Das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der Sozialen Marktwirtschaft, welches uns über viele Jahrzehnte gute Dienste geleistet hat, verbindet ‚irenisch‘Footnote 1 die Ökonomie mit dem Sozialen. Es geht – gemäß Alfred Müller-ArmackFootnote 2 – um die Sozialgestaltung der Marktwirtschaft.

2.1 Die Industrialisierung

Von den Jägern und Sammlern, zu Ackerbau und Viehzucht. Sesshaftigkeit und Handel setzten ein. Kleine Handwerksbetriebe und die eine oder andere größere Manufaktur kamen hinzu. Diese recht moderate Entwicklung – mit einigen Ups & Downs – dauerte mehrere tausend Jahre an. In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts begann die Industrialisierung und verstärkte sich in Folge der technischen Entwicklung (Dampfmaschine, Elektrifizierung, Telekommunikation und Logistik [Eisenbahn, Schifffahrt/Großsegler, Dampf- und Motorschiffe]) im 19. Jahrhundert. Die entstehenden Industriestandorte zogen viele arme und überwiegend schlecht ausgebildete Arbeitskräfte aus dem jeweiligen Umland an. Dies führte im Frühkapitalismus zu erheblichen sozialen Problemen, zu einer Verelendung des Proletariats. Die Zustände in den Arbeits- und Armenhäusern waren erbärmlich (Kuczynski 1982). Die Arbeitsbedingungen waren zum großen Teil miserabel und die Menschen, die Familien waren stets von der Geisel der Arbeitslosigkeit bedroht. Lohnarbeiter und Handwerker begannen, sich zur Stärkung ihrer Position in Arbeitervereinen, Gewerkschaften und Parteien zusammenzuschließen. Der Arbeiterbewegung ging es um eine allgemeine Verbesserung der sozialen Lage und die Erlangung politischer Rechte. 1873–1896 war die Zeit der Großen Depression im damaligen Deutschen Reich. Um den immer wieder drohenden sozialen Unruhen, Streiks und Protesten entgegenzuwirken, begann Reichskanzler Otto von BismarckFootnote 3 in den 1880er Jahren mit der Schaffung eines Sozialversicherungssystems (Krankenversicherung 1883, Unfallversicherung 1884, Invaliditäts- und Altersversicherung 1889; eine gesetzliche Arbeitslosenversicherung wurde erst 1927 eingeführt).

Nicht zuletzt unterstützt durch die fortschreitende Industrialisierung stieg die Weltbevölkerung rasant an (1800: 1 Mrd. Anstieg auf 8,02 Mrd. bis Februar 2023). Während meines Lebens (von 1949 bis dato) hat sich die Menschheit mehr als verdreifacht!

2.2 Die Wirtschaft und die Kriege des 20. Jahrhunderts

Die beiden Weltkriege, die viele Opfer (Tote, Verwundete/Invaliden) forderten und zerstörte Städte und eine stark zerstörte Infrastruktur hinterließen, zehrten die Bevölkerung, die Wirtschaft und die Staatskassen aus. Die materielle Not – nicht nur unter den Kriegswitwen und -waisen – war groß. Hinzu kamen Hunger, Krankheiten und Seuchen.

Ausgelöst durch die Finanzierung des 1. Weltkriegs und durch die anschließenden Reparationen (1914–1922) grassierte in Deutschland eine sich zunehmend verschärfende Entwertung der (Papier)Mark, die im Jahr 1923 nach Beginn der Ruhrbesetzung in eine Hyperinflation überging und erst mit der Einführung der Rentenmark im November 1923 (Währungsreform) und unter enormen materiellen Verlusten beendet werden konnte. Die Wirtschaft wurde zudem durch die Börsen-Crashs 1927 und 1929 und durch die dadurch ausgelöste Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre und während der 1930er Jahre weiter gebeutelt.

Die Opferzahlen des 2. Weltkriegs waren noch weitaus dramatischer als die des 1. Weltkriegs und lassen sich nur schätzen. Schätzungen von durch direkte Kriegseinwirkung Getöteten, von Opfern durch deutsche Massenverbrechen während des Krieges und von Opfern durch Folgen des Krieges reichen bis zu 80 Mio. Menschen. Vor allem deutsche Großstädte waren in ihrem Innenstadtbereich teilweise bis auf die Grundmauern niedergebombt. Die Infrastruktur (Versorgung [mit Strom/Gas/Wasser], Entsorgung, Verkehrswege [Straßen/Brücken/Tunnel, Wasserstraßen/Häfen und Flughäfen] und Telekommunikation) war nahezu völlig zerstört. Die Förderung von Kohle und Erzen sowie die Produktionsstätten waren außer Funktion, demontiert oder von Demontage bedroht. Nahrungsmittel, Kohle und Kleider waren wie schon im 1. Weltkrieg wegen der bestehenden Versorgungsengpässe rationiert (‚Bezugsscheinwirtschaft‘). Es blühten die Schwarzmärkte und der Tauschhandel. Außerdem strömten in den Nachkriegsjahren 14 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene und ca. 10 Mio. Kriegsgefangene nach Deutschland. Trotz des allenthalben großen Leids und der großen Not, waren die Menschen froh, dass sie das Grauen überlebt hatten. Erst durch den Stopp der Demontagen und durch die Unterstützung der US-Amerikaner (Marshallplan) und letztlich durch die Währungsreform im Juli 1948 in den westlichen Besatzungszonen, und später in Berlin, begann sich dort die Lage der Menschen allmählich zu bessern. Ludwig ErhardFootnote 4 propagierte die Soziale Marktwirtschaft, der Wiederaufbau begann, … und die Menschen schöpften wieder Hoffnung. Schließlich versprach Erhard den Menschen „Wohlstand für Alle“ (Erhard 1957).

2.3 Die Etablierung der Sozialen Marktwirtschaft

Ein Grundbaustein der Sozialen Marktwirtschaft ist die soziale Irenik, der auch bei der Formulierung einer Nachhaltigen Marktwirtschaft gefolgt wird. Müller-Armack bezeichnet die Soziale Marktwirtschaft als „irenische Formel“; auch die Nachhaltige Marktwirtschaft ist eine solche. Die Irenik versucht, friedvoll zunächst gegensätzliche Positionen zur Gemeinsamkeit eines Anliegens zusammenzuführen. Dabei geht es weniger um eine dialektische Synthese, die ggf. die Positionen unklar miteinander vermischt, als vielmehr um eine explizite (friedliche) Koexistenz dessen, was sich an und für sich trennt (Müller-Armack 1950, S. 421).

Müller-Armack intendiert mit seiner „irenischen Formel“ der Sozialen Marktwirtschaft, „die Ideale der Gerechtigkeit, der Freiheit und des wirtschaftlichen Wachstums in ein vernünftiges Gleichgewicht zu bringen“ (Müller-Armack 1969, S. 131). Zugleich erscheint sie als der Versuch, dem Gemeinwohl dienende Ziele des öffentlichen Lebens auf der Basis einer stabilen Ordnung zu erreichen und auftretende Zielkonflikte in der Wirtschaftspolitik auf friedlichem Wege zu lösen.

Schon während der Kriegsjahre haben sich deutsche Wirtschaftswissenschaftler intensiv darüber Gedanken gemacht, wie man nach Ende des Krieges von der herrschenden Zwangs- und Kommandowirtschaft zu einer zivilen Wirtschaft zurückkehren kann, die zum Wiederaufbau motiviert und die die entsprechenden Kräfte freisetzt. Dazu galt es natürlich die Rolle des Staates und die des Marktes neu zu definieren. Müller-Armack prägte den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft. Er verwendete ihn erstmals 1946 in seinem Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ (Müller-Armack 1990, S. 65 ff.). Die Wirtschaft, die Müller-Armack vorschwebte, „soll … keine sich selbst überlassene, liberale Marktwirtschaft, sondern eine bewusst gesteuerte, und zwar sozial gesteuerte Marktwirtschaft sein“ (Müller-Armack 1990, S. 96). Eine größere Verbreitung fand der Begriff erst durch Ludwig Erhard, der die Soziale Marktwirtschaft zur Grundlage seiner Wirtschaftspolitik machte und – ausführlich – in die „Düsseldorfer Leitsätze“ (CDU 15.07.1949), das Programm der CDU zur Wahl des ersten deutschen Bundestages im August 1949, einbrachte.

Die Zielsetzung des neu definierten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells bestand in

  • der ‚Vollendung‘ der Arbeiterbewegung,

    • einer Versöhnung der Kapitalisten mit den Proletariern

    • Fortsetzung der sozialen Gerechtigkeit und sozialen Absicherung

    • einer verbesserten Macht-Balance: Betriebsverfassung und Mitbestimmung

  • der Errichtung einer Freiheitlichen Grundordnung für Wirtschaft und Gesellschaft,

  • der Chance eines kraftvollen, weil freiheitlich motivierten Neustarts

    • durch eine wirtschaftsideologische Grundlage für den Wiederaufbau.

Die Rezeption der ‚Sozialen Marktwirtschaft‘ durch die anderen Parteien des deutschen Bundestages war zögerlich. Aber seit den 1990er Jahren ist die ‚Soziale Marktwirtschaft‘ ein terminus technicus der Politik und erfreut sich eines überparteilichen Konsenses.