit-Bericht als „eine Mischung aus Musikkritiker und Teppichhändler“.dpa
Döpfner äußerte sich auch zum Politiker Thomas Kemmerich (FDP), der sich mithilfe der AfD zum Ministerpräsidenten Thüringens wählen ließ. Die Bild kritisierte den Vorgang. Döpfner dazu laut Zeit-Bericht: „Ich verstehe BILD taktisch. Und es War wohl richtig. Aber inhaltlich ist es komplett falsch.“dpa
Dann schrieb er noch laut Zeit-Bericht über den Wahl-Vorgang und die Möglichkeit eines linken Ministerpräsidenten Folgendes: „Lieber PDS-Nachfolgeorganisation als Minister Präsident als die Liberalen nur weil ein paar demokratisch gewählte afd wichser ihn gewählt haben? Das Land hat jeden Kompass verloren. Und M den Verstand. Sie ist ein sargnagel der Demokratie. Bald hat die afd die absolute Mehrheit.“ Laut Zeit-Bericht soll er mit „M“ Angela Merkel gemeint haben.dpa
Weiter soll sich Döpfner zu Merkels Corona-Politik kritisch geäußert haben. Döpfner kommentierte angeblich Julian Reichelts Kritik zur „Rede an die Nation“ von Angela Merkel in der Bild-Zeitung zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 so: „Deinenen Kommentar unterschriebe ich in jeden Satz mit Blut. Ich fürchte den Mainstream trefft ihr nicht. Zu viele sind begeistert. So emotional. So bodenständig. So ehrlich. So toll. Sie wird dafür gefeiert. Gerade weil sie wie immer nichts gesagt hat. Es ist zum heulen.“imago
Laut Zeit-Bericht soll Mathias Döpfner an Julian Reichelt eine Nachricht geschickt haben, mit der Aussage, dass Friede Springer über Reichelts kritischen Merkel- und Corona-Kommentar nicht erfreut gewesen war: „Friede wird dich anrufen. Sie ist – wie zu erwarten war – empört über Kommentar. (...) Bleib ruhig.“imago
Dann soll er laut Zeit-Bericht über das Corona-Virus geschrieben haben: „Corona ist eine Grippe gefährlich für alte und kranke.“ Und: Die Politik würde „unsere offene Gesellschaft für immer zerstören“.dpa
Dann schrieb er laut Zeit: „Das ganze ist so surreal. Kollektiver Verstandes Verlust. Der Coup der Gefühligkeit. Das absolute scheitern der Eliten. Es ist ein Endpunkt.“Markus Wächter/Berliner Zeitung
Eine Nachricht zum Lockdown von März 2020 soll laut Zeit so ausgesehen haben: „Das ist das Ende der Marktwirtschaft. Und der Anfang von 33.“AFP
Döpfner äußerte sich laut Zeit auch über Ostdeutsche, und das besonders negativ: „Meine Mutter hat mich immer vor den Ossis gewarnt. Von Kaiser Wilhelm zu hitler zu honnecker ohne zwischendurch us reeduction genossen zu haben. Das führt in direkter Linie zu AFD.“imago
Im Oktober 2019 wollte Döpfner angeblich laut Zeit-Bericht einen Text zum Thema „30 Jahre Wiedervereinigung“ schreiben. Er äußerte sich laut Zeit-Bericht dazu so: „zu 39 Jahren Mauer einen text zu schreiben in dem ich die wiederaufung der Wiedervereinigung fordere. Meine Mutter hat es schon immer gesagt. Die ossis werden nie Demokraten. Vielleicht sollte man aus der ehemaligen ddr eine Agrar und Produktions Zone mit Einheitslohn machen.“dpa
Mathias Döpfner äußerte sich über Julian Reichelt vor der Reichelt-Affäre bei Bild laut Zeit-Bericht so: „der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR Obrigkeits-Staat aufbegehrt“.rbb
Mathias Döpfner soll bei der US-Wahl laut Zeit-Bericht den Kandidaten Donald Trump favorisiert haben. Man solle „beten dass Donald Trump wieder Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird“.AFP
Döpfner verteidigte später angeblich laut Zeit die Nachrichten als „ironische, provokative Äußerungen“.dpa
Döpfner soll sich laut Zeit-Bericht auch über die vergangene Bundestageswahl und die möglichen CDU-Bundeskanzlerkandidaten Armin Laschet und Markus Söder geäußert haben. Am 10. April 2021 soll er geschrieben haben: „Keiner hat das Zeug dazu Deutschland geistig und manageriell überzeugend zu führen. Der eine ist langweilig aber gründlich und einigermaßen berechenbar. Der andere ist oberflächlich opportunistisch und hat einen schlechten Charakter. Deshalb ist der erst das kleinere übel.“dpa
Döpfner schriebt laut Zeit-Bericht später über Söder: „Er wird es. Aber es wird noch viel schlimmer für Deutschland. Es ist ein ständiges downgrading. Schröder. Merkel. Söder. Das sind Leute die hätten früher nicht mal ne Sparkasse führen dürfen. Ich Wander aus.“dpa
Döpfner schrieb laut Zeit-Bericht Folgendes über die FDP (am 7. August 2021): „Unsere letzte Hoffnung ist die FDP. Nur wenn die sehr stark wird – und das kann sein – wird das grün rote Desaster vermieden. Können wir für die nicht mehr tun. Die einzigen die Konsequenz gegen den Corona Massnahmen Wahnsinn positioniert sind. It’s a patriotic duty.“imago
Döpfner schrieb laut Zeit-Bericht Folgendes über Christian Lindner: „Er muss öffentlich erklären dass er Koalition unter grüner Führung ausschließt. Dass er nur mit CDU koaliert. Da s ist so wichtig. Und er muss Wähler von der afd holen. Habe gestern mit ihm Abend gegessen. Er hat Zuviel Angst. Aber das ist dennoch die einzige Chanceum den endgültigen Niedergang des Landes zu vermeiden.“dpa
Im August 2021 schrieb Mathias Döpfner laut Zeit-Bericht noch Folgendes über die FDP und Lindner an die Bild-Führungsebene: „Kann man noch mehr für die FDP machen? Die sollten 16 Prozent mindestens kriegen. Lindner muss mutiger werden. Und Koalition nur SPD wäre deutlich besser als mit Grünen.“imago
Kurz vor der Bundestagswahl schrieb Döpfner laut Zeit-Bericht folgende Nachricht angeblich an Julian Reichelt: „Please Stärke die FDP. Wenn die sehr stark sind können sie in Ampel so autoritär auftreten dass die platzt. Und dann Jamaika funktioniert“.dpa
Döpfner schrieb laut Zeit-Bericht am 27. April 2021 über den Palantir-CEO Alexander Karp, der Donald Trump nahestehen soll, angeblich Folgendes: „Alex Karp bietet an TV Story Mit BILD zu machen. Ihr begleitet ihn irgendwohin. Und macht Porträt oder Gespräch über Palantir. Er ist sauer dass Spiegel ihn so angegriffen hat. Und will sich erklären. Glaube mega Chance weil Palantir immer so secretive. Ich connected“.imago
Im Januar 2020 schrieb Döpfner laut Zeit-Bericht über Trump nach der Tötung des iranischen Generals Süleymania angeblich Folgendes: „Ich bin so aufgekratzt, was diese Themen betrifft. Muss aufpassen. Mein Vorschlag. Friedensnobelpreis für Trump. Und ibama wieder wegnehmen.“ (Er soll mit ibama laut Zeit-Bericht Obama gemeint haben.)AP
Beispiellose Infamie
Seine Äußerungen widersprechen so sehr dem, was demokratischer Standard in unserem Land sein sollte, dass Döpfner als Verlagschef nicht mehr haltbar ist, wenn Springer als Medienunternehmen ernst genommen werden will.
Am schlimmsten empfinde ich, dass Mathias Döpfner den Ostdeutschen de facto die Daseinsberechtigung in unserem demokratischen Gemeinwesen abspricht. Er wünscht sich „aus der ehemaligen ddr eine Agrar und Produktions Zone mit Einheitslohn (zu) machen“. Man stelle sich mal vor, jemand hätte Ähnliches für den Westen vorgeschlagen?!
Selbstverständlich macht das keiner. Bemerkenswert ist auch das Datum, dass Döpfner für seine Äußerungen wählte – den Oktober 2019, als sich zum 30. Mal der Aufbruch der DDR-Bevölkerung jährte. Das ist eine beispiellose Infamie. Die Döpfners tragen für die heutige Haltung der Ostdeutschen zum Gesamtstaat, die verbreitete Ablehnung der bundesdeutschen Strukturen eine große Verantwortung.
Gregor Gysi bei einer Wahlveranstaltung im März 1990Detlev Konnerth/imago
Viele Menschen im Osten fühlen sich nicht befreit
Die Demonstrierenden in Plauen, Leipzig, Berlin und vielen anderen Städten haben erfolgreich für Freiheit und Demokratie in der DDR gekämpft. Nicht Helmut Kohl und seine Bundesregierung und schon gar nicht der Springer-Konzern brachten die Freiheit in den Osten, sondern diese Demonstrantinnen und Demonstranten im Osten selbst.
Der 9. Oktober 1989 mit der großen Demonstration in Leipzig gilt heute als entscheidendes Symbol des Aufbegehrens. Friedrich Schorlemmer sagte, dass sich in seinen Augen an diesem 9. Oktober auch Weltgeschichte entschied. Ich denke, er hat recht. Die Menschen, die 1989 den Mut besaßen und auf dem Leipziger Ring zur größten unangemeldeten Demonstration in der DDR zusammenkamen, haben Geschichte geschrieben. Und sie haben mehr für die Demokratie und die Freiheit getan, als es Mathias Döpfner je tat. Freiheit ist übrigens erst dann vollendet, wenn sie zur Befreiung führt. Viele Menschen im Osten fühlen sich aber nicht befreit. Und Döpfner will für sie auch das Gegenteil.
Montagsdemonstration für politische Reformen in Leipzig am 9. Oktober 1989. Hier versammelten sich 70.000 Menschen in der Innenstadt.Aram Radomski/dpa
Runde Tische könnten heute wieder aktuell werden
Die Bereitschaft der Menschen in der DDR vor 30 Jahren, bis dahin Unerhörtes einfach zu tun, mit Massendemonstrationen, neuen Parteien und Organisationen das Machtsystem der SED infrage zu stellen, ohne es gewaltsam beseitigen zu wollen, folgte einem urdemokratischen Impuls, der auch den heutigen Verhältnissen durchaus guttäte.
Die runden Tische zum Beispiel waren ein demokratisches Instrument, dessen wir uns wieder aktiv erinnern sollten bei der Lösung aktueller Probleme. Die Friedlichkeit hatte zwei Seiten: „Keine Gewalt“ durch Demonstrierende und der Verzicht darauf bei den Soldaten, bei der Polizei nicht gleich, aber ab dem 9. Oktober 1989. Es ist eine beachtliche Leistung, dass während des Umbruchs kein einziger Schuss fiel von keinem aus den sogenannten bewaffneten Organen der DDR (Polizei, Armee, Zoll, Staatssicherheit, Kampfgruppen). Beides ist zu würdigen, nicht Schwarz-Weiß, sondern das große Dazwischen bestimmt den Lauf der Geschichte.
Demonstration für die deutsch-deutsche Wiedervereinigung im sächsischen Plauen am 27.1.1990dpa
Konsequenzen für das Denken und Fühlen in West und Ost
Der Prozess des Machtwechsels geschah einzigartig, in äußerst strittigem Dialog und nicht mit rigorosen Konsequenzen für die alten Machthaber. Manchen erscheint das inkonsequent, aber aus meiner Sicht zeigt sich gerade darin eine demokratische Kraft und Reife, die zugleich dafür sorgte, dass der Alltag für die Menschen weiterlief. Diese Größe hatte die Bundesrepublik im Umgang mit den alten Machthabern der DDR nicht.
Springer-Chef Döpfner hat für die Ostdeutschen und all diese Vorgänge nur Verachtung übrig und steckt damit den ostdeutschen Teil der Bevölkerung unseres Landes in die Schubladen seines Kleingeistes. Letztlich drückt er allerdings dadurch zugespitzt das aus, was an Fehlern im Einheitsprozess gemacht wurde.
Die Deutschen aus der DDR hatten nach dem 3. Oktober 1990 das Gefühl, zu Deutschen zweiter Klasse zu werden. Die Bundesregierung konnte damals nicht aufhören zu siegen. Die Regierenden strahlten nicht nur eine gewisse Arroganz aus, sondern waren vor allem nicht bereit, sich die DDR genau anzuschauen und sinnvoll positive Seiten aus ihr im vereinten Deutschland zu bewahren.
Das Amateurfoto zeigt DDR-Polizisten mit Schlagstöcken und Schutzschilden, die am 7.10.1989 an der Nikolaikirche in Leipzig Demonstranten der DDR-Bürgerbewegung abdrängten und einzelne Personen aus der Gruppe heraus festnahmen. Auch ein Mann mit einer Videokamera begleitete die Uniformierten. Insgesamt blieb es aber friedlich.ullstein bild/dpa
Ich erinnere an den deutlich höheren Grad der Gleichstellung der Geschlechter im Vergleich zur alten Bundesrepublik. Man darf auch an die Berufsausbildung mit Abitur, die Polikliniken und die Art und Weise der Sekundärrohstofferfassung erinnern. Hätte die Bundesregierung solche Seiten übernommen, wäre das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt und nicht nach unten gedrückt worden.
Wir hätten uns gesagt: Wir hatten zwar eine Diktatur, aber sechs Gegebenheiten waren so gut, dass sie jetzt in ganz Deutschland gelten. Die Westdeutschen hätten erlebt, dass sich ihre Lebensqualität in diesen sechs Gebieten durch den Osten erhöht hätte. Das ist ihnen nicht gegönnt worden. All das hat Konsequenzen für das Denken und Fühlen in West und Ost bis heute.
Das Herabwürdigen muss aufhören
Die Lohnlücke zwischen Ost und West besteht nach wie vor. Das gilt auch für ungleiche Arbeitszeit, natürlich im Osten länger als im Westen. Für die gleiche Lebensleistung gibt es nach wie vor keine gleiche Rente. Erst ab Ende Juli dieses Jahres, 33 Jahre nach Herstellung der Einheit, sind die Rentenwerte nominell angeglichen, aber die Ungleichbehandlung in vielen Berufsgruppen, zum Beispiel bei Polizistinnen und Polizisten, Ingenieurinnen und Ingenieuren, mithelfenden Angehörigen privater Handwerkerinnen und Handwerker bleibt.
Bemerkenswert ist, dass es praktisch keine Änderung gibt seit über 30 Jahren. Der Lohnabstand zwischen West und Ost wird nicht wirklich kleiner. Das ist schlicht und einfach skandalös. Seit 1995, als in den westdeutschen Unternehmen die 35-Stunden-Woche erkämpft wurde, musste ein Metaller im Osten 4000 Stunden länger arbeiten – das sind zwei Arbeitsjahre. Die Gewerkschaften taten zu wenig. Dass es so ist, liegt aber auch daran, dass sich die Bundesregierung nie für eine wirkliche Einheit energisch einsetzte. Jeder kleine Schritt musste ihr abgerungen werden. Angela Merkel, der Kanzlerin aus dem Osten, war der Osten leider auch nicht wichtig.
Der Osten hat bis heute nicht die gleichen Chancen wie der Westen.Dirk Sattler/imago
Es zeigt sich auch daran, dass nur eine von 33 Staatssekretärinnen und Staatssekretären in den Bundesministerien der Ampel-Koalition und nur vier von 111 Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern aus dem Osten kommen – dreieinhalb Prozent bei einem Bevölkerungsanteil von 15 Prozent. Von 73 Bundesbehörden, die es in Deutschland gibt, werden nur drei von Ostdeutschen geleitet. Das ist schon deshalb grundgesetzwidrig, weil dort nicht nur gleiche Lebensverhältnisse, sondern auch eine angemessene Beteiligung sämtlicher Bundesländer auf der Leitungsebene des Staates gefordert werden.
Dass bei Löhnen und Renten zwischen Ost und West endlich Augenhöhe hergestellt wird, ist auch eine Frage des Respekts und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Den Ostdeutschen und dem Osten wurde seit 1990 nie das Gefühl von Gleichwertigkeit vermittelt.
Die reale und gefühlte Benachteiligung wurde auch auf die Generationen übertragen, für die die Wende ebenso wie der Mauerfall Ereignisse aus Geschichtsbüchern sind, die sie sich kaum vorstellen können. Dennoch erleben sie selbst und in ihren Familien, worauf sich das Gefühl, benachteiligte Menschen zu sein, gründet. Dies verschwindet erst dann, wenn es keine konkreten Benachteiligungserfahrungen mehr gibt, deutlich mehr für Arbeitsplätze und Jugend im Osten getan wird und Menschen mit Haltungen wie Mathias Döpfner es strikt unterlassen, Menschen derart herabzuwürdigen, wie er es mit den Ostdeutschen tut.
Gregor Florian Gysi wurde am 16. Januar 1948 in Berlin geboren. Er ist ein deutscher Rechtsanwalt, Politiker der Partei Die Linke, Autor und Moderator. 2020 wurde er zum außenpolitischen Sprecher der Fraktion Die Linke als Abgeordneter im Bundestag ernannt.
Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de