Müssen die Wiener Festwochen wirklich Teodor Currentzis ausladen?

KOMMENTAR: Currentzis bei den Wiener Festwochen ausgeladen  klassik-begeistert.de, 12. Februar 2024

Will das internationale Publikum in Wien auf einen
Weltstar am Pult verzichten?

Milo Rau © Bea Borgers

Ein Kommentar von Herbert Hiess

Kommentare wie diesen zu schreiben ist nie angenehm und meistens zwingt einen geradezu ein zwiespältiger und beklemmender Anlass dazu.

War es im Dezember 2022 die Absage von Sergej Prokofievs „Alexander Nevsky“ durch den Haus- und Hobbychor eines Konzertveranstalters, hat dieses Mal der Festwochen-Intendant Milo Rau geradezu „den Vogel abgeschossen“.

Anlass an diesem Montag war die ursprünglich großartige Programmierung einerseits des Kaddish-Requiems „Babyn Jar“ unter der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv und andererseits Benjamin Brittens „War Requiem“ unter der Leitung von Teodor Currentzis, auf dessen Wiederkehr sich viele Musikbegeisterte sehr gefreut haben und folgendes veröffentlichte Statement von Milo Rau, der seit 1. Juli 2023 Intendant der Wiener Festwochen ist:

Musik und ihre politischen und moralischen Dimensionen spielen bei den Festwochen 2024 eine tragende Rolle. Festwochen-Intendant Milo Rau dazu: „Wir begrüßen die engagierten und auch kritischen Nachfragen, die die Ankündigung von zwei Konzerten, die sich mit Krieg und Völkermord ebenso auseinandersetzen wie mit Verständigung und Versöhnung, vorab ausgelöst haben: Kaddish Requiem „Babyn Jar“ unter der Leitung der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv gemeinsam mit dem Kyiv Symphony Orchestra und „War Requiem“ unter der Leitung des griechisch-russischen Dirigenten Teodor Currentzis mit dem SWR Symphonieorchester.“

Intendant Milo Rau: „Unsere Entscheidung, am Kaddish Requiem festzuhalten, ist eindeutig und wir freuen uns auf den Besuch von Oksana Lyniv und des Kyiv Symphony Orchestra in Wien. So sehr wir die spannungsvolle Gegenüberstellung der beiden Werke im Rahmen des Programms der Wiener Festwochen 2024, das bewusst politische und gesellschaftliche Frontstellungen in vielen künstlerischen Positionen befragt, begrüßt hätten: es war für die beteiligten ukrainischen Künstlerinnen letztlich nicht mehr realisierbar und wir respektieren Lynivs Wunsch, aktuell nicht in einen inhaltlichen Kontext mit Currentzis gestellt zu werden. Leider war dadurch unsere Entscheidung für die Absage des geplanten Konzerts unter dem Dirigat von Teodor Currentzis, den wir als Künstler sehr schätzen, alternativlos. Wir wünschen dem SWR Symphonieorchester und Teodor Currentzis auf der geplanten Tour mit dem „War Requiem“ durch Deutschland viel Erfolg. Die Diskussionsbeiträge der letzten Tage sehen wir als Beginn einer herausfordernden, aber notwendigen Debatte, die wir im Rahmen der Wiener Festwochen 2024 an vielen Punkten wie geplant weiterführen werden. Aber entscheidend sind letztlich nicht unsere kuratorischen Absichten, sondern dass sich alle Künstlerinnen mit ihren Arbeiten bei uns wohlfühlen.“

 Also, was kristallisiert sich da nach Ablassung der Krokodilstränen für den (normalen?) Konzertbesucher heraus?

Eine Dirigentin hat durch viel Diskutieren und Intrigieren (?) einen für sie unerreichbaren Konkurrenten eliminiert – und das mit kräftiger Mithilfe des neuen Intendanten. Und der Intendant hat das mit einem peinlichen Kniefall akzeptiert.

Man lese dazu das großartige Statement der SWR-Programmdirektorin Anke Mai:

„Gleichwohl habe ich Verständnis dafür, dass sich Oksana Lyniv und die Mitglieder des Kyiv Symphony Orchestra ein öffentliches Bekenntnis von Teodor Currentzis gegen den russischen Angriffskrieg gewünscht hätten. Mit Rücksicht auf die Konsequenzen, die ein solches Bekenntnis für Currentzis in Russland mit sich brächte, haben wir dies aber nie von ihm verlangt. Und mit den Aufführungen des „War Requiem“ von Benjamin Britten im Juni dieses Jahres senden das SWR Symphonieorchester und Teodor Currentzis eine Botschaft, die nicht missverstanden werden kann. Diese Botschaft hätten gerne alle Beteiligten auch nach Wien gebracht. Gleichwohl akzeptieren wir die Entscheidung der Wiener Festwochen und hoffen auf ein Wiedersehen in friedvolleren Zeiten.“

Also sollen sich nach der Meinung von Rau, Lyniv und anderen Veranstaltern Currentzis und Gergiev auf den Roten Platz stellen und Anti-Putin-Parolen skandieren? Beide haben Familien und Angehörige in Russland und sie und ihre Angehörigen würden Gefahr laufen, in Russland „Persona non grata“ zu werden.

Also anstatt vehementest zu versuchen, Lyniv und Currentzis gemeinsam an einen Diskussionstisch zu bringen, hat man sich für den bequemeren Weg entschieden, einfach Currentzis zu „entsorgen“. Diese Gelegenheit gerade anlässlich der beiden Programme mit tragischem Hintergrund genau zu dieser Zeit wird nie wieder kommen.

Herr Rau hat sich wahrscheinlich damit einen gewaltigen Bärendienst erwiesen;  man wird ihm immer wieder diesen Spiegel von 2024 vorhalten.

Ah ja – wenn man dann noch in einem Statement in Social Media liest, man solle sich „wohlfühlen“.  Wenn man „wohlfühlen“ als künstlerische Kategorie sieht, muss man sich fragen, ob man am richtigen Platz für einen Kulturveranstalter ist.

Alles andere als ein brillanter Einstieg…

Herbert Hiess, 12. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Benjamin Britten, War Requiem Philharmonie Berlin, 10. September 2021

Daniels Anti – Klassiker 39: Benjamin Britten – War Requiem (1962), klassik-begeistert.de

Exklusiv Interview: Oksana Lyniv, Generalmusikdirektorin im Teatro Comunale di Bologna klassik-begeistert.de

Richard Wagner, Der fliegende Holländer Bayreuther Festspiele, 14. August 2023

17 Gedanken zu „KOMMENTAR: Currentzis bei den Wiener Festwochen ausgeladen
klassik-begeistert.de, 12. Februar 2024“

  1. Dem Kommentar zum Rauswurf Currentzis’ kann ich nur voll zustimmen. Schamlos und zum Schaden des Rechtsstaates, dass wir uns in einer McCarthy-Situation wiederfinden. Davon abgesehen wird absichtlich ignoriert, dass Currentzis sich bereits vor dem Krieg, als wir noch tüchtig Geschäfte mit Putin machten, gegen letzteren wandte, indem er Oppositionelle wie Serebrennikov unterstützte. Von seinen Konzertprogrammen abgesehen, die eine deutliche Sprache gegen den Krieg sprechen, hat er viele ukrainische Musiker unterstützt. Die selbstgefällige und ignorante Hetze mancher Musikjournalisten etc. ist ekelhaft. Ich freue mich auf das War Requiem in Hamburg.

    Eugenie Sonntag

  2. Lieber Herbert,
    großartiger Kommentar, es gibt kaum etwas hinzuzufügen, außer dass mir die Lust gründlich vergangen ist, dieses Festival mit einem Opportunisten an der Spitze in absehbarer Zeit wieder zu besuchen.
    Unabhängig davon, dass mich das unkollegiale, verständnislose Verhalten von Frau Lyniv abstößt, ist sie leider auch als Dirigentin überschätzt. An Currentzis kommt sie bei weitem nicht ran. Armes Publikum, dass es nun auf den mit Abstand besseren Dirigenten verzichten muss.
    Liebe Grüße, Kirsten

  3. Richtig gesagt! Ein sehr guter Artikel! Was gegenwärtig Teodor Currentzis, Valery Gergiev, Justus Franz, Valentina Lisitsa, Prisca Zeisel, Igor Zelenski und andere erleben, haben im 20. Jahrhundert viele Künstler in der Sowjetunion unter Stalin und in den Vereinigten Staaten unter dem Einfluss von McCarthy erlebt. Frau Lynivs Erpressung ist sehr gefährlich – auch für sie, denn wer heute Verfolger ist, kann morgen zum Verfolgten werden, was tragisch wäre. Gilt die Meinungsfreiheit nur für „politisch korrekte“ Meinungen? Kann man das „Freiheit“ nennen? Verlangt man von allen Künstlern, die mit einem irgendwie „verdächtigen“ Land zu tun haben, dass sie sich von der Politik dieses Landes distanzieren?

    János Schuster

  4. Hmm, dann vertrete ich einmal eine Gegenposition. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie einen Tisch in einem Restaurant gebucht haben. Im Nachgang erfahren Sie, dass ohne Ihre Kenntnis der Restaurantbesitzer den Tisch neben Ihnen an einen Mieter des Nebenhauses von Ihnen vergeben hat, der sich unter anderem nicht eingemischt hat, als sein Vermieter einfach das Haus daneben rechtswidrig annektiert und Ihnen Ihre Wohnung weggenommen hat. Dann erfahren Sie auch noch, dass der Restaurantbesitzer ohne Ihr Wissen eine Pressemitteilung veröffentlich hat, in der den Abend als Abend der Aussöhnung zwischen Ihnen und dem Mieter des Nebenhauses deklariert hat (ohne Sie zu fragen). Wie fänden Sie das?

    Franz Gernhardt

    1. Der Vergleich hinkt ein wenig: Wenn Sie hinzufügen, dass der Mieter sich nicht eingemischt hat, WEIL: Im Haus des tyrannischen Vermieters noch 10 Parteien wohnen, die einen freundschaftlichen Bezug zum Mieter pflegen. Und diese 10 Parteien mit Repressalien zu rechnen haben, womöglich mit einem Rauswurf aus der Bude. Dann ändert sich die Sachlage immens.

      Jürgen Pathy

      1. Nö, für mich überhaupt nicht. Wenn die Wiener Festwochen ohne die Kenntnis von Lyniv Currentzis einladen und dann auch noch die Chuzpe haben, ohne Lyniv zu fragen, eine Art künstlerischen Diskurs zwischen Lyniv und Currentzis, also zwischen der Ukraine und Russland (dort hat Currentzis seinen Erstwohnstz) zu bewerben, dann hätte ich an Stelle von Frau Lyniv auch gesagt, habt Ihr sie eigentlich noch alle?

        Franz Gernhardt

        1. Lieber Herr Gernhardt,

          merci beaucoup, bitte recherchieren Sie noch n büschn weiter…
          das ist noch nicht ganz gediegen, was Sie schreiben.

          Herzlich

          Andreas Schmidt

        2. Man könnte ebenso Frau Lyniv wieder ausladen. Frei nach dem Motto: Wer nicht will, der hat wohl schon. Das wäre Mal ein mutiger Schritt. Immerhin sollten Entscheidungen im Kulturbetrieb vorrangig in puncto Qualität getroffen werden. Stattdessen lässt man sich überall weichkochen und hat die Hose voll gegen den Gendermainstream zu schwimmen. Political correctness und „auf Linie“ over all, lautet das Motto.

          Jürgen Pathy

  5. Ich glaube, es geht bei der Kritik und auch der Ausladung von Teodor Currentzis um ein viel tiefer greifendes Problem. Es geht auch nicht darum, dass sich Currentzis nicht vom russischen Überfall auf die Ukraine distanziert hat. Wenn Currentzis ein Wirtschaftsunternehmen wäre, wäre er schon längst auf der EU-Sanktionsliste gelandet, denn er lässt sich weiterhin von Putin und Putin-nahen Institutionen unterstützen und finanzieren. Das letzte Beispiel beschreibt der Musiker und Publizist Alexander Strauch hier sehr anschaulich: https://blogs.nmz.de/badblog/2024/02/06/teodor-currentzis-auftritt-bei-einem-eu-sanktionierten-militaerischen-endnutzer-dem-moscow-institute-of-physics-and-technology/

    Prof. Karl Rathgeber

  6. Es geht nicht um einen Protest auf dem Roten Platz, sondern darum, dass beide in ihrer Funktion Propagandisten dieses Verbrecher-Regimes wurden.
    Unwillkürlich denke ich da an das (unterschiedliche) Verhalten von Furtwängler und Toscanini!
    Was Frau Lyniv fehlt, ist die Eitelkeit des gokelhaften Griechen!!

    Bruno Mörixbauer

  7. Wer meint, Kunst sei unpolitisch, ist ein ignorantes Wesen.
    Ob Frau Lyniv erpresst, eine Intrige veranstaltet hat, ist eine Unterstellung, die Ihnen nicht gut zu Gesicht steht.
    Mit der Begründung „Man hat Familie“ in Putins Reich, deshalb dürfe man auch keine persönliche Stellungnahme zu dem mörderischen, verbrecherischen Krieg vom Künstler verlangen, ist eine Sichtweise, die ich nicht teile.
    Wer von Steuergeldern subventionierte Veranstaltungen bespielt, sollte auch der Staatsform Respekt zollen, die ihn/ihr dieses Leben ermöglicht.
    Zeiten wie diese erfordern Courage und deutliche Zeichen gegen Despoten, Täter und für die Opfer dieser Politik, die auch durch wegschauen und stillhalten geopfert werden!

    Harald Breuer

  8. Danke, Herr Hiess, für diese spannende und fundierte Analyse und ich schließe mich auch den Kommentaren von Herrn Schuster und Herrn Stazol an. Currentzis ist ein großartiger Künstler, der seit seiner Kindheit nur für seine Kunst lebt. Er berührt einen damit zutiefst und schafft Frieden und Freude, das dürfte ich bereits zweimal erleben. Juristisch gesehen ist Currentzis’ Schweigen (zum russischen Angriffskrieg) KEINE Zustimmung. Lernt man in Jura im 1. Semester! Und wir sollten als Rechtsstaat nach dem Recht gehen. Currentzis stimmt keinem Verbrechen zu und lässt sich nicht für politische Propaganda instrumentalisieren. Mir kommt das Ganze (ebenfalls) eher als Intrige vor, den besseren Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Zumal das gewählte Stück für sich spricht…

    Andrea Emslander

    1. Darf ich, werte Frau Emslander, nochmal daran erinnern, dass es nicht um Currentzis’ Schweigen zum russischen Überfall auf die Ukraine geht. Aus diesem angeblichen Faktum werden dann herrliche Legenden gestrickt (s.o.). Es geht darum, dass er und seine Ensembles sich weiterhin von Putin und Putin-nahen Institutionen finanzieren und hofieren lassen.

      Prof. Karl Rathgeber

      1. Sehr geehrte Herr Prof. Rathgeber,

        Das stimmt. Eines lässt sich vom anderen aber anscheinend nicht trennen. Er schweigt eben, weil die Musiker zum Großteil in Russland leben. Der Sitz des Orchesters in St. Petersburg ist. Sonst wäre die Finanzierung wohl gefährdet.

        Vielleicht wäre es ein Leichtes, das Orchester ins Ausland zu verlegen. Dort gleich potente Financiers zu finden. Wer kann das schon beurteilen. Könnte sein.

        Dann ist allerdings das Faktum „Heimatverbundenheit“ nicht ganz außer Acht zu lassen. Dort haben sie in langjähriger Schwerstarbeit, mit viel Schweiß und natürlich Unterstützung russischer Financiers erst ihre Basis gelegt. Es ist von außen betrachtet vielleicht alles so einfach. Wechselt man aber die Perspektive, ist das alles nicht mehr soooo leicht.

        Jürgen Pathy

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert