Morgenpost

Pleiten, Pech und Pannen: Die hässliche Seite der Wissenschaft

Eine kluge Initiative will ein verzerrtes und ohnehin unglaubwürdiges Bild korrigieren: dass Forschende mit ihren Studien ständig Durchbrüche erringen.

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Sie kennen bestimmt das alte Bonmot: Ist es nicht erstaunlich, dass sich jeden Tag genau soviel zuträgt, dass es exakt in eine Tageszeitung passt? Analog dazu und übertragen auf die Wissenschaft könnte man sich wundern: Wie kommt es, dass in Studien immer genau diejenigen Fragestellungen untersucht werden, die interessante Ergebnisse erbringen? Ist es nicht verblüffend, dass Forschende immer zu neuen, aufsehenerregenden Resultaten gelangen?

Natürlich stimmt das in Wirklichkeit nicht, was in Fachkreisen seit Jahrzehnten unter dem Begriff „Publication bias“ bekannt ist, also „Veröffentlichungs-Verzerrung“: Genau wie die meisten Medien lieber Schlagzeilen über spektakuläre Ereignisse drucken als über Tage, an denen nichts passiert ist, haben auch wissenschaftliche Fachverlage die Tendenz, praktisch ausschließlich Artikel über Studien zu veröffentlichen, die Durchbrüche verheißen – über ein neues Medikament mit fantastischer Wirkung, große Entdeckungen der Archäologie, in aufwendigen Beobachtungsreihen ermittelte Ernährungstipps oder neuartige Materialien mit wundervollen Eigenschaften.

Verschwunden in der Schublade

Das alles gibt es zweifelsohne. Zugleich gibt es allerdings eine mindestens ebenso große Zahl an Bemühungen, die gescheitert sind: Das Studie geht schief, die vermeintlich tolle Medikament versagt, die Anfangshypothese stellt sich als falsch heraus, der Sensationsfund erweist sich als Pleite. Kurz: Die Studien kommen zu negativen Ergebnissen, weil sie nichts Neues herausgefunden haben oder die Erwartungen der Forschenden enttäuscht wurden. Die übliche Folge ist, dass diese Arbeiten schlicht in Schubladen verschwinden, weil niemand gerne negative Resultate veröffentlicht, die der Reputation von Forschenden wie auch Fachjournalen wenig zuträglich sind.

Doch das ist ein Fehler, wie beispielsweise die Gestalter der Online-Plattform „Journal of Trial & Error“ finden. Vor ein paar Tagen berichtete das renommierte Fachblatt „Nature“ über diese Initiative, die sich zum Ziel setzt, gescheiterten Arbeiten ein Forum zu geben – und damit schlicht darauf hinweist, wie die Realität in der Wissenschaft aussieht: Sehr vieles klappt eben nicht, genau wie  auch sonst im Leben. Doch genau diese im Grunde banale Realität bilden die Fachjournale nicht ab: Untersuchungen gehen davon aus, dass zu mindestens 85 Prozent ausschließlich positive Forschungsergebnisse publiziert werden, über den Rest wird der Mantel des Schweigens gebreitet. Selbst Forschende, die es nicht als Schmach betrachten, Irrwege oder Nullresultate zu veröffentlichen, bekommen kaum die Chance dazu: In einer Umfrage 2022 gaben nur 12,5 Prozent dieser Personen an, je die Möglichkeit zur Publikation von Negativresultaten erhalten zu haben.

Systematische Verzerrung der Realität

Diese Praxis ist aus mehreren Gründen problematisch, nicht nur weil sie die Forschungsrealität in der öffentlichen Wahrnehmung verzerrt. Wenn gescheiterte Arbeiten nicht leise verschwinden würden und die weltweite Kollegenschaft davon erfahren würde, bräuchte sie nicht dieselben Fehler wiederholen – doch genau das geschieht ständig: Regelmäßig und um viel Steuergeld werden Hypothesen untersucht, die sich längst als nicht haltbar erwiesen haben. Außerdem würde zur Literatursuche heute immer öfter Machine Learning eingesetzt, um die großen Datenmengen zu durchforsten, berichtet „Nature“. Und hier drohe erst recht eine systematische Verzerrung im ganz großen Maßstab, wenn die Künstlichen Intelligenzen in den Weiten der Internet-Datenbanken lediglich die hübschen Arbeiten mit erhofften Positivergebnissen aufstöbern und berücksichtigen.

Eine Intiative wie das „Journal of Trial & Error“, das der Welt die „hässliche Seite der Wissenschaft“ vor Augen führen will, bietet aber noch einen Vorteil: Sie könnte der grassierenden Wissenchaftsskepsis entgegenwirken – indem sie das ohnehin unglaubwürdige Bild korrigiert, Wissenschafter wüssten immer alles und behielten immer Recht. Und stattdessen öffentlich macht, dass Misserfolge und Irrtümer eben Teil des Jobs sind, genau wie bei allen anderen Menschen.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft