Der geheime Grimm
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Selbstporträt des "Malerbruders"
Selbstporträt des "Malerbruders" © Boehncke/Sarkowicz

Die Erinnerungen von Ludwig Emil Grimm, dem unbekannten Bruder der berühmten Grimm-Brüger Jacob und Wilhelm, sind in einem Prachtband erschienen. Ludwig Emil liebte Frankfurt.

Er liebte seine Besuche in Frankfurt. War häufiger Gast bei den dortigen namhaften Protagonisten der Romantik, etwa bei den Brentanos in Rödelheim. Er liebte die rauschenden Feste und tagelangen Bälle der bürgerlichen Familien. Einmal traf er in der Stadt am Main auch den deutschen Dichterfürsten par excellence, Johann Wolfgang von Goethe, der ihn ermutigte, weiter seiner Kunst nachzugehen. Ludwig Emil Grimm (1790–1863) war ein außergewöhnlich begabter Maler und Zeichner, Professor an der Kunstakademie in Kassel. Und doch stand er ein Leben lang und bis heute im Schatten seiner berühmten Brüder Jacob und Wilhelm – den Verfassern der nach ihnen benannten Märchen.

Dass die Brüder Grimm zu dritt waren, weiß bis heute kaum jemand. Heiner Boehncke, der Literaturwissenschaftler, und Hans Sarkowicz, Leiter Literatur und Wissenschaft beim Hessischen Rundfunk, haben Ludwig Emil jetzt dem Vergessen entrissen. In einem wahren Prachtband, liebevoll editiert und illustriert, legen sie die Lebenserinnerungen des „Malerbruders“ vor, erschienen bei der „Anderen Bibliothek“.

Und siehe da: Ludwig Emil malte nicht nur und illustrierte die von seinen Brüdern gesammelten Märchen. Nein, „er schreibt auch fantastisch – obwohl er in der Schule nie richtig Deutschschreiben gelernt hatte“, sagt Sarkowicz.

Er und sein Buddy Boehncke haben sich in den zurückliegenden Jahren als literarische Detektive Hessens profiliert. Sie publizierten schon die Reise-Journale des Frankfurters Johann Kaspar Riesbeck aus dem 18. Jahrhundert. Sie veröffentlichten die Romane von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, schrieben ein Standardwerk über das Literaturland Hessen und vieles mehr.

Und jetzt also der unbekannte Malerbruder Grimm. Das Manuskript seiner Lebenserinnerungen und dazu 3000 Blatt an Zeichnungen und Bildern birgt das Grimm-Museum, die „Grimm-Welt“ in Kassel. „Wir bekamen freien Zugang zu allem und das war ein Hammer“, sagt Boehncke.

Nur zweimal überhaupt hatten sich Literaturwissenschaftler davor mit Ludwig Emil beschäftigt, das war 1911 und 1950. Doch publiziert wurden nur ganz wenige Auszüge seiner Texte und einige Zeichnungen. „Der große Teil der Erinnerungen und Werke wird jetzt zum ersten Mal veröffentlicht“, sagt Sarkowicz. „Die deutsche Ausgabe von 1911 hatte seine Erinnerungen verstümmelt und etliche Kapitel einfach ausgelassen.“ Dass man so schmählich mit dem dritten Grimm-Bruder umging, erklärt sich Boehncke ganz einfach: „Die Gestalt der beiden anderen Brüder war einfach zu groß.“

Ludwig Emil war kein Revolutionär, er hoffte nicht auf den Umsturz der bestehenden Verhältnisse und die Vertreibung der Fürsten – anders als etwa der junge Georg Büchner. „Der Grundton von Grimms Erinnerungen ist romantisch“, sagt Literaturwissenschaftler Boehncke. Aber er schreibt mit Humor und man lernt viel über das Lebensgefühl der Romantik.

In Kassel, in der Stadt, in der er unterrichtet, steht er auf der Seite der gesellschaftlichen Opposition – aber den Schritt hin zu den Demokraten, die den Adel vertreiben wollen, scheut er. Im Gegensatz zu seinen beiden Brüdern. „Er war kein Bilderstürmer“, sagt Sarkowicz.

In den Texten des Malers lernen wir seine Lehrjahre in Kassel kennen, nehmen mit ihm 1814 am Feldzug in Frankreich gegen den wankenden Napoleon teil. Im August 1815 kommt es im Haus der Brentanos in Frankfurt in der Sandgasse zur schicksalhaften Begegnung mit Goethe. „Sein Gesicht war noch von Tisch, wo er dem Johannisberger Eilfer zugesprochen hatte, ganz rot. Wie er meine Bücher bemerkte, sagte er: ,Ah! Da bekommen wir auch etwas von der Kunst zu sehen‘.“

Goethe studiert sorgsam alle Zeichnungen, die Porträts wie die Landschaftsstudien. „Die Köpfe fand er nicht ausgeführt genug, ‚freilich‘, setzte er hinzu, ‚Umstände und Zeit erlauben nicht immer eine größere Ausführung‘.“

Goethe und Grimm sprechen stundenlang miteinander, das heißt, eigentlich spricht Goethe. „Es war aber höchst interessant, ihm zuzuhören, und da konnte man den Glanz und Geist seiner Augen recht erkennen.“

1815/1816 fährt er, gestärkt vom positiven Urteil Goethes, zum zweiten Mal nach München und taucht in die dortige Künstler-Boheme ein. Er trifft Bildhauer und Maler, aber auch den Dichter Clemens Brentano, der am Sendlinger Tor wohnt. 1816 kann er dann endlich, wie viele Künstler seiner Zeit, zu einer großen Italienreise aufbrechen – auf der Spur der Klassik. Eingeladen von Georg von Brentano – sonst hätte sich der Maler diese Tour nicht leisten können.

Ab 1819 beginnt der dritte Grimm dann tatsächlich für seine beiden prominenten Brüder zu arbeiten: Er illustriert ihre „Kinder- und Hausmärchen“. Viele berühmte Märchen schmücken seine Illustrationen: Hänsel und Gretel, Aschenputtel, Rotkäppchen, Dornröschen, Schneewittchen, um nur einige zu nennen.

1830 wird er noch einmal in die Politik hineingezogen: Protestierende Kasseler Bürger ziehen zum Schloss von Kurfürst Wilhelm II – sie fordern die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung, laufen aber auch Sturm gegen die hohen Brotpreise.
Grimm porträtiert die Aufmüpfigen, schlägt sich aber nicht auf ihre Seite.

Das 500-seitige Buch "Ludwig Emil Grimm - Lebenserinnerungen des Malerbruders" mit Texten und Zeichnungen von Ludwig Emil Grimm ist in der „Anderen Bibliothek“ in Berlin erschienen und kostet 79 Euro. Es umfasst auch einen Kommentar und einen längeren Lebensabriss zu dem Maler und Zeichner.

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