2.1 Alexander Wendts Konstruktivismus-Theorie

Die Konstruktivismus-Theorie von Alexander Wendt ist in der Wissenschaft von kapitaler Bedeutung, zudem auch für das hier behandelte Thema sehr aufschlussreich, somit bildet sie für die vorliegende Untersuchung einen wichtigen Forschungsgegenstand und wird im Folgenden entsprechend vorgestellt. Anschließend werden die Wahrnehmungen, die Beziehungen zwischen Wahrnehmung, Identität und Interesse sowie die drei Kulturen der Anarchie als die grundlegenden Begriffe dargelegt.

Jahrzehntelang konzentrierte sich die theoretische Forschung zu internationalen Beziehungen hauptsächlich auf zwei dominanten Ansätzen: die Realismus- und die Liberalismus-Theorie.Footnote 1 Die Konstruktivismus-Theorie wurde in diesem Bereich weitgehend vernachlässigt, da sie sich auf „die soziale“, statt auf „die materielle Konstruktion“ konzentriert.Footnote 2 In den 80er-Jahren und im Zuge der großen Veränderungen in Osteuropa und mit Ende des Kalten Krieges aber kamen Zweifel an der Aussagefähigkeit der Mainstream-Theorien bezüglich der internationalen Beziehungen aufFootnote 3, denn der Rationalismus konnte weder die Wende noch die damaligen systemischen Transformationen erklären.Footnote 4 Auf diesem Hintergrund brach die sogenannte „dritte Debatte“ diese Theorien betreffend ausFootnote 5 und die Konstruktivismus-Theorie von Alexander Wendt erhielt im akademischen Bereich größere Aufmerksamkeit, gleichzeitig wurde sie auch in Diskussionen um die internationalen Beziehungen mehr und mehr einbezogen.Footnote 6

Alexander Wendt ist ein deutsch-amerikanischer Politikwissenschaftler und Professor für International Security im Department of Political Science an der Ohio State University.Footnote 7 Er begriff sich als Kerndenker bezüglich der Metatheorie in Studien zu zeitgenössischen internationalen Beziehungen und als einen der Hauptvertreter der Konstruktivismus-Theorie.Footnote 8 In seinem Artikel Anarchy is What States Make of It: The Social Construction of Power Politics (1992) betonte er bezüglich einer Erklärung zu den internationalen Beziehungen die Begrenzung des Konzepts der Anarchie, die auf den Theorien des Neorealismus und des Neoliberalismus basieren.Footnote 9 Im Jahr 1999 entwickelte er die Konstruktivismus-Theorie im Bereich der Forschung zur internationalen Politik in seinem Buch Social Theory of International Politics weiter. Durch die Integration der idealistischen Weltsicht, der Epistemologie des wissenschaftlichen Realismus und der holistischen Methodologie schuf er innerhalb der Konstruktivismus-Theorie einen Mittelweg, „einen dünnen Konstruktivismus“, wie Wendt ihn nannte.Footnote 10 In der Folge wurden Wendts Ansichten zum einflussreichsten Zweig der Konstruktivismus-Theorie.Footnote 11

2.1.1 Der Begriff „Wahrnehmung“ im Konstruktivismus von Alexander Wendt

Wendt hebt in seiner Theorie die Bedeutung der gemeinsamen Ideen (Wissen) in den internationalen Beziehungen hervor. Das bedeutet, dass in seiner Konstruktivismus-Theorie die gemeinsame Wahrnehmung (bzw. die gemeinsame Idee) das Wissen darstellt, das sowohl gemeinsam als auch verbindend zwischen den Individuen ist.Footnote 12 Alexander Wendt erklärt hierzu, dass

„[…] die Strukturen der menschlichen Beziehungen hauptsächlich durch die gemeinsame Wahrnehmung, nicht aber durch die materiellen Kräfte bestimmt werden.Footnote 13

Wendt widerspricht hier explizit der Definition der Strukturen der menschlichen Gesellschaft in den Theorien des Neorealismus und Neoliberalismus, denn diese werden dort gerade durch die materiellen Phänomene konstruiert.Footnote 14 Er bestritt allerdings die objektive Tatsache nicht, dass das materielle Element sehr wohl existiere und demnach auch nicht ignoriert werden könne. Wendt betont lediglich, dass der materielle Faktor in seiner Theorie keine entscheidende Rolle spielt, diese stattdessen von den gemeinsamen Ideen als wichtigstem Element in den internationalen Beziehungen übernommen wird. Wendt nennt seine Annahme den „Rump Materialismus“.Footnote 15

In der vorliegenden Arbeit wird Wendtsche Begriff der „Wahrnehmungen“ als Basis für die Strukturen menschlicher Beziehungen verwendet, um die möglichst authentische Anschauung der südafrikanischen Eliten gegenüber China zu erforschen.

2.1.2 Beziehungen zwischen Wahrnehmung, Identität, Interesse und Handlung

In Bezug auf das Prinzip der Bestimmung der nationalen Interessen bestanden frühere Mainstream-Theorien darauf, dass diese auf materiellen Faktoren beruhen.Footnote 16 Wendt betont nun, dass

„[…] die Identitäten und Interessen der zweckmäßigen Akteure durch diese gemeinsamen Wahrnehmungen konstruiert werden, aber keinesfalls von der Natur.Footnote 17

Wendt interpretiert die Identität als eine Eigenschaft von bewussten Akteuren, die motivierende und verhaltensbezogene Dispositionen erzeugen können.Footnote 18 Laut seiner Ausführung wurzelt die Identität im Selbstverständnis eines Akteurs, ist aber oft auch davon abhängig, ob andere Akteure die Identität dieses Akteurs auf die gleiche Weise anerkennen. Mit anderen Worten: Identität besteht sowohl aus internen als auch aus externen Strukturen.Footnote 19 Die Identitäten werden von Alexander Wendt wie folgt untergeteilt: (1) Person oder Gemeinschaft, (2) Typ, (3) Rolle und (4) Kollektiv.Footnote 20 Mit Ausnahme des ersten Falls können mehrere Formen gleichzeitig innerhalb eines Akteurs auftreten.Footnote 21

Die „Person“ oder, in Bezug auf Organisationen, die „Gemeinschaft“ besteht aus selbstorganisierenden, homöostatischen Strukturen, in denen Akteure eigenständige Entitäten sind. Wendt argumentiert, dass es immer eine materielle Basis gibt, so z. B. in Bezug auf Staaten wäre das Territorium. Aber das, was die unterschiedlichen Identitäten von Person oder Gemeinschaft tatsächlich bestimmt, sind das Bewusstsein und die Erinnerung an sich selbst als Ort des Denkens und Handelns.Footnote 22 Diese Ideen des Selbst haben eine „autogenetische“ Qualität, daher ist diese Form der Identität einer Person oder Gemeinschaft für andere im Wesentlichen exogen.Footnote 23

Wendt entlehnt den Begriff „Typ“ von Jim FearonFootnote 24, der sich auf eine soziale Kategorie oder ein Label bezieht, das sich für Personen eignen, die über eine oder mehrere gemeinsame Eigenschaften verfügen, das betrifft z. B. Aussehen, Verhaltensmerkmale, Einstellungen, Werte, Fähigkeiten (z. B. Sprache), Kenntnisse, Meinungen, Erfahrungen, historische Gemeinsamkeiten (wie Wohn- oder Geburtsort) usw.Footnote 25 Ein Akteur kann dabei mehrere Typ-Identitäten gleichzeitig haben, zudem sind die Eigenschaften dieser intrinsisch in dem Akteur, folglich können sie von außen bzw. durch andere nicht verändert werden.Footnote 26

Die „Rolle“ ist durch die Kultur geprägt, weshalb diese Identitäten auch nur in den Beziehungen mit anderen bestehen. Das bedeutet, dass diese Form der Identität nur auftritt, wenn man eine Position in einer sozialen Struktur einnimmt, deren Normen mit relevanten Gegenidentitäten interagieren.Footnote 27

Das „Kollektiv“ gilt als eine logische Schlussfolgerung und wird von den Beziehungen zwischen dem Menschen selbst und den anderen abgeleitet, woraus die Identifikation entsteht. Dies ist ein Prozess, der „Typ“ und „Rolle“ benutzt, aber darüber hinausgeht. Die kollektive Identität ist also eine einzigartige Kombination aus der Rollen- und der Typ-Identität und besitzt eine kausale Kraft, sodass sie die Akteure dazu veranlasst, die Interessen anderer als einen Teil des Eigeninteresses zu definieren, d. h. die Personen mit der kollektiven Identität sind altruistisch.Footnote 28

Wendt illustriert, dass die Handlungen der Akteure von ihren Interessen abhängig sind, entsprechend des Konstruktivismus werden sie daher auch von ihren gemeinsamen Ideen beeinflusst. Im Rationalismus gelten Identität und Interesse noch als die exogenen Faktoren und die Konstanten, in der Konstruktivismus-Theorie aber werden sie als endogene, abhängige Variablen betrachtet.Footnote 29 Um die Beziehungen zwischen Wahrnehmung, Identität, Interesse und Handlung eindeutig nachzuweisen, führt Wendt in seine Theorie die intentionale Gleichung der rationalen Wahl als Referenz ein. Diese lautet: Wunsch + Glaube = Handlung (desire + belief = action), wobei die Identität dem Glauben und das Interesse dem Wunsch zugeordnet wird. Das bedeutet, dass Identität und Interesse die Handlung bestimmen.Footnote 30 Darüber hinaus betont Wendt, dass die Identität auch die Voraussetzung für das Interesse ist, weil ein Akteur nicht wissen kann, was er will, bevor er nicht weiß, wer er ist.Footnote 31 Zudem beeinflussen Interesse und Identität einander, d. h. ohne das Interesse hätte die Identität keine motivationale Kraft und ohne die Identität hätte das Interesse keine Richtung.Footnote 32

Der Wendtschen Theorie zufolge bestehen Identität und Interesse aus diskursiven Formationen, was die Verteilung von Ideen (die Wahrnehmung) im System und die materiellen Kräfte meint, wobei aber die Idee die größte Bedeutung hat.Footnote 33 Da, wie oben gezeigt, die Identität die Voraussetzung für das Interesse ist und beide einander beeinflussen, determinieren sie gemeinsam die Handlung. So ist dann folglich die Wahrnehmung der Grundstein für eine Handlung, wobei zu betonen ist, dass jede Person unterschiedliche Identitäten entsprechend den oben genannten vier Aspekten hat.

In der vorliegenden Arbeit können die ausgewählten Eliten den drei Kategorien der Identitäten, „Typ“, „Rolle“ und „Kollektiv“, zugeordnet werden. Zudem wird anhand der Beziehungen zwischen Identität, Interesse und Handlung auch der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Identitäten und den unterschiedlichen einschlägigen Interessen deutlich, wodurch dann die Handlungen einzelner Personen erklärbar werden. Letztlich lassen sich dadurch, dass in der vorliegenden Untersuchung die Interessen der südafrikanischen Eliten anhand ihrer Identitäten analysiert werden, ihre Wahrnehmungen bezüglich Chinas aus ihren Handlungen ableiten.

2.1.3 Drei Kulturen der Anarchie

Auf Grundlage der oben genannten Überlegungen kommt Wendt zu dem Schluss, dass die internationale Systemstruktur durch unterschiedliche gemeinsame Ideen gekennzeichnet ist, da diese die verschiedenen Interessen und Handlungen bewirken.Footnote 34 Aufgrund der unterschiedlichen Arten der Interaktion zwischen Ländern vertritt Wendt zudem die Auffassung, dass eine Vielzahl anarchischer Kulturen entstehen könnte. Er fasst hierbei drei Arten bezüglichen des internationalen Systems zusammen, nämlich die „Hobbesische“, die „Lockesche“ und die „Kantische“ Kultur.Footnote 35

In der Hobbesischen Kultur verfügen die Staaten nicht über gemeinsame Ideen, sie gelten vielmehr als „Feinde“.Footnote 36 Für diesen Typ lassen sich vier Merkmale erkennen: Zum einen neigen die Staaten dazu, extreme Maßnahmen zu ergreifen, um einen aktuellen Konflikt zu lösen, wobei versucht wird, den Feind mit allen Mitteln zu besiegen. Zum Zweiten basieren die Entscheidungsfindungsprozesse darauf, dass stets die schlimmstmögliche Situation in der Zukunft angenommen und entsprechend gehandelt wird. Drittens gilt die Militärmacht als zentraler Faktor im Staat. Schließlich würden die Staaten im Falle eines tatsächlichen Krieges die (wahrgenommen) Feinde bekämpfen und ohne Einschränkung Gewalt anwenden.Footnote 37

Die Lockeschen Kultur postuliert, dass ein Staat durchaus einen gewissen Anteil an Gemeinsamkeiten mit einem anderen Staat hat, diesen aber als „Konkurrenten“ ansieht.Footnote 38 Auch hier lassen sich vier Implikationen herausarbeiten: 1. Ganz gleich welche Konflikte zwischen den Staaten existieren, sie müssen stets den Status quo der Souveränität dem anderen gegenüber aufrechterhalten. 2. Es herrscht eine Neigung zum rationalen Verhalten. Da die Konkurrenzsituation nicht so spannungsgeladen ist wie zwischen Feinden und demnach wesentlich geringere Sicherheitsprobleme und Risiken auftreten, wird die zukünftige Entwicklung des Staates in die Entscheidungsprozesse einbezogen und berücksichtigt, dass die absoluten Gewinne die relativen Verluste übertreffen sollten. 3. Die relative militärische Macht hat auch hier Bedeutung, da sich auch Konkurrenten darüber bewusst sind, dass andere Staaten Gewalt anwenden könnten. 4. Wenn der Konflikt wirklich zu einem Krieg führen sollte, werden die Konkurrenten allerdings mit eingeschränkten militärischen Mitteln kämpfen.Footnote 39

In der Kantischen Kultur identifiziert sich ein Staat mit den Ideen anderer Staaten, sie werden also als „Freund“ behandelt.Footnote 40 Die Staaten erwarten hier voneinander, dass zwei entscheidende Regeln eingehalten werden: Zum einen werden Konflikte ohne Krieg oder Kriegsandrohung beigelegt (Gewaltlosigkeit), zum anderen werden sie eine Allianz bilden, sollte die Sicherheit durch einen Dritten bedroht sein (gegenseitige Hilfe).Footnote 41

In dieser Arbeit werden Wentsche drei Kulturen der Anarchie als relevante Begriffe betrachtet.  Jedoch bezieht sich die Arbeit nur die Wahrnehmungen der südafrikanischen Eliten gegenüber China und beinhaltet nicht Chinas Wahrnehmungen gegenüber Südafrika. Die Studie fokussiert sich also nur auf die Wahrnehmungen der afrikanischen Eliten. Dies hebt sie deutlich von vorliegenden Forschungsarbeiten ab, da dort der Fokus ganz überwiegend auf Chinas Ambitionen gerichtet ist.

2.2 Forschungsmethode

Die Forschungsmethoden beinhalten Fallstudien, die qualitativen Analyse: Diskusanalyse von Jürgen Habermas und Interviews, sowie die quantitative Analyse: Fragebogen. Die Hauptforschungsmethode sind die Fallstudien und Diskusanalyse von Jürgen Habermas, die durch Interviews und Fragebogen komplettiert werden.

2.2.1 Die Fallstudien

Die Fallstudie besteht aus insgesamt fünf wesentlichen Forschungselementen: die Kernfrage, die Hypothese, die Analyse des Untersuchungsgegenstands, die Verbindung zwischen der Hypothese und den Daten sowie die Auswertung der Ergebnisse.Footnote 42 In der vorliegenden Arbeit beschäftigen sich die vier Hauptkapitel mit den Wahrnehmungen der südafrikanischen Eliten bezüglich des Einflusses chinesischer wirtschaftlicher Aktivitäten, Chinas globalen politischen Strategien, Chinas Modell, sowie Chinas Soft Power bezüglich Südafrikas. Anschließend werden in jedem Kapitel zwei bzw. drei aussagekräftige Fallstudien hinzugezogen, die anhand der oben genannten Fragen untersuchen, welche Wahrnehmungen die südafrikanischen Eliten gegenüber China einnehmen und welche Gründe hierfür aufgezeigt werden können. Die Hypothese der vorliegenden Arbeit lautet, dass Südafrika und China gemäß der oben dargestellten Typisierung als Freunde zu bezeichnen sind. Die Verbindung zwischen der Hypothese und den konkreten Daten aus jeder Fallstudie wird durch die Diskursanalyse von Jürgen Habermas verdeutlicht und das entsprechende Ergebnis anhand der Konstruktivismus-Theorie von Alexander Wendt erklärt.

Zu betonen ist, dass in der vorliegenden Arbeit nur die per se relevanten Fallstudien verwendet werden.Footnote 43 Die südafrikanischen Eliten als Untersuchungsgegenstand werden als vollständige Einheit betrachtet, somit der Fall nach dem ganzheitlichen Design des Einzelfalls aufgebaut wird.Footnote 44 Die Daten werden den Diskursen über China, die von den südafrikanischen Eliten stammen, entnommen. Jede Fallstudie wird durch das lineare Vorgehen der Diskursanalyse in den vier folgenden Schritten beschrieben: Sammlung der Daten, Klassifizierung der Daten, Feinanalyse der Daten und weitere Sortierung der Daten.Footnote 45

2.2.2 Diskursanalyse von Jürgen Habermas

Um einen größtmöglichen Querschnitt der Wahrnehmungen zu erhalten, kommt die Diskurstheorie von Jürgen Habermas, insbesondere die Definition des kommunikativen Handelns, als Forschungsmethode zur Anwendung. Generell kann die Diskurstheorie in drei wesentliche Strömungen eingeteilt werden: die poststrukturalistische, die normativ-deliberative und die kritisch-realistische Diskurstheorie. Jürgen Habermas gilt als Vertreter der normativ-deliberativen Diskustheorie.Footnote 46

Die poststrukturalistische Diskurstheorie betont die Funktionen von Kommunikation und Sprache für die Herstellung von Realität, Struktur und Ordnung in der Gesellschaft.Footnote 47 Der bekannteste Vertreter ist Michel Foucault, der den Fokus bei der Analyse von Diskursen auf die Macht legt.Footnote 48 Die Forscher der kritisch-realistischen Diskurstheorie vertreten die Auffassung, diskursive Praktiken unterliegen objektiven Zwängen, sodass sie häufig in einem engen Zusammenhang mit makrosoziologischen Theorien sozialer Ungleichheit stehen.Footnote 49 Norman Fairclough ist einer der bedeutendsten Vertreter, der sich tendenziell verstärkt auf die Linguistik konzentriert.Footnote 50 Die normativ-deliberative Theorie postuliert, dass die TeilnehmerInnen der Diskurse trotz unterschiedlicher Interessen und Ziele versuchen, sich auf eine gemeinsame Idee zu einigen.Footnote 51 Es ist deutlich, dass nur die normativ-deliberative Diskurstheorie für die vorliegende Arbeit methodisch geeignet ist, denn obwohl China und Südafrika unterschiedliche Interessen und Ziele haben, wird in den Diskursen die Hoffnung deutlich, bei der Maximierung der eigenen Interessen ein Einvernehmen mit China zu erreichen.

Jürgen Habermas, der wie oben betont wichtigste Vertreter dieser Richtung, zählt derzeit zu den einflussreichsten Philosophen der Welt. Er befasst sich in seinen umfangreichen schriftlichen Arbeiten mit Themen, die von sozialpolitischen Theorien über Ästhetik, Epistemologie und Sprache bis hin zur Religionsphilosophie reichen.Footnote 52 Im Jahr 1995 veröffentlichte er das Buch Theorie des kommunikativen Handelns, in dem er sich gegen die Theorien der zeitgenössischen Sprachwissenschaft stellt und stattdessen seine Theorie des kommunikativen Handelns vertritt, die in der Folge zum Fundament einer umfassenden Gesellschaftstheorie wurde.Footnote 53

In der Definition von Jürgen Habermas werden Handlungen in gewissem Sinne durch Bewegungen des Körpers realisiert, jedoch nur so, dass der Akteur diese Bewegungen mitvollzieht, wenn er einer technischen oder einer sozialen Handlungsregel folgt. Dieser Mitvollzug bedeutet, dass der Akteur die Ausführung eines Handlungsplans intendiert, aber nicht etwa die Körperbewegung, mit deren Hilfe er seine Handlungen realisiert. Die Körperbewegung ist also nur das Element einer Handlung, aber nicht selbst die Handlung.Footnote 54 Habermas gliederte das Handeln hierfür in vier Aspekte: das teleologische, das normenregulierte, das dramaturgische und das kommunikative Handeln.Footnote 55

Der Begriff des kommunikativen Handelns bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (mit verbalen oder extraverbalen Mitteln) eine interpersonale Beziehung eingehen.Footnote 56

Die kommunikative Handlung erfordert drei Geltungsansprüche als Unterstützung:

  • dass die gemachte Aussage wahr ist (bzw. dass die existierenden Voraussetzungen eines nur erwähnten propositionalen Gehalts tatsächlich erfüllt sind);

  • dass die Sprechhandlung mit Bezug auf einen geltenden normativen Kontext richtig (bzw. dass der normative Kontext, den sie erfüllen soll, selbst legitim) ist;

  • dass die manifeste Sprecherintention so gemeint ist, wie sie geäußert wird.Footnote 57

Darüber hinaus ist das kommunikative Handeln auch mit den drei Welten verbunden.

  • der objektiven Welt (als der Gesamtheit aller Entitäten, über die wahre Aussagen möglich sind);

  • der sozialen Welt (als der Gesamtheit aller legitim geregelten interpersonalen Beziehungen);

  • der subjektiven Welt (als der Gesamtheit aller privilegiert zugänglichen Erlebnisse des Sprechers).Footnote 58

In Jürgen Habermasʼ Handlungsmodell erhält die Sprache einen prominenten Stellenwert. Sie wird als ein Medium ungekürzter Verständigung vorausgesetzt, wobei sich Sprecher und Hörer auf dem Horizont ihrer individuellen, interpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen, um eine gemeinsame Situationsdefinition zu verhandeln.Footnote 59 Die südafrikanischen Eliten drücken ihre Ansichten im Allgemeinen über die Medien, spezielle Forschungen und Werke aus, kommunizieren also durch ihre Diskurse mit China und der internationalen Gesellschaft. Das klare Ziel ist hierbei, dass sie gehört und beachtet werden, sodass sie folglich auch ihre realen Meinungen, Bedürfnisse und Erwartungen formulieren können. Erfolgt hierdurch eine Einigung mit China bzw. die Verständigung auf gemeinsame Ideen, können Südafrikas Interessen erfüllt und der Nutzen maximiert werden. Somit wird der Begriff des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas in der vorliegenden Arbeit angewendet, um die Diskurse der südafrikanischen Eliten, die auf China abzielen, zu erläutern.

2.2.3 Forschungsprozess

Der Forschungsprozess erfolgt in vier Schritten:

  • Zunächst werden die Diskurse der südafrikanischen Eliten, die sich auf China beziehen, ermittelt und die für die Untersuchung relevanten Daten zusammengetragen.

  • Anschließend werden die erhobenen Daten laut der unterschiedlichen Fallstudien klassifiziert.

  • Im dritten Schritt erfolgt die Feinanalyse, in der die Daten jeder Fallstudie mithilfe der Diskursanalyse von Jürgen Habermas und der Konstruktivismus-Theorie von Alexander Wendt bezüglich der Beziehung zwischen Wahrnehmung und Handlung analysiert werden, um die Wahrnehmungen der südafrikanischen Eliten gegenüber China und die Ursachen dieser zu ermitteln.

  • Schließlich werden diese Wahrnehmungen anhand der drei Kulturen der Anarchie den Arten Freund, Konkurrent und Feind zugeordnet.Footnote 60 Nach der Analyse wird das Endergebnis zusammengefasst und die entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen.

2.2.3.1 Sammlung der Daten

Die Daten in der vorliegenden Arbeit entstammen den Diskursen der südafrikanischen Eliten gegenüber China. Sie wurden durch qualitative Quellen (Dokumente und Interviews) und durch eine quantitative Quelle (Fragebogen) zusammengetragen, wobei die Dokumente die wichtigste Quelle für die Untersuchung darstellen. Um die Schlussfolgerungen möglichst zwingend und präzise zu gestalten, wurden zehn Interviews mit Mitgliedern der südafrikanischen Eliten geführt, zudem haben 105 Teilnehmende der relevanten Gruppe einen Fragebogen ausgefüllt. Diese Datenerhebung erfolgte von August bis Oktober 2019 in Johannesburg, Südafrika. Die qualitative Methode zeigt hierbei die Ergebnisse zu den unterschiedlichen Standpunkten der südafrikanischen Eliten auf, die durch die konkreten Daten aus den Antworten des Fragebogens gestützt werden. So werden also die Schlussfolgerungen der vorliegenden Untersuchung durch qualitative und quantitative Aspekte gewonnen.

Die Dokumente bestehen vor allem aus:

  • südafrikanischen Regierungsdokumenten,

  • Reportagen der englischsprachigen südafrikanischen Massenmedien sowie

  • Forschungsartikeln der südafrikanischen Forschungsinstitute und Biografien und Memoiren der Eliten.Footnote 61

Damit die Daten als umfassend und exakt klassifiziert werden können, erfolgt die Sammlung in zwei Schritten. Zunächst einmal werden die Themen, auf die die Südafrikaner in Bezug auf China die größte Aufmerksamkeit legen, ermittelt. Dadurch, dass „South Africa“ und „China“ als Schlüsselwörter von Google, die den größten Marktanteil mit mehr als 90 % in Bezug auf Suchmaschine von 2009 bis 2018 in Südafrika belegte,Footnote 62 sucht, werden die vier Themen differenziert, nämlich Chinas wirtschaftliche Aktivitäten, Chinas globale politische Strategien, Chinas Modell, Chinas Soft Power.

Um aus der Datenmenge die relevanten Dokumente herauszufiltern, erfolgt eine verfeinerte Suche. Im Einzelnen wird nun also jedes Hauptthema als einschlägiges Schlüsselwort auf der offiziellen Website der südafrikanischen Regierung, in den südafrikanischen englischen Massenmedien und den südafrikanischen Forschungsinstituten und in Biografie und Memoiren der Eliten gesucht. Hierbei zeigen sich Reportagen und Forschungsartikel als die beiden Hauptquellen. Als Ergebnis der Recherche im ersten Schritt stellt sich heraus, dass die entsprechenden Dokumente über China sich auf sechs südafrikanische englischsprachige Massenmedien sowie auf vier südafrikanische Forschungsinstitute konzentrieren.

Die sechs südafrikanischen englischsprachigen Massenmedien sind:

  • South African Broadcasting Corporation News (SABC News): Das Medium wurde als erster nationaler Nachrichtendienst in Südafrika am 01. August 1936 von der Regierung eingerichtet.Footnote 63 Es bietet aktuelle und fortlaufende Nachrichten und erreicht 51 afrikanische Länder.Footnote 64 Erklärtes Ziel ist es, der führende Nachrichtendienst des Kontinents zu werden und vor allem als glaubwürdig zu gelten.Footnote 65

  • Mail & Guardian: Das Medium wurde 1985 als Weekly Mail gegründet und konzentriert sich auf die politische Analyse, eine investigative Berichterstattung, die südafrikanische Nachrichten sowie auf lokale Kunst, Musik und Populärkultur.Footnote 66 Obwohl es sich um ein verhältnismäßig kleines Unternehmen handelt, ist es in Südafrika hoch angesehen.Footnote 67

  • Business Day South Africa: Die Zeitung wurde von der Tiso Blackstar Group erstmals am 01. Mai 1985 veröffentlicht.Footnote 68 Sie ist eine nationale Tageszeitung in Südafrika, die von Montag bis Freitag erscheint und auch als digitale Version erhältlich ist.Footnote 69

  • Sunday Times: Sie ist die größte Sonntagszeitung in Südafrika, gehört ebenfalls zur Tiso Blackstar Group und ist für ihren investigativen Journalismus bezüglich nationaler und internationaler Nachrichten bekannt.Footnote 70

  • Independent Online (bekannter unter IOL): Das Medium ist eines der führenden südafrikanischen plattformübergreifenden Unternehmen.Footnote 71 Es wurde als gekürzte Online-Version verschiedener lokaler Zeitungen eingeführt und beinhaltet The Independent on Saturday, The Mercury, The Sunday Independent, The Star, The Daily Voice, Pretoria News, Cape Times, The Mercury, Cape Argus, Weekend Argus, The Post, I’solezwe lesiXhosa, Isolezwe, The Daily Tribune and Sunday Tribune.Footnote 72

  • News24: Die bedeutende südafrikanische englischsprachige Online-NachrichtenseiteFootnote 73 bietet rund um die Uhr Berichterstattungen sowie umfassende lokale und internationale Nachrichten.Footnote 74

Die vier südafrikanischen Forschungsinstitute sind:

  • South African Institute of International Affairs (SAIIA): Das SAIIA ist eine unabhängige öffentliche Denkfabrik, die sich mit Außenpolitik, Governance, Umwelt, Wirtschaftspolitik und soziale Entwicklung beschäftigt.Footnote 75

  • Centre for Chinese Studies (CCS). Das Zentrum, das der Stellenbosch University angehört, erforscht hauptsächlich die aktuellen Trends des Engagements Chinas in Afrika.Footnote 76

  • Institute for Global Dialogue (IGD): Das Institut ist ein unabhängiger außenpolitischer Think Tank, der ein breiteres Verständnis der Rolle der Außenpolitik und der Diplomatie sowie der Verfolgung nationaler und internationaler Entwicklungsziele anstrebt.Footnote 77

  • Brenthurst Foundation: Die Stiftung baut ein globales Netzwerk von Analysten auf, die aus Mittel- und Südamerika, Zentralasien, den USA, Südostasien, dem Nahen Osten und Nordafrika sowie Europa stammen. Das Team arbeitet ständig mit einer Vielzahl von Politik- und anderen Experten sowie hochrangigen Regierungsbeamten zusammen.Footnote 78

Aus den südafrikanischen Eliten wurden zehn Persönlichkeiten aus dem wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereich als Interviewpartner ausgewählt. Befragtwurden sie entweder persönlich oder per E-Mail, wobei die konkreten Fragen entsprechend ihrem Fachgebiet ausgewählt wurden (siehe: Anhang Interview 1–10). Zwei Befragt sind aus dem Bereich Wirtschaft. Dann sind vier Forscher in Bezug auf Politik. In der Hinsicht auf Kultur und Bildung gibt es zwei Experte. Schließlich sind zwei Forscher aus dem Bereich Medien.

Abschließend erfolgte die Datenerhebung per Fragebogen mit 105 Befragten in einem Forschungszentrum (die IGD) und an zwei öffentlichen südafrikanischen Universitäten (die University of Johannesburg und die University of Witwatersrand).

  • Die University of Johannesburg besteht aus acht Fakultäten und hat eine Studentenzahl von über 50.000, von denen mehr als 3.000 internationale Studenten aus 80 Ländern sind.Footnote 79

  • Die University of Witwatersrand ist eine öffentliche Forschungsuniversität in Südafrika. Sie besteht aus fünf Fakultäten mit 33 Forschungsbereiche, die über 3.000 Kurse anbieten.Footnote 80

2.2.3.2 Klassifizierung der Daten

Nach der Sammlung und Sichtung der Daten zeigt sich deutlich, dass die südafrikanischen Eliten zumeist die oben eingefügten Hauptthemen diskutieren: Chinas wirtschaftliche Aktivitäten, Chinas globale politische Strategien, Chinas Modell und Chinas Soft Power in Südafrika. Somit werden die Dokumente nach diesen vier Aspekten geordnet, anschließend weiter klassifiziert und als Fallstudien analysiert, sodass jedes Kapitel aus zwei oder drei Fallstudien besteht.

  • Bezüglich Chinas wirtschaftliche Aktivitäten in Südafrika gibt es drei Fallstudien: zum Handel zwischen China und Südafrika, zu Chinas Investment in Südafrika und zu den Auswirkungen der chinesischen Binnenwirtschaft auf Südafrika.

  • Im Zusammenhang mit Chinas globaler Strategie richten die südafrikanischen Eliten ihre Aufmerksamkeit auf den Einfluss des BRICS und Chinas Win-Win-Strategie in Südafrika.

  • In Hinsicht auf Chinas Modell lassen sich drei Schwerpunkte ausmachen: die Special Economic Zones, der Betrieb der SOEs und die Verwaltungsmethode in Chinas Modell.

  • Bezüglich der Kultur und der Medien in Südafrika geht es um zwei Aspekte: die nachweislich chinesischen Einflüsse in den südafrikanischen Medien und die Einführung des Mandarins in südafrikanischen Schulen.

Nach der Untersuchung und Datensammlung kann man sich einen Überblick über das Augenmerk der südafrikanischen Eliten verschaffen. Es lässt sich daraus schließen, dass die südafrikanischen Eliten meistens auf vier Brennpunkte achteten: Chinas wirtschaftliche Aktivitäten; Chinas globale politische Strategie; Chinas Modell; Chinas Soft Power in Südafrika.

Somit werden zuerst die erhobenen Dokumente nach diesen vier Aspekte geordnet, gleichzeitig dienen diese Aspekte als vier Hauptkapitel in der Arbeit. Danach werden die Daten der unterschiedlichen Angelegenheiten zufolge entsprechend weiter klassifiziert und als Fallstudien analysiert, sodass jedem Kapitel aus zwei oder drei Fallstudien besteht.

  • Bezüglich Chinas Wirtschaft in Südafrika gibt es drei Fallstudien: Erstens über den Handel zwischen China und Südafrika; dann über Chinas Investment in Südafrika; schließend über die Auswirkungen der chinesischen Binnenwirtschaft auf Südafrika.

  • Im Zusammenhang mit Chinas globale Strategie richteten die südafrikanischen Eliten ihre Aufmerksamkeit auf den Einfluss von BRICS und Chinas Win-Win Strategie in Südafrika.

  • In Hinsicht auf Chinas Modell achten die südafrikanischen Eliten auf drei Schwerpunkte: der Special Economic Zones, der Betrieb der SOEs und die Verwaltungsmethode in Chinas Modell.

  • Bei Chinas Einfluss auf Kultur und Media in Südafrika geht es um zwei Aspekte: Chinas Fußabdruck in den südafrikanischen Mediä und die Einführung des Mandarins in südafrikanischen Schulen.

2.2.3.3 Feinanalyse der Daten

Anschließend werden die Diskurse der südafrikanischen Eliten bezüglich Chinas in jeder Fallstudie durch die Diskursanalyse nachJürgen Habermas und anhand der Beziehungen zwischen Wahrnehmung und Handlung, wie sie in Alexander Wendts Konstruktivismus-Theorie darstellt sind, analysiert. Folgend sind die spezifischen Wahrnehmungen südafrikanischer Eliten gegenüber China und die Gründe hierfür zu ermitteln und zu erläutern.

Infolgedessen wird die Definition des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas in diesem Abschnitt zugrunde gelegt, um die Diskurse der südafrikanischen Eliten bezüglich Chinas als ihre kommunikativen Handlungen zu klassifizieren. Gleichzeitig werden die Diskurse anhand der von Wendt dargestellten Beziehungen zwischen Wahrnehmung, Identität, Interesse und Handlung analysiert und schließlich die Wahrnehmungen der südafrikanischen Eliten bezüglich Chinas und die Ursachen hierfür abgeleitet.

Die Identitäten der in der vorliegenden Dissertation betrachteten südafrikanischen Eliten lassen sich in sechs Gruppen einteilen:

  • Führungspersönlichkeiten der südafrikanischen Großunternehmen,

  • Führungspersönlichkeiten der südafrikanischen Regierung (Regierungspartei und Opposition),

  • Pädagogen und bekannte Persönlichkeiten des kulturellen Lebens,

  • Medienpraktiker,

  • Führungspersönlichkeiten in den Gewerkschaften und

  • Experten und Forscher in Denkfabriken und Beratungsunternehmen.

Laut Definition nach Alexander Wendt haben alle diese Personen natürlich verschiedene Identitäten, zudem ist es möglich, dass eine Person in den unterschiedlichen Situationen mehrere Identitäten besitzt, wodurch auch verschiedene Interessen vorhanden sind und entsprechende Handlungen und Wahrnehmungen bezogen auf China denkbar werden.

In Hinsicht auf die Politik sind mit den Führungspersönlichkeiten der südafrikanischen Regierung sowohl Mitglieder der regierenden Partei als auch jene der Opposition gemeint. In diesem Fall zeigen sich bezüglich der Rolle zwei Identitäten; zum einen jene der Führungspersönlichkeit und zum anderen die Gegenidentität des regulären Beamten.Footnote 81 Auch sind die Interessen bei politischen Führungspersönlichkeiten vielschichtig. Zunächst hat sich ein Mitglied der südafrikanischen Regierung um das Interesse dieser selbst zu sorgen, wobei z. B. die Verwaltung und das Image zu beachten sind. Zudem sind die langfristigen Interessen von Südafrika relevant, sodass eine Unterstützung Chinas immer dann gerechtfertigt ist, wenn chinesische Aktivitäten als positiv für den Staat und die Regierung erachtet werden. Auch die Wahrung der Interessen der eigenen Partei ist zu gewährleisten, wodurch Chinas Einfluss auf diese ebenfalls stets von Bedeutung ist.

Die wirtschaftlichen Führungspersönlichkeiten in den südafrikanischen Großunternehmen richten ihre Aufmerksamkeit auf die Entwicklung in China. Auch dies wird der Rollen-Identität zugeordnet.Footnote 82 Im Unterschied zu den Mitarbeitenden konzentriert sich ihr Interesse hauptsächlich auf den Betrieb des Unternehmens und wird entscheidend durch die Situation der südafrikanischen Wirtschaft geprägt. Somit ist nachvollziehbar, dass diese Gruppe den Fokus auf Chinas wirtschaftliche Maßnahmen in Südafrika legt und aufgrund des entsprechenden Einflusses und der Auswirkungen verschiedene Handlungen initiiert.

Im kulturellen Aspekt beziehen sich die Eliten auf Pädagogen und Persönlichkeiten des kulturellen Lebens in Südafrika. Da sie spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen, werden sie der Typ-Identität zugeordnet.Footnote 83 Ihre Interessen stehen in enger Beziehung zu den Entwicklungen des Bereiches Bildung und Kultur. Seit dem Jahr 2006 verstärkt die chinesische Regierung den kulturellen Export nach Südafrika, wodurch von diesen Gruppen viele Diskurse über den chinesischen Einfluss auf die südafrikanische Bildung und Kultur zu finden sind.

Die Eliten im Bereich der Medien sind einflussreiche Medienpraktiker, die aufgrund ihrer Fachkenntnisse ebenfalls zur Typ-Identität gehören.Footnote 84 Ihre Interessen liegen klar im Bereich der Medienlandschaft, wodurch sie notwendig den Fokus auf Chinas Einfluss auf diese legen, insbesondere auf die Auswirkungen auf die Freiheit der südafrikanischen Medien und eine wahrheitsgetreue Berichterstattung.

Die Führungspersönlichkeiten in den Gewerkschaften gehören zur Rollen-Identität, wobei auch sie eine Gegenidentität, die des normalen Arbeiters, innehaben.Footnote 85 Sie fokussieren ihre Interessen nur auf den Bereich, in dem sie arbeiten, da sie die Wahrung der Interessen der Arbeiter in eben diesem Bereich verantworten. Damit müssen sie zum chinesischen Einfluss auf ihren spezifischen Bereich Stellung nehmen.

Das Interesse der Experten in Denkfabriken und Beratungsunternehmen steht in keinem Zusammenhang damit, wie China Südafrika beeinflusst. Wegen ihrer professionellen Kenntnisse und Fähigkeiten zählt diese Gruppe zur Typ-Identität.Footnote 86 Ihre zentrale Aufgabe ist es, durch ihr professionelles Wissen die entsprechenden Fallstudien exakt zu analysieren und Lösungen zu präsentieren. Daher können ihre Wahrnehmungen bezüglich Chinas als relativ nüchtern und sachlich klassifiziert werden.

Schließlich können alle zuvor beschriebenen Identitäten zu einer weiteren kategorisiert werden, und zwar die südafrikanischen Eliten. Obwohl sie über eigene Interessen verfügen, eint sie auch ein gemeinsames, nämlich das staatliche Interesse Südafrikas. Insofern sind sie als altruistisch zu bezeichnen und gehören der Kollektiv-Identität an.Footnote 87

2.2.3.4 Weitere Sortierung der Daten

Durch die Feinanalyse der Daten können die unterschiedlichen Wahrnehmungen der südafrikanischen Eliten China betreffend abgeleitet und weiter kategorisiert werden. Die Sortierung erfolgt in zwei Schritten. Zunächst werden die gesammelten Wahrnehmungen in jeder Fallstudie nach den verschiedenen konkreten Auffassungen geordnet. Schließlich werden anhand der drei Kulturen der Anarchie nach Alexander Wendt die unterschiedlichen Wahrnehmungen in die Kategorien Freund, Konkurrent und Feind untergliedert.Footnote 88

Wenn also die südafrikanischen Eliten positive Wahrnehmungen bezüglich Chinas aufweisen, gehören sie der Kategorie Freund an. Sind die Wahrnehmungen gegenüber China eher neutral, werden sie als Konkurrent klassifiziert. Postulieren die südafrikanischen Eliten in ihren Diskursen, dass China einen rein negativen Einfluss auf Südafrika ausübt, dann zählen die Wahrnehmungen zu der Kategorie Feind.