Der Aktualit�tsbezug ist nicht zu �bersehen: Das Dokudrama „Die Ungewollten“ (NDR, HR, RBB, SWR / UFA Fiction) erz�hlt die Geschichte jener �ber 900 j�dischen Fl�chtlinge, die im Mai 1939 auf dem deutschen Schiff St. Louis nach Kuba ausreisen wollen. Als ihnen die dortige Regierung verbietet, an Land zu gehen, beginnt eine Odyssee; auch die USA und Kanada verwehren die Einreise. Der Film ist eine Hommage an den Kapit�n Gustav Schr�der, der an seine Passagiere appelliert, nicht die Hoffnung zu verlieren. Der Stil entspricht mit seinem Mix aus Spielszenen, Dokumentarmaterial & Interviews mit Zeitzeugen dem �blichen Schema solcher Produktionen. Die Umsetzung wirkt etwas sparsam, umso mehr sticht die Leistung von Ulrich Noethen hervor, der Schr�der hanseatisch zur�ckhaltend verk�rpert.
Foto: NDR / Degeto / David DollmannUlrich Noethen als Kapit�n Gustav Schr�der. Dank seiner Umsicht und Zivilcourage kann eine gr��ere Katastrophe verhindert werden. Das Schiff muss keinen deutschen Hafen ansteuern und kann in Antwerpen ankern. Der Film wurde in Portugal gedreht.
Auch ohne den versuchten Anschlag auf die Synagoge in Halle w�re „Die Ungewollten“ ein Film von bedr�ckender Aktualit�t: Das Dokudrama erz�hlt von Fl�chtlingen, die niemand haben will. Die Geschichte der �ber 900 Juden, die im Mai 1939 mit einem Schiff der Hamburger Reederei Hapag nach Kuba reisen wollen, ist schon einmal verfilmt worden. Das mit Stars gespickte britische Kinodrama „Reise der Verdammten“ (1976) erz�hlte die Odyssee vor allem aus Sicht der Passagiere. Die ARD-Produktion ist einige Nummern kleiner und wirkt zudem nicht zuletzt wegen der dominierenden fernsehtypischen Einstellungen – viele Gro�aufnahmen, kleine Gruppen statt Massenszenen – recht sparsam. Das gilt auch f�r die Besetzung; die deutschen Mitwirkenden lassen sich an einer Hand abz�hlen. Die Hauptrollen stechen daher umso st�rker hervor: Ulrich Noethen spielt Gustav Schr�der, den Kapit�n der St. Louis, Britta Hammelstein repr�sentiert als Martha Stern, deren Mann (Golo Euler) bereits auf Kuba ist, die Emigranten. Bis auf wenige Ausnahmen sind die weiteren Sprechrollen mit Portugiesen besetzt worden, weshalb viele Dialoge synchronisiert werden mussten.
Foto: NDR / Degeto / David DollmannDas Schicksal der Passagierin Martha Stern, gespielt von Britta Hammelstein, steht in "Die Ungewollten" stellvertretend f�r viele Frauen mit ihren Kindern an Bord.
Wollte man dem Film B�ses, k�nnte man sagen: „Die Ungewollten“ ist braves �ffentlich-rechtliches Fernsehen, das sich am �blichen Dokudrama-Muster orientiert. Noethen und Hammelstein erg�nzen die Handlung regelm��ig durch Off-Kommentare. Die Arbeitsteilung ist offenkundig: Der Kapit�n sorgt f�r Hintergrundinformationen, die Passagierin („Angst? Immer. �berall. Schon lange.“) soll Gef�hle vermitteln und Empathie wecken. Ben von Grafenstein kombiniert die Spielszenen immer wieder mit authentischen Fotografien, die geschickt in die Handlung integriert werden, weil Martha st�ndig fotografiert; einige der portugiesischen Nebendarsteller weisen eine verbl�ffende �hnlichkeit mit den Menschen auf den Fotos auf. Eine wichtige Erg�nzung sind die Aussagen der Zeitzeugen. Viele Passagiere waren damals Kinder und haben entsprechend lebhafte Erinnerungen an die von ihnen als gro�es Abenteuer erlebte Reise. Auf �hnliche Weise hat der Regisseur schon von der endg�ltigen Teilung Berlins 1961 aus der Sicht von sechs Jugendlichen erz�hlt („Die Klasse – Berlin ’61“, 2015, ARD). Noch besser war sein Dokudrama �ber Helmut Schmidt („Lebensfragen“, 2013, ARD). Das lag einerseits nicht zuletzt am charismatischen Protagonisten selbst, aber auch an den gelungenen Spielszenen.
�hnlich wie der deutsche Meister dieses Genres, Raymond Ley, nutzt von Grafenstein die dokumentarischen Elemente vor allem zur Illustrierung. Gerade die zeitgen�ssischen Aufnahmen des Ozeanriesen dienen als Ersatz, weil die St. Louis schon vor Jahrzehnten abgewrackt worden ist und es viel zu kostspielig gewesen w�re, ein Schiff zu chartern und umzugestalten. Die Gespr�che mit den heute zum Teil hochbetagten Mitreisenden wiederum wirken oft, als sollten sie die Authentizit�t der filmischen Rekonstruktion best�tigen. �ber sich hinaus weisen die Ausschnitte erst gegen Ende, als sich die M�nner und Frauen verbal vor Schr�der verneigen; der Kapit�n ist nach seinem Tod in Yad Vashem, der israelischen Gedenkst�tte f�r die M�rtyrer und Helden im Holocaust, in den Kreis der „Gerechten unter den V�lkern“ aufgenommen worden. Allerdings lag dem Autorenduo Susanne Beck und Thomas Eifler, dem Regisseur sowie dem Hauptdarsteller offenkundig nichts ferner, als Schr�der zu einer �berlebensgro�en Figur zu heroisieren; Noethen verk�rpert den Kapit�n mit stoischer hanseatischer Ruhe. Der Film vermittelt vielmehr, dass der Mann nur seine Pflicht getan hat, weil er sich, obschon Mitglied der NSDAP, nicht dem Nationalsozialismus, sondern der Menschlichkeit verpflichtet f�hlte. Als sich die kubanische Regierung weigert, die Menschen an Land zu lassen, widersetzt sich Schr�der dem Befehl seiner Reederei, die ihn umgehend nach Hamburg zur�ckbeordert. Tats�chlich entpuppt sich die gesamte Passage als Coup des Propagandaministeriums: Die Nationalsozialisten wollten mit der Aktion beweisen, dass Juden auch anderswo nicht erw�nscht sind. Selbst die Vereinigten Staaten, das Einwanderungsland schlechthin, haben sich geweigert, die Menschen aufzunehmen: Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit f�rchteten die B�rger, die Immigranten k�nnten ihnen die Arbeitspl�tze wegnehmen. Kanada hat sich der amerikanischen Haltung angeschlossen; daf�r hat sich Premierminister Justin Trudeau 2018 �ffentlich entschuldigt.
Foto: NDR / Degeto / David DollmannPassagiere des Schiffes „St. Louis“. Die Passagiere gehen in Hamburg an Bord.
Weil die Handlung emp�rend genug ist, konnten Buch und Regie weitgehend darauf verzichten, sie zus�tzlich zu dramatisieren. Stattdessen setzt von Grafenstein auf Ellipsen. Als Martha vor Beginn der Reise zur „Leibesvisitation“ durch einen Offizier befohlen wird, spart der Regisseur die ohnehin mutma�lich voyeuristische Szene aus. Bei anderen Ereignissen d�rfte die Zur�ckhaltung nicht zuletzt eine Frage des Geldes gewesen sein: Ein mit Gewalt niedergeschlagener Aufstand einer drei�igk�pfigen Gruppe, die das vor Kuba liegende Schiff mit Gewalt verlassen will, wird blo� erz�hlt. Angesichts dieser reduzierten Erz�hlweise f�llt ein von Florian Panzner gem�� den �blichen Nazi-Klischees verk�rperter Steward in doppelter Hinsicht unangenehm aus dem Rahmen. Als Sch�fer die Crew auffordert, die Passagiere ordentlich zu behandeln, verweist der Mann auf die „N�rnberger Rassengesetze“. Sp�ter, als es „heim ins Reich“ geht, freut er sich, dass „diese Parasiten bekommen, was sie verdienen.“ Er spielt sich an Bord als Repr�sentant der Partei auf und stachelt den Ersten Offizier vergeblich zur Meuterei auf, als er mitbekommt, dass Schr�der vor Englands K�ste eine Havarie vort�uschen will, damit die Briten die Gefl�chteten aufnehmen m�ssen.
W�hrend Kameramann Raphael Beinder kaum Spielr�ume hat, weil sich die Bildgestaltung auf die Schauspieler konzentriert, setzt die Musik umso pr�gnantere Akzente: Andr� Feldhaus beginnt mit unheilvoll dynamischen elektronischen Kl�ngen und findet mit z�rtlichen Klavierakkorden oder sanft euphorisierter Musik stets die richtige Untermalung f�r die Spielszenen. Der Film endet mit der Information �ber das weitere Schicksal der Passagiere: Die St. Louis durfte im Hafen von Antwerpen anlegen, die Menschen fanden Zuflucht in Belgien, Holland, Frankreich und Gro�britannien; trotzdem sind �ber 250 von ihnen im Verlauf des Holocaust ermordet worden. Einer der �berlebenden erkl�rt, warum so viele Juden so lange mit ihrer Ausreise gewartet haben, bis es zu sp�t war: Sie seien �berzeugt gewesen, dass der Nazi-Spuk bald vor�ber sei. Das l�sst sich zwar ebenfalls als Kommentar zur aktuellen politischen Lage in Deutschland verstehen, aber vermutlich hatten die Autoren andere Ereignisse vor Augen, als sie Schr�der diesen Satz in den Mund legten: „Die Welt schaut betroffen zu, aber tatenlos.“ (Text-Stand: 15.10.2019)
Foto: NDR / Degeto / David DollmannSchr�der (Noethen) l�sst nichts unversucht, um seine Passagiere zu retten. Er nimmt Kontakt zum kubanischen Pr�sidenten auf, entwickelt Pl�ne, die „St. Louis“ an der englischen K�ste an Land zu setzen, verhindert eine Meuterei der Passagiere an Bord.
Tilmann P. Gangloff ist seit 1985 freiberuflicher Fernseh- und Filmkritiker f�r Tageszeitungen und Fachzeitschriften, seit 1990 regelm��iges Mitglied der Jury f�r den Grimme-Preis sowie Mitglied diverser anderer Fernsehpreisjurys.