2.1 Migration – kein neues Phänomen: Wanderungsbewegungen vor 1945

2.1.1 Die lange Tradition von Migration

Migration ist so alt wie die Menschheit, denn Wanderungen von Individuen oder Gruppen einer Gesellschaft hat es zu allen Zeiten gegeben. Doch diese Feststellung ist ebenso „richtig wie nichtssagend“,Footnote 1 denn sie sagt nichts über die historisch unterschiedlichen Migrationsmotive, -ziele und -bedingungen. Am Beginn der Menschheitsgeschichte standen die nomadisierenden Jäger und Sammler der Altsteinzeit, beim Übergang von der Antike zum Mittelalter etwa die „Völkerwanderungen“ germanischer Stämme. Auch die Nationalstaaten der Neuzeit mit ihren rechtlich definierten Territorien und Einwohnern, die sich einer Nation zugehörig fühlen und/oder dieser zugerechnet werden, erlebten stets Aus- und Einwanderung, wobei sich deren Umfang und Gewicht verändern mochte. Das Deutsche Reich war bis etwa 1890 vor allem ein Emigrationsland, danach auch Transitland für Migrant(inn)en aus Ost- und Südosteuropa auf ihrem Weg nach Übersee.Footnote 2 Im Gefolge der im Falle Deutschlands „verspäteten“ Kolonialgeschichte kam es zu vielfältigen Berührungen mit außereuropäischen Kulturen, was auch in der Literatur und in Kinder- und Jugendbüchern seinen Niederschlag fand.Footnote 3 Mit der Industrialisierung entwickelte sich Deutschland zunehmend zum Einwanderungsland. So arbeiteten zu Beginn des Ersten Weltkriegs etwa 1,2 Mio. Ausländer(innen) im Reichsgebiet. Zahlenmäßig bedeutsame Gruppen waren Polen und Ruthenen (Ukrainer), die mehrheitlich in der Landwirtschaft Beschäftigung fanden, sowie im Bergbau tätige Polen („Ruhrpolen“) zumeist preußisch-deutscher Staatsangehörigkeit, aber polnischer Nationalkultur.Footnote 4 Trotz einiger Bedenken vor einer „Verdrängung“ einheimischer Arbeitskräfte durch polnische Landarbeiter (Max Weber), die von nationalistischen Kräften bereitwillig aufgenommen und in Parolen von „volkstumspolitischen Gefahren“ und einer „Furcht vor Überfremdung“ umformuliert wurden, waren die ausländischen Arbeitskräfte als konjunkturelles Ausgleichsinstrument und zur Ausführung unbeliebter und schlecht bezahlter Tätigkeiten geschätzt.Footnote 5 Auch während der Weimarer Republik gab es ausländische Arbeitskräfte, wenngleich deren Zahl nie die Grenze von 240.000 überschritt.

2.1.2 Migration in der Zeit des Nationalsozialismus

Migration in der Zeit des Nationalsozialismus ist vor allem durch zwei Prozesse gekennzeichnet: durch Emigration und Flucht aus Deutschland und den „Ausländer-Einsatz“ in der deutschen Kriegswirtschaft.Footnote 6 Viele der vom nationalsozialistischen Regime definierten „Feinde der Volksgemeinschaft“ sahen sich – soweit es ihnen möglich war – zur Emigration aus Deutschland sowie den „angegliederten“ und im Verlauf des Krieges eroberten Gebieten gezwungen. Nach Schätzungen gingen etwa 300.000 Juden aus Deutschland, 450.000 bis 600.000 deutschsprachige Juden aus Mitteleuropa sowie eine große Zahl nicht-jüdischer deutscher Intellektueller außer Landes. Die Ausländerbeschäftigung, vor Kriegsbeginn quantitativ noch in engen Grenzen,Footnote 7 nahm mit dem Krieg enorme Ausmaße an. Während sich die Zahl der deutschen Beschäftigten im Verlauf des Krieges um mehr als 10 Mio. verringerte, wuchs die Zahl der ausländischen um fast 7 Mio.Footnote 8 Zu Beginn des letzten Kriegsjahres waren ein Viertel aller Beschäftigten in der deutschen Wirtschaft Ausländer, im August 1944 in der Landwirtschaft jeder zweite, im Bergbau, Bau- und Metallbereich etwa jeder dritte.

Ohne auf die Diskussion der Frage näher einzugehen, ob „der Einsatz von Zwangsarbeitern fremder Nationalität in der deutschen Kriegswirtschaft bereits vor Kriegsbeginn geplant und vorbereitet worden“ war und „keineswegs allein auf die Dauer des Krieges beschränkt bleiben“Footnote 9 sollte oder ob entsprechende Überlegungen nicht das Ergebnis langfristiger und zielorientierter Planungen waren und im Verlauf des Krieges mehrfachen Veränderungen unterlagen,Footnote 10 ist in Bezug auf die Praxis der Zwangsarbeit mit Ulrich Herbert eine außerordentlich große Bandbreite der Verhältnisse zu konstatieren. Es galt eine „Hierarchie des Rassismus“,Footnote 11 nach der Zivilarbeiter(innen) aus westlichen vor denen aus südosteuropäischen Ländern rangierten, darunter die Polen vor den Zivilarbeiter(inne)n und Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion. Überlange Arbeitszeiten, schlechte Ernährung, Bezahlung, Unterkunft und Kleidung, mangelnde ärztliche Behandlung, Diffamierungen, Misshandlungen sind insbesondere für die Situation der sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilarbeiter(innen) kennzeichnend gewesen.Footnote 12 Während des letzten Kriegsjahres wurden auch KZ-Häftlinge vermehrt in der Rüstungsindustrie beschäftigt, die – wie die jüdischen Zwangsarbeiter(innen) – noch unterhalb der rassistischen Stufenleiter rangierten. Mit der völligen Vernichtung des deutschen Judentums verschwand dessen Zwangsarbeit in Deutschland. Auch hinsichtlich der osteuropäischen Juden setzte sich der Primat der Vernichtung gegenüber dem Primat des Arbeitseinsatzes durch, zumindest bis zur letzten Kriegsphase, als der Zustrom ausländischer Zivilarbeiter(innen) und Kriegsgefangener nahezu versiegte.Footnote 13

Insgesamt bleibt festzuhalten: Bereits in den ersten Kriegsjahren war mehr als jede achte Arbeitskraft in der Landwirtschaft, in der Industrie fast jede zehnte fremder Nationalität und um die Jahreswende 1941/1942 verschärfte sich das Arbeitskräfteproblem bei zunehmenden Verlusten der Armee rapide, was Ulrich Herbert zu der Schlussfolgerung führt, der Krieg wäre für Deutschland ohne Ausländer spätestens im Frühjahr 1942 verloren gewesen.Footnote 14 Der Ausländereinsatz habe es dem Regime dagegen erlaubt, die Versorgungslage der deutschen Bevölkerung bis in die letzte Kriegsphase auf hohem Niveau zu halten, was auch für deren Loyalität gegenüber dem Regime von entscheidender Bedeutung gewesen sei. Zudem hätten die ausländischen Arbeiter(innen) zu dem Wachstums- und Modernisierungsschub beigetragen, den die deutsche Wirtschaft in den Jahren der Rüstungs- und Kriegskonjunktur erlebt und der auch eine Grundlage für die enorme wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in der späteren Bundesrepublik dargestellt habe.

Hier stellt sich die Frage nach dem Nachweis von Bruch bzw. Kontinuität der nationalsozialistischen Zwangsarbeiterpolitik im Kontext der Entwicklungen vor 1933 und nach 1945. Historiker westlicher Provenienz sehen zumeist Kontinuitätselemente und Brüche zugleich, während DDR-Historiker betonten, die Ausländerbeschäftigung im Kaiserreich, in Weimar, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik müsse in einem fortlaufenden Zusammenhang gesehen werden.Footnote 15 Wenn die Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik in unmittelbarer Kontinuität zur „Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus“ und dem „Ausländereinsatz“ im Zweiten Weltkrieg dargestellt wird, erscheinen Unterschiede nur gradueller, nicht prinzipieller Art, die rassistischen Traditionen inhärent und somit wiederholbar. Andererseits: Wenn der Ausländereinsatz im Nationalsozialismus ein einzigartiges Sonderproblem, eine gegen Vergangenheit und Zukunft hin abgegrenzte Ausnahme ohne erkennbare Kontinuität in der deutschen Geschichte darstellt, dann ginge es darum, die deutsche Ausländerpolitik vor „ihrer Denunziation durch den Nationalsozialismus zu bewahren.“Footnote 16

Ulrich Herbert ist zuzustimmen, wenn er die Alternative „Kontinuität oder historischer Bruch“ als falsche Fragestellung wertet, denn dieses Bild gehe von einem in sich geschlossenen System der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus aus. Der „Fremdarbeitereinsatz“ von 1940 unterscheide sich von dem des Jahres 1944 jedoch gravierend, nicht allein von der Größenordnung her, sondern auch hinsichtlich der dahinterstehenden politischen Zielsetzung, der ideologischen Rechtfertigung, der ökonomischen Effektivität, der Situation der betroffenen ausländischen Arbeiter und der Methoden ihrer Behandlung. „Die klassischen Kategorien der Ausländerbeschäftigung wie Konjunkturpuffer, Unterschichtung, Teilung des Arbeitsmarktes etc. hier als Kontinuitätsbelege heranzuziehen hieße, den Unterschied zwischen der Lage eines sowjetischen Gefangenen im Bergbau, der dem Tode näher war als dem Leben, und der eines spanischen Gastarbeiters der 60er Jahre zu einer zu vernachlässigenden Differenz in den Erscheinungsformen des in beiden Fällen identischen zugrundeliegenden Prinzips herabzuwürdigen.“Footnote 17 Elemente der Kontinuität zur Ausländerbeschäftigung vor 1933 seien zweifellos vorhanden und das Zwangsarbeitersystem des Nationalsozialismus sei in der Tat aus dem System der Saisonarbeiter vor dem Krieg hervorgegangen, es sei gleichwohl keine notwendige und zwangsläufige Entwicklung vorhandener Traditionen.

Den Ansatz einer anderen Form der Kontinuität sieht Ulrich Herbert in der Praktizierung des Rassismus als tägliche Gewohnheit, als Alltag: Das Fehlen eines notwendigen Schuldbewusstseins gegenüber den ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen in der Nachkriegszeit habe sowohl in der Bundesrepublik wie in der DDR seine Grundlage in der fehlenden Einsicht in den Charakter des Unrechts und Verbrechens gehabt.Footnote 18 Dies wurde nicht zuletzt auch dadurch gefördert, dass die Frage einer Entschädigung von Zwangsarbeitern – so legte es das Londoner Schuldenabkommen von 1953 fest – erst in einem späteren Friedensvertrag geregelt werden sollte, der jedoch niemals zustande gekommen ist. Mehr als 50 Jahre hat es gedauert, bis die Bundesregierung auf gesetzlichem Weg immerhin einen EntschädigungsfondsFootnote 19 einrichtete, aus dem nur noch wenige Überlebende Zahlungen erhalten haben bzw. werden.

2.2 „Displaced Persons“ und die Eingliederung von Flüchtlingen, Vertriebenen und Aussiedler(inne)n in der unmittelbaren Nachkriegszeit

Nach Kriegsende gab es zwischen 10,5 und 11,7 Mio. Menschen, die sich nicht in ihrer Heimat befanden, Personen aus rund 20 Nationen mit über 35 unterschiedlichen Sprachen, die ohne alliierte Unterstützung nicht heimkehren oder eine neue Heimat finden konnten.Footnote 20 Die gewaltige Bevölkerungsbewegung umfasste nicht allein die Rückkehr von Millionen Zwangsarbeiter(inne)n in ihre Heimatländer, sondern auch die von Flüchtlingen und Vertriebenen.Footnote 21 Ursachen und Ursprünge der enormen Wanderungsbewegungen liegen in der Zeit des Nationalsozialismus, wo allein in den Umsiedlungs-, Emigrations- und Vertreibungswellen in der Anfangsphase des Zweiten Weltkrieges über 9 Mio. Menschen rück- oder umgesiedelt, vertrieben, „eingedeutscht“, „umgevolkt“ oder verschleppt wurden.Footnote 22 Die Versorgung und Repatriierung der Displaced Persons (DPs) erforderte gewaltige Organisationsaufgaben durch die Alliierten. Rund 5,2 Mio. Menschen wurden allein von Anfang Mai bis Ende September 1945 aus Deutschland und Westeuropa in ihre Herkunftsländer zurückgeführt, was einer Tagesrate von mehr als 33.000 Personen entspricht. Nach der Gründung der Bundesrepublik legten die Alliierten die Zuständigkeit für die DPs 1950 in deutsche Hand, aus den verbliebenen DPs wurden „Heimatlose Ausländer“.

Als seit der Währungsreform von 1948 der wirtschaftliche Aufschwung in den drei Westzonen begann, zeigte sich sehr bald, dass Westdeutschland über zentrale Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Genesung verfügte. Es gab das entsprechende Kapital – auch durch amerikanische Auslandshilfe im Zuge des Marshallplanes bereitgestellt – und eine ausreichende Zahl von Arbeitskräften, denn die Rückkehr der Millionen „Fremdarbeiter“ und Kriegsgefangenen wurde auf dem Arbeitsmarkt durch Flüchtlinge und Vertriebene volkswirtschaftlich gesehen weitgehend ausgefüllt.Footnote 23 Diese Gruppen machten 1960 mit über 13 Mio. immerhin ein Viertel der Gesamtbevölkerung der BRD aus. Das enorme Wirtschaftswachstum jener Jahre sorgte dafür, dass die Zugewanderten vom Arbeitsmarkt absorbiert wurden. Wenngleich die Eingliederung dieser sozial recht heterogenen Bevölkerungsgruppe trotz staatlicher Finanzhilfen aus dem Lastenausgleichsfonds nicht immer problemlos und konfliktfrei vor sich ging, war ihre Arbeitskraft doch eine der Voraussetzungen für den langandauernden ökonomischen Aufschwung der Bundesrepublik. Zugespitzt formuliert: Ohne das zusätzliche Arbeitspotenzial der Flüchtlinge und Vertriebenen wäre bereits in den fünfziger Jahren ein erheblicher Mangel an Arbeitskräften entstanden und das bundesrepublikanische „Wirtschaftswunder“ schwerlich möglich gewesen, ohne das „Wirtschaftswunder“ wäre aber auch die Integration dieser Zuwanderer erheblich erschwert worden.Footnote 24 Die Vertriebenenverbände nahmen den Charakter von Einwanderungsverbänden an, die der Bewahrung des Zusammenhalts im Einwanderungsmilieu dienten und der Verunsicherung und dem Fremdheitsgefühl in der neuen Umgebung entgegenwirken sollten. Im Unterschied zu ausländischen Arbeitskräften handelte es sich bei den Flüchtlingen und Vertriebenen um Personen deutscher Sprache und Nationalität, die keine Verständigungsschwierigkeiten hatten oder ausländerrechtliche Probleme aufwarfen. Sie bildeten zudem eine sozial heterogene Gruppe, die über das Wahlrecht verfügte und nicht zuletzt deshalb als politisch ernstzunehmender Faktor von und in den politischen Parteien und Institutionen wahrgenommen wurde.Footnote 25

2.3 Arbeitsmigration in der frühen Bundesrepublik – die „Gastarbeiterperiode“ bis zum Anwerbestopp (1955–1973)

2.3.1 Die Anwerbung von „Gastarbeiter(inne)n“

Das enorme Wirtschaftswachstum in der Anfangsphase der Bundesrepublik ließ die anfänglich recht hohen Arbeitslosenzahlen sinken, insbesondere in der Landwirtschaft war bei weiter erwartetem Wirtschaftswachstum mit zumindest regionalem Arbeitskräftemangel zu rechnen, zumal die Landflucht weiterhin anhielt.Footnote 26 So wurde trotz aller Bedenken vor allem von Seiten der SPD und der Gewerkschaften am 22. Dezember 1955 in Rom das deutsch-italienische Anwerbeabkommen geschlossen, das ein Muster für alle später folgenden entsprechenden Vereinbarungen mit anderen Ländern bildete: Italienische Arbeitskräfte sollten von der Bundesanstalt für Arbeit in Zusammenarbeit mit den italienischen Behörden auf der Grundlage der Anforderungen deutscher Betriebe ausgewählt und angeworben werden. Ein Musterarbeitsvertrag, in den auch Vorstellungen der deutschen Gewerkschaften Eingang gefunden hatten, sollte die grundsätzliche sozialpolitische Gleichstellung der ausländischen Arbeiter(innen) mit deutschen Arbeitskräften, die Bezahlung nach Tarif, die Vertragsdauer sowie eine „angemessene Unterkunft“Footnote 27 sicherstellen. Allgemein schien unstrittig, dass es sich nur um eine kurzfristige und vorübergehende Maßnahme handele, zu der es politisch und ökonomisch gesehen keine sinnvolle Alternative gebe, wolle man weiterhin Wirtschaftswachstum. Der wirtschaftsnahe Industriekurier Footnote 28 entwickelte im Oktober 1955 eine Argumentation, die in den Folgejahren in unterschiedlichen Formulierungen immer wieder zur Begründung der Notwendigkeit der Ausländerbeschäftigung vorgetragen wurde:

  • die innerdeutschen Arbeitskraftreserven seien vor allem regional gesehen begrenzt;

  • dies könne, auch infolge der Grenzen auf dem Kapitalmarkt, nicht mittels Rationalisierung kurzfristig ausgeglichen werden;

  • eine stärkere Beschäftigung deutscher Frauen sei möglich, aber „familienpolitisch“ unerwünscht;

  • ein Ausgleich durch eine Erhöhung der Arbeitszeit für deutsche Arbeitnehmer stoße auf den Widerstand der Gewerkschaften und widerspräche deren Kampf um die Vierzig-Stunden-Woche und um eine Reduzierung des „Überstundenunwesens“.

In der politischen und medialen Argumentation zur Begründung der Notwendigkeit der Ausländerbeschäftigung waren Parallelen zu Debatten nach dem Ersten Weltkrieg auffällig: mobile Arbeitskräfte zum Ausgleich von Konjunkturverläufen, Verfügung über Arbeiter „in den besten Jahren“, geringe Folgekosten bei gleichzeitiger Lohndämpfung im unteren Lohnbereich. Erinnerungen an die Traditionen der Ausländerbeschäftigung in Deutschland gab es in der öffentlichen Debatte aber kaum.Footnote 29

Nach dem Mauerbau des Jahres 1961 versiegte der Zustrom von Flüchtlingen aus der DDRFootnote 30 und da die Zahl der deutschen Erwerbstätigen seit 1962 allmählich sank (geburtenschwache Kriegsjahrgänge, Verlängerung der Ausbildungszeiten, Absenkung des Rentenalters, Verkürzung der Wochenarbeitszeit) wurde die Nachfrage nach Ausländer(inne)n als „Flexibilitätsreserve“ immer dringlicher, der „Kampf um den Arbeiter“ – so der Spiegel im Sommer 1959 – immer schwieriger. Weitere Anwerbeverträge mit Griechenland und Spanien (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) wurden geschlossen. Großangelegte Werbekampagnen in den Anwerbeländern luden junge, kräftige und gesunde Arbeitskräfte ein, sich der deutschen Wirtschaft zur Verfügung zu stellen. Bei dem großen Angebot an Arbeiter(inne)n konnten die Kommissionen, die im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeit in den Anwerbeländern tätig waren, selektieren. Unternehmen konnten sich darüber hinaus ohne Inanspruchnahme der Vermittlungsstellen der Bundesanstalt selbst Arbeitskräfte beschaffen, indem sie beim zuständigen Konsulat die Erteilung von Sichtvermerken für die betreffenden Personen beantragten. Zudem gab es bereits illegale Vermittlungen und die Tätigkeit von Schleuserorganisationen.Footnote 31

Eine öffentliche Debatte über die Frage, ob, wie und in welchem Umfang man ausländische Arbeitskräfte in die Bundesrepublik holen solle, fand auch in den frühen 1960er-Jahren nicht statt. Die Perspektive Wirtschaftswachstum schien allen Beteiligten zu selbstverständlich und unumstritten, dabei galt auch als unbestreitbar, dass dazu weitere Arbeitskräfte in großer Zahl nötig waren. Mögliche Folgeprobleme wurden nicht bedacht, was schon die allgemein übliche, wenngleich nicht-amtliche Bezeichnung „Gastarbeiter“ deutlich macht, denn Gäste sind Menschen, die nicht auf Dauer bleiben.Footnote 32 Öffentlich wurde als Vorteil betont, dass die ausländischen Arbeiter bei eventueller Arbeitslosigkeit in Deutschland wieder in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden können.Footnote 33 Die Bundesregierung begrüßte, dass die hohe Sparquote der ausländischen Arbeiterschaft die inländische Konsumgüternachfrage dämpfe und die Verbraucherpreise stabilisiere, und betonte zugleich positive Wirkungen für die Entsendeländer, da hier die Arbeitslosenzahlen gesenkt, die Qualifikationsstruktur der Arbeiterschaft erhöht und die Zahlungsbilanzen durch Lohntransfers verbessert würden. Arbeitsminister Blank lobte 1964 gar euphorisch, durch die Ausländerbeschäftigung sei „die Verschmelzung Europas und die Annäherung von Menschen verschiedenster Herkunft und Gesittung in Freundschaft eine Realität“Footnote 34 geworden.

Das Ausländerrecht billigte ausländischen Arbeitnehmer(inne)n nur einen vorübergehenden Aufenthalt zu. War in den Abkommen mit Italien, Spanien, Griechenland und Portugal in einem Artikel auf die Möglichkeit eines Familiennachzugs hingewiesen worden, so fehlte dieser Passus ausdrücklich in den Vereinbarungen mit Jugoslawien, Tunesien, Marokko und der Türkei, zumal – nach Auffassung des deutschen Innenministeriums – zwischen der deutschen und türkischen Regierung Einverständnis darüber bestehe, dass durch derartige Abkommen nicht die „Einwanderung“ türkischer Arbeitnehmer(innen) in die Bundesrepublik Deutschland gefördert oder erleichtert werden solle.Footnote 35 Die ausländischen Arbeitskräfte verfolgten ebenfalls primär das Ziel, innerhalb kürzester Zeit möglichst viel Geld nach Haus zu schicken. Da sich die zunächst vorgesehene ständige Rotation der „Gastarbeiter“ für die Wirtschaft sehr bald als kostspielig und unpraktisch erwies, wurde die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände noch im September 1962 im Bundesarbeitsministerium vorstellig und erreichte, dass die Aufenthaltsbeschränkung auf zwei Jahre in der Neufassung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, die am 30. September 1964 in Kraft trat, ersatzlos entfiel. Auf diese Weise hat die deutsche Wirtschaft den entscheidenden Schritt zur Niederlassungsmöglichkeit und De-facto-Einwanderung türkischer Arbeitsmigrant(inn)en und durchgesetzt.Footnote 36 Gleichwohl blieb die Rückkehr in die Heimat lange Zeit vorherrschendes Prinzip, wenngleich eine genaue Ermittlung der Größenordnung schwierig erscheint. Mathilde Jamin nimmt an, dass etwa die Hälfte der zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen 1960 und 1983 in der Bundesrepublik lebenden Menschen türkischer Herkunft bis 1984 wieder zurückkehrte.Footnote 37

Die sozialen Probleme der ausländischen Arbeitnehmer(innen) in Deutschland waren vielfältig. Sie arbeiteten vorwiegend als un- oder angelernte Arbeiter(innen) in der Industrie, vorwiegend in solchen Bereichen, in denen Produktionsformen mit niedrigen Qualifikationsanforderungen häufig waren.Footnote 38 Sie waren bereit, Überstunden zu machen, auch schmutzige Arbeit zu akzeptieren und auf höheren Lebensstandard und ausgiebigen Konsum zu verzichten. Hinzu kamen die lange – im Falle der Türkei oft mehrtägige – An- und Heimreise, die lange Trennung von Familie und Heimat, häufig der Zwang zum Konsumverzicht, um die Angehörigen zu Hause zu unterstützen, und die teilweise Unterbringung auf dem Firmengelände in einer oft kasernen- oder gar lagerartigen Ghettosituation. Zwar forderten die Anwerbevereinbarungen „angemessene Unterkünfte“, doch war nichts über den entsprechenden Standard ausgeführt. Noch 1962 wohnten etwa zwei Drittel der neuangeworbenen Arbeitskräfte in Gemeinschaftsunterkünften, und im Jahr 1968 machte diese Wohnform bei den ledigen bzw. ohne Familien zugewanderten Männern noch über 50 % aus.Footnote 39

Der Alltag in den Unterkünften war häufig bestimmt von Einzäunung und Absperrung durch Schranken, dem Verlust von Privatsphäre, der Trennung der Geschlechter, dem Mangel an Sexualität, restriktiven Besucherregelungen, häufiger Monotonie und Langeweile. Dabei dienten der „Gastarbeiter-Status“ und die Orientierung am vermeintlich nur provisorischen Aufenthalt der Arbeitsmigrant(inn)en vielfach als Rechtfertigung für die Form der Unterbringung. Trotz aller Bemühungen blieb die Wohnsituation bis in die späten 1970er-Jahre ein Zeichen der sozialen Diskriminierung der ausländischen Arbeitskräfte,Footnote 40 die – wie Mathilde Jamin zusammenfassend feststellt – „teils Einwanderer auf Probe, vielfach aber Einwanderer wider Willen in einem Einwanderungsland wider Willen“Footnote 41 waren. Die Migrant(inn)en stellten in den 1960er-Jahren „ein Subproletariat vorwiegend schlecht qualifizierter Hilfsarbeiter“Footnote 42 dar, das fehlende deutsche Arbeitskräfte in diesen Bereichen ersetzte und diesen vermehrt den Aufstieg in besser bezahlte Positionen mit höheren Qualifikationsanforderungen ermöglichte. Klaus J. Bade sieht entsprechend darin eine „Unterschichtung der deutschen durch eine ausländische Arbeiterschaft“,Footnote 43 die Pufferfunktionen im wirtschaftlichen Wechsel von Aufschwung und Krise übernahm, was in der wirtschaftlichen Krise der Jahre 1966/1967 und der „Ölkrise“ von 1973 besonders augenfällig wurde.

2.3.2 Die Rezession 1966/1967

Der Konjunktureinbruch der Jahre 1966/1967 führte zu erhöhter Arbeitslosigkeit und einer sich rasch verschärfenden Haushaltskrise. Hatte die jährliche Wachstumsrate der Wirtschaft im Jahr 1960 9 %, 1965 noch 5,7 % betragen, so sank das Bruttosozialprodukt im Jahr 1967 um 0,2 %, die Arbeitslosenquote stieg von 0,7 % (1966) auf 2,2 % (1967). Nach dem Rücktritt Ludwig Erhards im November 1966 kam es zur Bildung einer Großen Koalition unter dem neuen Kanzler Kurt Georg Kiesinger und in der Folgezeit zur Bildung einer Außerparlamentarischen Opposition wie zu einem Erstarken der politischen Rechten, was sich im Zulauf zur neu gegründeten NPD zeigte. Zwischen 1961 und 1966 war die Gesamtzahl der ausländischen Beschäftigten auf 1,31 Mio. gestiegen, die wichtigsten Entsendeländer waren Italien und Jugoslawien vor Griechenland und Spanien, während die Türkei 1966 bei der Größe der Kontingente noch auf dem vorletzten Platz rangierte. Wegen der gestiegenen Arbeitslosenquote geriet die Frage der Beschäftigung von „Gastarbeiter(inne)n“ in neue öffentliche Diskussionen, wobei das Thema weiterhin vorwiegend als wirtschaftliches Problem gesehen wurde: Gefragt wurde etwa, ob infolge der Ausländerbeschäftigung nicht unnötig unproduktive Arbeitsplätze erhalten blieben, ob nicht bei längerer Beschäftigung deren positive Effekte durch erforderliche öffentliche Investitionen aufgezehrt würden und ob der damit verbundene berufliche Aufstieg deutscher Arbeitskräfte kurzfristig wieder zurückgenommen werden könne. Soziale Aspekte oder die Wirkungen auf die Entsendeländer spielten ebenso wenig eine Rolle wie Überlegungen zu langfristigen politischen Folgen für das anwerbende Land.

In der Bevölkerung verloren die Argumente zum ökonomischen Nutzen der „Gastarbeiter(innen)“ an Überzeugungskraft und es mehrten sich die kritischen Stimmen mit feindlichem Ton.Footnote 44 Der rasche Aufschwung der NPD, die zwischen 1966 und 1968 in sieben Landtage einziehen konnte, war nicht zuletzt der verbreiteten Zustimmung zu Parolen gegen die Ausländerbeschäftigung zu verdanken, und bei konservativen Politikern und Medienvertretern wuchs die Neigung, mit Kritik an „Gastarbeiter(inne)n“ und der Ausländerbeschäftigung entsprechende Stimmungen für sich zu nutzen. Vielfach wurde der unbedingte Vorrang deutscher Arbeitskräfte gefordert und gegen eine angebliche Bevorzugung von Ausländer(inne)n polemisiert. Gleichwohl sollte diese Kritik von den rassistischen Diskursen der späten 1970er- und 1980er-Jahre unterschieden werden, schon deshalb, weil in der Öffentlichkeit nach wie vor die Auffassung vorherrschte, die Ausländer(innen) würden ohnehin nach einigen Jahren in ihre Heimat zurückkehren. Wenngleich die Tendenz zu vermehrtem Daueraufenthalt bereits an amtlichen Statistiken abzulesen war, hatte sich dies noch nicht im öffentlichen Meinungsbild durchgesetzt.

2.3.3 Der Anwerbestopp 1973

Die Rezession von 1967/1968 und die damit verbundene Arbeitslosigkeit konnte mit Hilfe einer antizyklischen Konjunkturpolitik unter dem Wirtschaftsminister Karl Schiller, dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz und einer „Konzertierten Aktion“ von Regierung und Tarifparteien erstaunlich rasch überwunden werden.Footnote 45 Die wirtschaftliche Krise schien bewältigt, das Vertrauen der Bürger in die Steuerung des Wirtschaftsprozesses durch das politische System gewachsen, was sich unter anderem auch im Niedergang der NPD ausdrückte, die 1969 noch 4,3 %, 1972 aber nur mehr 0,6 % der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl erhielt. Mit dem Anwachsen der Zahl der offenen Stellen wuchs wiederum die Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften, begleitet von Pressestimmen, die erneut die wirtschaftlich positiven Wirkungen der Ausländerbeschäftigung für Wirtschaft und Staat hervorhoben.Footnote 46 Die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer(innen) stieg von 1,014 (1968) auf 2,595 Mio. (1973), das heißt, es fanden in diesem Zeitraum mehr ausländische Arbeitskräfte zusätzlich Beschäftigung als in der Zeit bis 1968 insgesamt. Dabei wuchs die Zahl der Arbeitnehmer türkischer Herkunft auf mehr als 600.000 (1973) an, sie stellten nunmehr die größte nationale Gruppe ausländischer Beschäftigter. Zugleich nahm die Aufenthaltsdauer der „Gastarbeiter“ stetig zu und es wuchs die Tendenz zum Nachholen der Familie. Mit der 1971 in Kraft getretenen Arbeitserlaubnisverordnung wurde Ausländer(inne)n, die länger als fünf Jahre in der Bundesrepublik beschäftigt waren, unabhängig von den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, eine auf fünf Jahre begrenzte „befristete Arbeitserlaubnis“ erteilt. So entfiel nicht nur für etwa 500.000 Italiener(innen) als Bürger eines EG-Mitgliedsstaates das Instrument einer kurzfristigen Nichterteilung einer Arbeitserlaubnis, sondern auch für 400.000 Angehörige von Nicht-EG-Mitgliedsstaaten, so dass nahezu 40 % der „Gastarbeiter(innen)“ nicht mehr als „kurzfristige Konjunkturpuffer“ anzusehen waren. Forderungen nach einem Wiederaufleben des „Rotationsprinzips“ verstummten schnell, in Regierungskreisen wurden jedoch Argumente gegen die längerfristige Ausländerbeschäftigung laut. Nachdem die Maßnahme, die Gebühr für die Vermittlung von Arbeitnehmer(inne)n aus Nicht-EG-Ländern von 300,- auf 1.000,- DM zu erhöhen, wenig erfolgreich war, sollte schließlich ein genereller „Anwerbestopp“ den Zustrom ausländischer Arbeitnehmer(innen) völlig unterbinden.

Der Anwerbestopp wurde vielfach als verständliche Reaktion auf den „Ölpreisschock“ des Jahres 1973 dargestellt. Der aber war, wie Ulrich Herbert zutreffend feststellt, „nicht mehr als ein verstärkendes Moment und zudem ein günstiger Anlass, den Zustrom ausländischer Arbeiter ohne große Widerstände von Seiten der Entsendeländer und ohne langwierige Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit über die sozialen Folgen dieser Maßnahme einzudämmen und die Zahl der Ausländer zu senken.“Footnote 47 Die bislang stark ökonomische Ausrichtung des Migrationsdiskurses zu Kosten und Nutzen der Ausländerbeschäftigung bereitete die spätere „standortnationalistische“ Unterscheidung von „guten“ und „schlechten“ Zuwanderer(inne)n vor: Als „gute“ Zuwanderer und Zuwanderinnen erscheinen diejenigen, die zur Sicherung „unseres“ Wohlstandes beitragen, als „schlechte“ diejenigen, die Kosten verursachen und „unsere“ Ressourcen verbrauchen.Footnote 48

2.4 Vom Anwerbestopp zur Wiedervereinigung (1973–1990)

2.4.1 Die Wirkungen des Anwerbestopps

Regierung und Tarifparteien glaubten, mit dem Anwerbestopp vom November 1973 würde das Thema der Ausländerbeschäftigung zunehmend an Bedeutung verlieren, denn in Prolongierung der damaligen Rückkehrerzahlen und der Geburtenrate in Familien ausländischer Arbeitnehmer gingen sie davon aus, die Anzahl der ausländischen Beschäftigten würde jährlich um etwa eine Viertelmillion abnehmen, die Zahl der Ausländer(innen) in Deutschland sich in zehn Jahren von knapp vier Millionen um die Hälfte verringern. In der Tat sank, wie die folgende Tabelle erkennen lässt, die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen zwischen 1973 und 1977 von fast 2,6 auf 1,8 Mio., die Zahl der in Deutschland wohnenden Ausländer(innen) aber blieb im gleichen. Zeitraum stabil und nahm nach 1979 noch zu (Tab. 2.1), denn der Anteil ausländischer Frauen und der in der Bundesrepublik geborenen Kinder ausländischer Eltern unter allen Neugeborenen stieg erheblich. Das Kalkül des Anwerbestopps war nicht aufgegangen, vielmehr waren konträre Wirkungen festzustellen: Vor die Alternative gestellt, die Bundesrepublik umgehend zu verlassen oder sich auf einen längeren Aufenthalt einzustellen, entschied sich eine große Zahl der Ausländer(innen) für die zweite Möglichkeit. Sie holten die Familie nach, zogen zunehmend aus den ursprünglichen Wohnheimen in Mietwohnungen, konsumierten nun mehr, statt zu sparen, und die Bindungen an die ursprüngliche Heimat verringerten sich, insbesondere bei der nachwachsenden „Zweiten Generation“. Der zunächst nur vorübergehend geplante Aufenthalt entwickelte sich zu einem objektiven Einwanderungsprozess, was die Migrant(inn)en subjektiv auch so wahrnahmen.Footnote 49 Für die Entsendeländer brachte die Migration langfristig nur wenige positive Effekte,Footnote 50 für die Bundesrepublik erscheinen die Folgeprobleme vielfältig. Als zentrale Problembereiche sind die Wohnsituation, der Arbeitsmarkt, die Situation der ausländischen Kinder und Jugendlichen sowie das Verhältnis von Deutschen und Ausländer(inne)n zu nennen.

Tab. 2.1 Ausländer im Bundesgebiet, 1968 bis 1998 in Tausend. (Zit. nach: Herbert (2001), S. 233)

Mit zunehmender Aufenthaltsdauer zogen die ausländischen Beschäftigten vermehrt aus Sammelunterkünften in eigene Wohnungen um, insbesondere wenn ihre Familien nach Deutschland nachzogen. Da sie gleichwohl den Kontakt zu anderen Landsleuten nicht verlieren wollten und bevorzugt billigen Wohnraum in Fabriknähe oder innerstädtischen Sanierungsgebieten suchten, entstanden häufig „Ausländerviertel“, zumal Deutsche oft aus diesen Stadtvierteln wegzogen. Beim Prozess der Bildung von „Einwandererkolonien“, der auch aus anderen Einwanderungsgesellschaften bekannt ist, zeigt sich in der Regel, dass diese „Gettoisierung“ als ein Durchgangsstadium im Einwanderungsprozess angesehen werden kann, das zumeist – über eine längere zeitliche Distanz betrachtet – an Bedeutung verliert. Hinsichtlich der Arbeitsmarktsituation ist festzustellen, dass die berufliche Angleichung der „Gastarbeiter(innen)“ an die deutsche Arbeitnehmerschaft nur in wenigen Fällen gelang, ihre Löhne blieben – mit denen deutscher Arbeitkräfte verglichen – unterdurchschnittlich. Diese „Unterschichtung“ der bundesrepublikanischen Gesellschaft durch Ausländer(innen) hatte auch zur Folge, dass diese überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen waren, vor allem in den wirtschaftlichen Strukturkrisen seit Mitte der 1970er-Jahre im Stahl- und Metallsektor, im Baubereich und in der Textilindustrie.

Besonders problematisch war die Situation der ausländischen Kinder und Jugendlichen: 1980 besaßen drei Viertel aller Ausländer(innen) in der Bundesrepublik zwischen 15 und 24 Jahren keinen Hauptschulabschluss, zwei Drittel der 15- bis 19-jährigen Ausländer(innen) erhielten keinerlei berufliche Ausbildung und lediglich die Hälfte kam der Berufsschulpflicht nach.Footnote 51 Da die Bundesregierung seit 1974 eine Eingliederung zwar begrüßte, Einwanderung aber weiterhin ablehnte, entstand für die zweite Ausländergeneration eine paradoxe Situation: Einerseits wollte man sie in das deutsche Schulsystem integrieren, zugleich sollte aber die „Rückkehroption“ offengehalten werden. Pädagogen klagten, man erziehe eine Generation von „zweisprachigen Analphabeten“, die weder die Sprache ihrer Eltern noch die deutsche Sprache hinreichend beherrsche, häufig sozial isoliert und beruflich unzureichend qualifiziert sei. Die doppelte Perspektive bestimmte die Schulpädagogik bis in die 1980er-Jahre: Einerseits versuchte man die schulische Integration der „Ausländerkinder“ durch Regelunterricht, spezielle Fördermaßnahmen und eigens eingerichtete Vorbereitungsklassen zu erreichen, andererseits sollte durch einen muttersprachlichen Ergänzungsunterricht die „Rückkehrfähigkeit“ erhalten werden.Footnote 52

Schließlich traten nun, Anfang der 1980er-Jahre, zunehmend kritische und feindliche Diskurse gegen Ausländer(innen) öffentlich in Erscheinung, was Kräften der extremen politischen Rechten ein weites Betätigungsfeld bot. Angeheizt und radikalisiert wurden diese Diskurse auch von Stimmen aus der politischen Mitte und von „Bürgerinitiativen“ unterschiedlicher Provenienz. Ob der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld mit plattem Biologismus vor einem möglichen Untergang des „Wirtsvolkes“ der Deutschen warnte, der Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes, Jürgen Schilling, in der Zeit 1980 seine „innere Distanz zu ethnisch Andersartigen“ öffentlich machte oder der SPD-Politiker Martin Neuffer 1982 die Türken als eine „im ganzen wenig assimilationsfähige völkische Minderheit“ und als „türkisch-islamisches Subproletariat“ bezeichnete,Footnote 53 all dies trug – ungeachtet der zweifellos vorhandenen Gegenstimmen – zu einer weitverbreiteten „ausländerfeindlichen“ Stimmung bei. Insbesondere die als ethnisch und kulturell fremd definierte (islamisch-)türkische Minderheit wurde zum Ziel rassistischer Äußerungen. Das ursprüngliche Kalkül, ausländische Arbeitskräfte je nach wirtschaftlicher Entwicklung flexibel und ohne größere Folgekosten für Wirtschaft und Staat verfügbar zu halten, ging offensichtlich nicht mehr auf. Für die Bundesrepublik war die „Gastarbeiter“-Phase beendet und eine neue migrationspolitische Situation entstanden, in der zudem neue Formen der Zuwanderung begannen, die in den 1970er-Jahren in der Öffentlichkeit kaum bemerkt wurden.Footnote 54

2.4.2 Die Ausländerpolitik der sozialliberalen Koalition zwischen 1973 und 1982

Die Ausländerpolitik der sozialliberalen Koalition nach dem Anwerbestopp verfolgte zwei, zum Teil widersprüchliche Zielsetzungen: die Begrenzung eines Zuzugs weiterer Ausländer(innen) sowie die Integration der in Deutschland lebenden Migrant(inn)en. Da – nach Auffassung der Regierung – die Erhöhung der Kindergeldsätze vom Januar 1975 auch für ausländische Kinder, die sich auf dem Boden der Bundesrepublik aufhielten, weiteren Nachzug zur Folge hatte, führte man über die Arbeitserlaubnisverordnung für nachgereiste Familienangehörige Wartezeiten (schließlich für Ehegatten vier, für Kinder zwei Jahre) ein. Eine von der Bundesregierung beauftragte Bund-Länder-Kommission schrieb 1977 die bekannten Grundsätze fort und legte für die kommenden Jahre als Leitlinien fest: Die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, der Anwerbestopp solle beibehalten werden, die Ausländer(innen) sollten nach einiger Zeit wieder in ihr Heimatland zurückkehren und die Rückkehrbereitschaft und -fähigkeit solle gefördert werden, ohne Zwangsmaßnahmen anzuwenden. Die vom ehemaligen Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens, Heinz Kühn, als „Beauftragtem der Bundesregierung für Ausländerfragen“ im September 1979 vorgelegten Forderungen nach einer konsequenten Integrationspolitik, der Anerkennung der faktischen Einwanderungssituation und verstärkten Bemühungen um Integration ausländischer Kinder und Jugendlicher sowie nach einem Optionsrecht auf Einbürgerung für in der Bundesrepublik aufgewachsenen Jugendlichen und Gewährung des kommunalen Wahlrechts für länger in der Bundesrepublik lebende Ausländer wurden von der Bundesregierung nicht mitgetragen,Footnote 55 insbesondere wegen des vorgesehenen Einbürgerungsanspruchs für Ausländer der zweiten Generation und der vorbehaltlosen Eingliederung ausländischer Kinder und Jugendlicher in das deutsche Schulwesen. Stattdessen bekräftigte der endgültige Kabinettsbeschluss vom 19. März 1980, Einwanderung könne nicht das Ziel der Ausländerpolitik sein, Anreize zur Förderung der Rückkehr sollten entsprechend ausgebaut werden. Anders als der Bamberger Sozialwissenschaftler Friedrich Heckmann, der bereits 1981 die Frage stellte, ob die Bundesrepublik nicht zum Einwanderungsland geworden sei,Footnote 56 betonte die Bundesregierung in ihren Kabinettsbeschlüssen vom November und Dezember 1981 weiterhin ausdrücklich, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland. Gleichwohl mussten die politisch Verantwortlichen erkennen, dass sich durch ausländerrechtliche Maßnahmen kaum eine deutliche Verminderung der Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer(innen) erreichen ließ. Andererseits: Im Widerspruch zur offiziellen Leitlinie der Politik war die rechts- und sozialpolitische Integration vieler Migrant(inn)en bereits so weit vorangeschritten, dass eine konsequente Nicht-Einwanderungspolitik eher nur propagiert als in der Praxis auch durchgeführt werden konnte. Der Öffentlichkeit wurde jedoch weiterhin der Eindruck vermittelt, das „Ausländerproblem“ sei am besten durch eine Rückkehr der Ausländer(innen) in ihre Heimatländer zu lösen.

2.4.3 Die Ausländerpolitik unter der Regierung Helmut Kohl bis zur Wiedervereinigung

Der neugewählte Bundeskanzler Helmut Kohl betonte in seiner Regierungserklärung am 13. Oktober 1982, er wolle die Ausländerpolitik zu einem Schwerpunkt seiner Regierungstätigkeit machen.Footnote 57 Unter der fortdauernden Leitlinie „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ sollten zentrale Fixpunkte des Regierungshandelns sein: 1.) die „Integration“ der in Deutschland lebenden Ausländer, 2.) die Förderung der Rückkehrbereitschaft und 3.) die Verhinderung eines weiteren Zuzugs. Im November 1983 wurde das Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern verabschiedet, das über die Kapitalisierung von eingezahlten Beiträgen in die Rentenversicherung wie staatlich bezuschussten Bausparverträgen und Spareinlagen Anreize zur Rückkehr bieten sollte. Im Vergleich zu den ursprünglich erwarteten Wirkungen (CDU und CSU sprachen von einer Verringerung der Ausländerzahlen um mehrere Millionen innerhalb von sechs Jahren) und bezogen auf die Gesamtzahl der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer(innen) blieb das Gesetz ein Misserfolg. Im Widerspruch zu seinen Intentionen wird das Rückkehrhilfegesetz für diejenigen, die den finanziell lohnenden Zeitpunkt verstreichen ließen, bewirkt haben, dass sie anschließend ihre Zukunftsplanungen in der Bundesrepublik verorteten. Ein neues Ausländergesetz zu verabschieden, gelang nicht, auch weil sich der Wunsch der Unionsparteien nach einer Senkung des Nachzugsalters zu einem andauernden Streitpunkt zwischen den Regierungsparteien entwickelte und das Problem der von der Türkei beanspruchten Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer(innen) im Rahmen des EG-Assoziierungsabkommens von 1963 nicht gelöst werden konnte.Footnote 58

In der öffentlichen Debatte über Zuwanderung, die bereits den Wahlkampf im Jahr 1982 stark geprägt hatte, wurde vielfach eine negative Grundeinstellung gegenüber Ausländer(inne)n deutlich. Anders als in früheren Jahren wurden insbesondere „die Türken“ nun häufig als fremdartig und wenig integrationsbereit definiert. So warnte der Münchener Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld in einer Illustrierten: „Hier Christen – dort Moslems. Hier Emanzipation der Frau – dort demutsvolle Unterwürfigkeit. Hier fortschreitende Dekadenz des Familienverbandes – dort straffe Sippenordnung. […] Den willig bei uns arbeitenden Türken ist in Wirklichkeit kein Vorwurf zu machen. Die deutsche Wirtschaft hat sie nun einmal ins Land geholt, ähnlich wie vor hundert Jahren die Grubenarbeiter aus Polen. Der Unterschied der Koslowskis, Miloczyks und Zylinskis war lediglich: Die Polen stammten aus dem gleichen europäischen Kulturkreis wie ihre deutschen Kumpel. […] Die Anpassungsfähigkeit der Türken ist dagegen eingeschränkt. Einmal, weil sich die meisten von ihnen hier nicht auf Dauer einrichten wollen. Des Weiteren, weil sie sich nach Feierabend einfach wohler (geborgener, sicherer) in der unmittelbaren Nachbarschaft ihrer Landleute fühlen. Wer also immer noch glaubt, dass Türken bei uns so leben können wie Deutsche, vergisst: Türken sind auch nur Menschen. Und zwar Menschen mit einer anderen Kultur.“Footnote 59 Ein derartiges Urteil mutet seltsam an angesichts der antipolnischen Propaganda, der sozialen Diskriminierungen und nationalen Vorurteile, denen sich Polen in Deutschland etwa zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ausgesetzt sahen. Es zeigt jedoch die Verschiebungen innerhalb des öffentlichen Diskurses, der nun zunehmend entlang der „Differenzlinie Kultur“ geführt wurde. Während der Auseinandersetzungen um die Freizügigkeitsregelung für Türk(inn)en erreichte die Angst vor einer drohenden Millionenflut aus der Türkei selbst die liberale Zeit, in der Theo Sommer in einem Leitartikel unter dem Titel „Vertragsbruch oder Dammbruch“ panische Befürchtungen äußerte.Footnote 60 Verknüpft wurde die Debatte über das „Türkenproblem“ mit Xenophobien, antiislamischen Bedrohungsempfindungen und Ängsten vor einem islamischen Fundamentalismus, zivilisationsfremden Koranschulen und gewalttätigen türkischen Kommunisten, die seit den frühen 1980er-Jahren (Sturz des Schahs, Ausrufung der „Islamischen Republik“ durch Ayatollah Khomeini am 1. Februar 1979) vermehrt auftraten.

Insgesamt gesehen war die Regierung Kohl 1987, am Ende ihrer ersten Legislaturperiode, mit ihren 1982 verkündeten Zielsetzungen nicht sehr weit vorangekommen. Das Rückkehrhilfegesetz hatte die erhoffte erhebliche Reduzierung der Ausländerzahlen nicht erreicht, eine wesentliche Eindämmung des Nachziehens von Familienangehörigen war aufgrund der FDP-Haltung nicht gelungen, das angekündigte neue Ausländergesetz nicht zustande gekommen und die Integration der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer(innen) durch Gesetzesinitiativen wenig fortgeschritten. Das Dogma, Deutschland sei kein Einwanderungsland, wurde weiter fortgeschrieben, zudem war die Thematik mittlerweile stark ideologisiert, „ausländerfeindliche“, insbesondere türkenfeindliche Stimmungen in weiten Kreisen der Bevölkerung verbreitet und verfestigt.Footnote 61

2.5 Ausländerpolitik im wiedervereinigten Deutschland

2.5.1 Die Zuwanderung von Flüchtlingen und die Entstehung der „Asyldebatte“

Ende der 1980er-Jahre veränderten sich Form und Wege der Zuwanderung nach Deutschland. Hatte die Zahl der Asylsuchenden, abgesehen von einem ersten Höhepunkt im Jahre 1982, stets – zumeist sehr deutlich – unter 100.000 pro Jahr gelegen, so stiegen die Zahlen ab 1988 stark an und diese Entwicklung verdrängte das „Gastarbeiterproblem“ zusehends aus den politischen Debatten. Zudem veränderte sich die ethnische Zusammensetzung der Asylbewerber(innen): Waren es bis Mitte der 1980er-Jahre vorwiegend Menschen aus Krisengebieten Afrikas, Asiens und der Türkei, die Asyl begehrten, waren es gegen Ende des Jahrzehnts mehr Asylsuchende aus den Bürgerkriegsgebieten Jugoslawiens und aus Osteuropa. Die Bundesregierung suchte auf unterschiedliche Weise eine Verringerung der Zahl der Asylbewerber(innen) zu erreichen: Die Anerkennungsverfahren sollten beschleunigt, die Kriterien für das Asylrecht verschärft, der Zugang in die Bundesrepublik erschwert, die Ausweisung der abgelehnten Bewerber(innen) schneller durchgesetzt und die Lebensbedingungen der Asylbewerber(innen) in Deutschland verschlechtert werden, um weitere Gesuchswillige abzuschrecken. Die diesbezüglichen Maßnahmen wie die Einweisung der Asylbewerber(innen) in Sammellager, die Einschränkungen der Freizügigkeit und Restriktionen bei der Erteilung von Arbeitserlaubnissen führten auch dazu, dass die Öffentlichkeit diese Menschen zunehmend als Nichtstuer und Schmarotzer wahrnahm und das Klischee vom „Wirtschaftsasylanten“ bestätigt sah.

Diese Sichtweise wurde von zahlreichen Medien und Politikern unterstützt, wobei die öffentliche Debatte hinsichtlich des Asylrechts emotional aufgeladen und häufig für politische Zwecke instrumentalisiert wurde.Footnote 62 Insbesondere seit dem Wahlkampf im Sommer 1990 entwickelte sich das Thema der „drohenden Asylantenflut“ zu einer dominierenden innenpolitischen Auseinandersetzung. Angeheizt von wahren Kampagnen der Bild-Zeitung und der Welt wurde die These von den „Asylschwindlern“, die als „Wirtschaftsflüchtlinge“ die deutsche Sozialgesetzgebung ausnutzen und sich hier betrügerisch bereichern würden, öffentlich verbreitet und ein regelrechter Angriff auf das Asylrecht vorbereitet.Footnote 63 Der Generalsekretär der CDU, Volker Rühe, forderte alle Kommunalpolitiker seiner Partei auf, die Asylpolitik zum Angriff auf die SPD zu nutzen, um diese Partei mit Hilfe des wachsenden Unmuts in der Bevölkerung zu bewegen, einer Grundgesetzänderung zuzustimmen. Die Situation wurde besonders brisant, als im Dezember 1990 Asylbewerber(innen) gleichmäßig auf Kommunen in Ost und West verteilt werden sollten, die Städte und Kreise in den neuen Bundesländern hierauf aber in keiner Weise vorbereitet waren. Vielfach versuchten Kommunen die zugewiesenen ungeliebten Gäste – teilweise unter Hinweis auf Unmut in der Bevölkerung – loszuwerden.

In der Folge nahmen Übergriffe und Gewalttätigkeiten gegen Ausländer(innen) und Asylbewerber(innen) zu. Zahlreiche Bedrohungsszenarien und Feindbilder wurden in Buchtiteln und Schlagzeilen konstruiert und verstärkten latente Ängste in der Bevölkerung. Der „Ansturm der Armen“ (Der Spiegel im September 1991), „Die neue Völkerwanderung: 500 Millionen unterwegs“ (GEO im Dezember 1991) – ausgebreitete Horrorszenarien dieser Art in Überschriften und Artikeln sowie die häufig unterstellten Zusammenhänge mit importierter Kriminalität, Missbrauch von Sozialleistungen, illegaler Beschäftigung, zunehmender Gewalttätigkeit, Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit in Deutschland förderten eine „geschichtslose Hysterie“,Footnote 64 die unterstellte, es handle sich um eine historische Ausnahmesituation. Ihren Höhepunkt fanden die gewaltsamen Übergriffe gegen Ausländer(innen) in dem mehrere Tage andauernden Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, wo mehrere Hundert Jugendliche unter dem Beifall zahlreicher Zuschauer ein von Ordnungskräften nur notdürftig gesichertes Ausländerwohnheim stürmten und die Polizei sich schließlich gezwungen sah, die Hausbewohner unter dem Applaus der Umstehenden zu evakuieren.

2.5.2 Die Asylrechtsänderung (1993)

Unter dem Eindruck des öffentlichen Drucks gab die SPD ihre ablehnende Haltung zu einer Asylrechtsänderung auf und einigte sich mit der Koalition im Dezember 1992 auf den so genannten Asylkompromiss, der nicht nur eine Änderung des Artikels 16 GG beinhaltete, sondern weitere Fragen der Zuwanderung regeln sollte. Nun konnte niemand mehr Asyl beanspruchen, der aus einem Staat einreiste, der die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistete, was bedeutete, dass künftig auf dem Landweg niemand unter Inanspruchnahme des Asylrechts nach Deutschland einreisen konnte. Das neue Asylrecht, das am 1. Juli 1993 in Kraft trat, wurde ergänzt durch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG), das die Leistungen für den Lebensunterhalt der meisten Flüchtlinge senkte und zudem ermöglichte, dass die Zuwendungen in der Regel nicht mehr in Geld, sondern in Form von Warengutscheinen geleistet wurden.

Nach Inkrafttreten der neuen gesetzlichen Regelungen sank die Zahl der Asylbewerber(innen) um mehr als die Hälfte, was die Regierungsparteien und die SPD als Erfolg ihrer Politik werteten, während zahlreiche Kommentatoren die faktische Abschaffung eines Grundrechts beklagten.Footnote 65 Das Schengener Zusatzabkommen (Schengen II) vom 19. Juni 1990 verhängte über die wichtigsten Herkunftsländer von Flüchtlingen zudem einen Visumzwang.Footnote 66 Schließlich sollten Asylsuchende nur in einem „Schengen-Staat“ einen Antrag stellen dürfen und dessen Ablehnung sollte für alle übrigen Vertragsstaaten gelten. Im Dublin-Abkommen vom Juni 1990 wurde die Anerkennung der Erstzuständigkeit von Asylentscheidungen verbindlich, um einen „Asyltourismus“ durch mehrfache Antragstellung auszuschließen. Die Ausgestaltung der Politik einer „Festung Europa“ (Franz Nuscheler) wurde durch weitere Vereinbarungen komplettiert.Footnote 67

Das Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) machte die Unterbringung der Asylbegehrenden in zentralen Sammelunterkünften obligatorisch. Häufig wurden ausgediente Kasernen, Schulen oder Baracken und Abbruchhäuser zu Zwangsunterkünften umgewandelt, in denen Menschen mit unterschiedlichen Sprachen, Gebräuchen und Verhaltensweisen einquartiert wurden. Das Asylbewerberleistungsgesetz hob das Arbeitsverbot für Asylbewerber(innen) auf, Kommunalverwaltungen ordneten für sie nun nach dem Bundessozialhilfegesetz gelegentlich „gemeinnützige und zusätzliche Arbeit“ an, wobei der übliche Stundenlohn bei 2,00 DM lag. Die Leistungen, auf die Asylbewerber(innen) Anspruch hatten, wurden gekürzt, ein Teil nur noch in Sachleistungen gewährt. Die neuen gesetzlichen Regelungen führten in Deutschland zu einer weiteren Diskriminierung der Asylsuchenden.

2.6 Die Aufnahme von Aussiedler(inne)n in Deutschland

2.6.1 Zum Begriff des Aussiedlers/der Aussiedlerin

Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert waren Deutsche in mehreren Siedlungsbewegungen – vielfach als Arbeitskräfte und Kolonisatoren ins Land gerufen – in Gebiete Ost- und Südosteuropas gekommen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es hier kein Land ohne eine kleinere oder größere Zahl deutscher Siedlungen oder Sprachinseln. Insgesamt lebten vor 1939 etwa 8,6 Mio. Deutsche außerhalb der östlichen Reichsgrenzen. Mit dem Zweiten Weltkrieg begann für viele von ihnen eine besondere Leidenszeit, so deportierte die Sowjetregierung allein etwa 800.000 Russlanddeutsche nach Sibirien und Zentralasien, und nach dem Zusammenbruch der deutschen Front setzte für eine große Zahl von Deutschen im Osten eine Zeit der Massenflucht und der Vertreibung ein. Auch nach Ende der Vertreibungen 1948/1949 ist der Strom deutscher Aussiedler(innen) aus Osteuropa nach Deutschland nie versiegt. Ebbten die Zahlen nach 1961 bis zum Ende der 1980er-Jahre auch ab, so schnellten sie mit der politischen Wende in der Sowjetunion und Osteuropa, dem Fall der Mauer und der deutschen Einheit wieder nach oben.

Aussiedler(innen) unterscheiden sich nicht nur nach den jeweiligen Herkunftsländern, sondern auch nach den Wegen, wie sie dorthin gelangten, nach Art und Grad der Unterdrückung ihres „Deutschtums“, ihren Deutschkenntnissen und Vorstellungen, die sie mit Deutschland verbinden. Aussiedler(innen) sind nach dem Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenen-Gesetz-BVF) deutsche Staats- und/oder Volkszugehörige, die vor dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz jenseits der deutschen Ostgrenzen besaßen und nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen (1951) und vor dem 1. Juli 1990 oder danach im Wege des Aufnahmeverfahrens vor dem 1. Januar 1993 aus Ländern Ost- und Südosteuropas nach Deutschland gekommen sind.Footnote 68 Für Aussiedler(innen) gilt das im Grundgesetz in Art. 116 niedergelegte Einwanderungsprivileg: „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“Footnote 69 Die deutsche „Volkszugehörigkeit“, eine Kategorie, die nur im deutschen Staatsrecht auftritt, wird nach § 6 des Bundesvertriebenengesetzes dann angenommen, wenn sich jemand in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat und dieses Bekenntnis durch Abstammung, Erziehung, Sprache und Kultur bestätigt wird oder er von einem deutschen Volksangehörigen abstammt und sich zum deutschen Volkstum bekannt hat.Footnote 70 Ehegatten und Abkömmlinge von Bewerbern können nach der Aufnahme in Deutschland ebenfalls Deutsche werden, Ehegatten aber nur, wenn die Ehe beim Verlassen des Landes mindestens drei Jahre bestanden hat. „Spätaussiedler(innen)“ sind deutsche Volkszugehörige, die die Aussiedlungsgebiete nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen und innerhalb von sechs Monaten ihren ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik genommen haben.

2.6.2 Zur Entwicklung der Zuwanderung von Aussiedler(inne)n

Mit den politischen Veränderungen Ende der 1980er-Jahre ergaben sich neue Möglichkeiten für Ausreisewillige aus Osteuropa. Der Zuzug von Aussiedler(inne)n erreichte in den Jahren 1989/1990 mit fast 400.000 Personen einen Spitzenwert, aber aufgrund zahlreicher Maßnahmen der Bundesregierung und Behörden pendelte sich der Zuzug in den Jahren 1991 bis 1993 auf jährlich etwa 220.000 Menschen ein. Seit 1990 ist die Einreise nach Deutschland mit dem Ziel, hier als Aussiedler(in) anerkannt zu werden, nur möglich, wenn vor Verlassen der Aussiedlungsgebiete vorläufig geprüft worden ist, ob der Antragssteller/die Antragstellerin alle gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt und entsprechend ein Aufnahmebescheid erteilt werden kann. Nach dem neuen Kriegsfolgenbereinigungsgesetz, das am 1. Januar 1993 in Kraft trat, müssen Antragsteller(innen) aus Polen und Rumänien Benachteiligungen oder Nachwirkungen früherer Benachteiligungen aufgrund der deutschen Volkszugehörigkeit individuell glaubhaft machen, während bei Antragssteller(inne)n aus den Staaten der früheren Sowjetunion ein kollektives Kriegsfolgenschicksal unterstellt wird, was dazu führte, dass seitdem nahezu alle Aussiedler(innen) aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion stammen. Die 1996 zusätzlich angeordnete Prüfung der deutschen Sprachkenntnisse der Ausreisewilligen im Herkunftsland half, die Zahl der aufgenommenen Spätaussiedler(innen) unter die Obergrenze von 100.000 Personen pro Jahr zu drücken. Die zahlreichen gesetzlichen und administrativen Regelungen führten insgesamt zu einer Neuordnung der zuwandernden Bevölkerung nach Herkunftsländern und erstmalig faktisch zu einer Form von Quotenregelung, die eine politische Steuerung der Zuwanderung ermöglichte.Footnote 71

2.6.3 Zur Aussiedlerpolitik der Bundesrepublik Deutschland

Aussiedler(innen) aus Osteuropa, die wegen ihres Bekenntnisses zur Deutschstämmigkeit oder ihrer deutschen Volkszugehörigkeit ein Einwanderungsprivileg genießen, haben Anspruch auf eine Eingliederung in das berufliche, kulturelle und soziale Leben in der Bundesrepublik.Footnote 72 Die Aussiedlerpolitik der Bundesregierung unterschied sich deutlich von der sonstigen Praxis der Zuwanderungsregelung: Seit 1993 wurde der Zuzug durch eine klare Quote von 200.000 geregelt und von einer Einwanderungs- und Integrationspolitik begleitet, die von der Regierung Kohl ansonsten strikt abgelehnt worden war. So wartete die Bundesregierung mit einem Eingliederungsangebot von sozialpolitischen Maßnahmen, finanziellen Eingliederungshilfen und kostenlosen Sprachkursen für Aussiedler(innen) auf, wie es auch für andere Gruppen von Zuwanderern von vielen Seiten gewünscht wurde. Auch die Bemühungen, Fluchtursachen vor Ort zu beseitigen, hätten für andere Herkunftsländer von Flüchtlingen als Vorbild dienen können.Footnote 73

Trotz sinkender Zuzugszahlen wurde die Integration der Aussiedler(innen) zunehmend schwieriger, da die Deutschkenntnisse vielfach geringer wurden und sich der kulturelle Abstand gemischtnationaler Familien aus Russland und Mittelasien häufig vergrößerte. Wohngebiete mit hohem Aussiedleranteil entwickelten sich oftmals zu „sozialen Brennpunkten“, zumal es angesichts der allgemeinen Arbeitsmarktlage insbesondere für Jugendliche schwierig war, eine wunschgemäße Beschäftigung zu erlangen. So sind die Probleme, vor denen auch Aussiedler(innen) in Deutschland standen und stehen, unübersehbar.Footnote 74 Defizite im schulischen Bereich und bei der Berufsausbildung, aber auch die Probleme auf dem Arbeitsmarkt verstärkten vielfach die soziale Distanz. Im Jahr 1998 war mindestens jede(r) vierte Erwerbsfähige ohne Arbeit. Aussiedler(innen), die in ihrer früheren Heimat häufig ihr Deutschtum ostentativ hervorzukehren pflegten, wurden nicht nur in ihren Herkunftsländern, sondern nun auch in Deutschland häufig als „fremd“ empfunden, was diese angesichts ihrer ursprünglichen Selbstdefinition diskriminierend erleben mussten, wobei die starke religiöse Bindung vieler Aussiedler(innen) zu Fremdheitserfahrungen beitrug. Auffällig ist auch die Alterszusammensetzung, denn – verglichen mit der einheimischen Bevölkerung – waren Aussiedler(innen) sehr jung: 1988 waren 32,9 %, 1995 sogar 37,8 % unter zwanzig Jahren, was unter demografischen Aspekten vorteilhaft erschien, aber auch besondere Integrationsanforderungen stellte.

Trotz der genannten Integrationsprobleme wurde bei der Aufnahme der Aussiedler(innen) – wie bei der Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in der unmittelbaren Nachkriegszeit – eine große gesellschaftliche und politische Leistung vollbracht. Für Franz NuschelerFootnote 75 liegt der Grund vor allem darin, dass bei vielen Deutschen, anders als bei ausländischen Zuwanderern, der politische Wille zur Aufnahme und Integration der „Landsleute“ vorhanden war. Karl-Heinz Meier-BraunFootnote 76 vermutet, für die Regierungskoalition aus CDU und FDP habe die Tatsache, dass es sich bei Aussiedler(inne)n um potenzielle Wähler handelte, dazu geführt, das „Aussiedlerproblem“ über Jahre hinweg geradezu auszuklammern und z. B. die Frage einer „Einwanderung in die Sozialsysteme“ nicht zu thematisieren. Auch bei den Themen „Sprachkenntnisse“ und „Nachzugsalter“ sei lange Zeit mit zweierlei Maß gemessen worden: Während bei ausländischen Familien deutsche Sprachkenntnisse als unabdingbare Voraussetzung für die Integration erwartet würden und seit vielen Jahren heftig über eine Senkung des Nachzugsalters debattiert wurde, habe dies beim Zuzug von Aussiedler(inne)n keine Rolle gespielt. Vielfach seien Familienangehörige – nicht nur die Ehepartner und minderjährige, sondern auch erwachsene Kinder, deren Ehepartner und Kinder – ohne hinreichende Sprachkenntnisse nach Deutschland eingereist und hätten gleichwohl die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Annette TreibelFootnote 77 vermutet ebenfalls politische Motive hinter der Tatsache, dass ein ähnlicher Weg der Migrationspolitik wie bei Aussiedler(inne)n nicht auch für andere Zuwanderungsgruppen beschritten und stattdessen für diese weiterhin an einem Staatsbürgerschaftsrecht festgehalten worden sei, das den Status der „Nicht-Zugehörigkeit“ zementiert habe: Wenn etwa in Deutschland geborene Angehörige der dritten „Gastarbeiter-Generation“ grundsätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten würden, wären sie nicht mehr als Ausländer nachweisbar und ließen sich nicht mehr für Argumentationen gegen einen zu hohen Ausländeranteil verwenden. Derartige strategische Überlegungen seien möglicherweise ein Grund für die langjährigen politischen Widerstände gegen eine Abkehr vom Abstammungsrecht (ius sanguinis – „Recht des Blutes“).

2.7 Der schwierige Weg zu einem Zuwanderungsgesetz

Die neugewählte Bundesregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen konstatierte in ihrer Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998, dass ein „unumkehrbarer Zuwanderungsprozess“ stattgefunden habe, der eine veränderte Integrationspolitik erfordere. Wenngleich Überlegungen zur doppelten Staatbürgerschaft nach der „Anti-Doppelpass-Kampagne“ der CDU/CSU, die zu dem Wahlerfolg der Union bei den Landtagswahlen in Hessen am 7. Februar 1999 beitrug, aufgegeben wurden,Footnote 78 stellte das neue Staatsangehörigkeitsrecht, das am 1. Januar 2000 in Kraft trat, einen Wendepunkt in der Ausländerpolitik dar. Nicht mehr das Abstammungsrecht, das die Staatsangehörigkeit ausschließlich von den Eltern ableitet, sondern das Territorialprinzip (ius soli – „Recht des Bodens, des Landes“), das die Staatsangehörigkeit vom Geburtsort herleitet, sollte maßgebend sein. In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern erhalten nun die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn die Eltern eine Aufenthaltsberechtigung oder seit drei Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzen oder seit mindestens acht Jahren in Deutschland leben.Footnote 79 Nach der Reform wurden im Verlauf des Jahres 2000 fast 187.000 Personen (2001 etwa 178.000) eingebürgert, eine Zahl, die fast 30 % über der von 1999 lag.

Die von Bundeskanzler Schröder im Jahr 2000 angekündigte Green-Card-Regelung hatte zwar praktisch keine große quantitative Bedeutung, wirkte politisch aber als bedeutsames Signal, denn hier wurde Zuwanderung erstmals öffentlich positiv besetzt. Die Bundesregierung und die politischen Parteien veröffentlichten nun eigene Einwanderungskonzeptionen und trotz unterschiedlicher Positionen und Akzentsetzungen schienen sich im Jahr 2001 erstmalig alle politischen Kräfte einig, dass Zuwanderung gebündelt, durch ein Gesetz geregelt und für die Zukunft gestaltet werden müsse.Footnote 80 Gleichwohl kam es in der Folgezeit zu vehementen Auseinandersetzungen zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien in Bundestag und Bundesrat über eine gesetzliche Regelung, die erst nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und dem wiederholten Scheitern der Gesetzesinitiative im Bundesrat in erneuten Konsensgesprächen zwischen den Parteien beendet werden konnten.Footnote 81 Der abschließend gemeinsam formulierte Gesetzentwurf, der deutlich hinter den ursprünglichen Reformvorstellungen der rot-grünen Koalition zurückblieb, konnte erst im Sommer 2004 von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden und trat mit dem 1. Januar 2005 in Kraft.

Erstmals wurden einheitliche Regelungen zur Steuerung von Zuwanderung und Integration in Deutschland geschaffen. Das Gesetz vereinfachte die möglichen Aufenthaltstitel: Neben das Visum, das für kurzfristige Aufenthalte galt, traten für längerfristige Aufenthalte die (befristete) Aufenthaltserlaubnis (für Ausbildung, Erwerbstätigkeit, völkerrechtliche, humanitäre oder politische sowie familiäre Gründe) und die (unbefristete) Niederlassungserlaubnis, die erteilt wird, wenn jemand bereits seit fünf Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und weitere Voraussetzungen (Sicherung des Lebensunterhalts, keine Vorstrafen, ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache etc.) erfüllt sind.Footnote 82 Die Zuwanderung aus humanitären und politischen Gründen blieb möglich, wobei der Flüchtlingsstatus in Anlehnung an die EU-Richtlinie auch bei nichtstaatlicher Verfolgung gewährt werden kann. Neu eingeführt wurde die Anerkennung geschlechtspezifischer Verfolgung bei Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit. Die Regelungen für den Kinder- und Familiennachzug blieben weitgehend unverändert, wobei künftig für Kinder unter sechzehn Jahren ein Anspruch auf Nachzug zum alleinerziehenden Elternteil in Deutschland besteht.

Wer gedacht hatte, nach der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes in Bundestag und Bundesrat wären die langjährigen öffentlichen Debatten und Kontroversen zur Frage der Migration in der Bundesrepublik beendet, sah sich getäuscht. Bereits unmittelbar danach wurden von verschiedenen Seiten Änderungswünsche vorgetragen und im Wahlkampf zur vorzeitigen Bundestagwahl im Spätsommer und Herbst des Jahres 2005 wurde die Thematik – auch mit der dramatisierten Frage einer künftigen Aufnahme der Türkei in die EU – insbesondere von den Unionsparteien zu einem zentralen Gegenstand des Wahlkampfes stilisiert. Selbst nach der Bildung der Großen Koalition und der gemeinsamen Koalitionsvereinbarung – auch zu Aufgaben der Integration und der Bekämpfung von Fluchtursachen – wurden die öffentlichen Debatten zu obligatorischen Einbürgerungstests, zu Deutsch als Pflichtsprache auf bundesrepublikanischen Schulhöfen und zu einem möglichen EU-Beitritt der Türkei u. a. unvermindert fortgeführt. Da auch die neue aus CDU/CSU und FDP gebildete Koalitionsregierung keine fundamentale Änderung in der Ausländer- und Integrationspolitik erkennen ließ, ist auch in absehbarer Zukunft kaum mit einer weniger emotionalen und einer rationaleren Diskussion zum Thema Migration in Medien und Politik zu rechnen, zumal dieser Gegenstand zu leicht erkennbaren politischen Zielen instrumentalisiert werden kann. Angesichts der zeitlichen Verzögerung, mit der Schulbücher üblicherweise auf politische und mediale Diskurse reagieren, ist es unwahrscheinlich, dass die analysierten Schulbücher die aktuellen Entwicklungen nach der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes bereits thematisieren, doch sollte hier der Vollständigkeit halber der weitere Verlauf der politischen und medialen Diskurse kurz skizziert werden.

2.8 Zentrale öffentliche Diskurse zum Thema „Migration“

2.8.1 Einwanderungsland ohne Einwanderungspolitik

Rückblickend lassen sich mehrere Phasen der Ausländerpolitik in der Nachkriegszeit unterscheiden.Footnote 83 In einer „Anwerbephase“ von Mitte der fünfziger bis Anfang der siebziger Jahre, als Millionen Arbeitskräfte in die Bundesrepublik geholt wurden, galt die „Gastarbeiterbeschäftigung“ nach dem „Rotationskonzept“ als politische Leitlinie. Eine durch den Anwerbestopp von 1973 eingeleitete zweite Phase zielte auf eine „Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung“ durch Zuwanderungsbegrenzung und Rückkehrförderung sowie durch Ansätze zur Integration der verbleibenden Menschen. Eine dritte Phase, die 1978 mit der Berufung der „Kühn-Kommission“ mit Diskussionen um unterschiedliche Konzepte zur Integration der ausländischen Arbeitnehmer(innen) und ihrer Familienangehörigen begann, wurde 1982 durch Debatten um eine wirksame Begrenzungspolitik als vierte Phase abgelöst, wobei die Ausländerpolitik zugleich politisch polarisiert wurde. Das neue Ausländergesetz leitete 1990 eine fünfte Phase der Ausländerpolitik ein, die – vom Leitgedanken „Integration plus Begrenzung“ bestimmt – eine Kombination verschärfter Zuzugskontrollen mit gleichzeitigen Integrationsangeboten unterbreitete, auf die sich jedoch keine fundierte Einwanderungspolitik begründen ließ. Mit dem Regierungswechsel 1998 und dem neuen Staatsbürgerrecht, das am 1. Januar 2000 in Kraft trat, war ein Wendepunkt in der Ausländerpolitik erreicht. Mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 begann eine weitere Phase der Ausländerpolitik, deren inhaltliche Ausgestaltung allerdings weit hinter den ursprünglichen Erwartungen der rot-grünen Koalition zurückblieb.

Insgesamt ist verwunderlich, wie heftig in Deutschland etwa ein halbes Jahrhundert um Zu- und Einwanderung – der feine Unterschied zwischen diesen Begriffen lässt sich, wie Karl-Heinz Meier-BraunFootnote 84 treffend bemerkt, in keine Sprache der Welt übersetzen – gestritten wurde. Mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes war der Streit um die Ausländer- und Migrationspolitik keineswegs beendet. Insbesondere Politiker der Unionsparteien vermeiden weiterhin den Begriff „Einwanderung“ oder betonen zumindest, Deutschland sei „kein Einwanderungsland im klassischen Sinn“, was absurd erscheint, „weil Politik und gesellschaftliche Realität verwechselt werden: Die Bundesrepublik ist längst ein Land mit kultureller Vielfalt geworden – ganz gleich, ob man diese Entwicklung nun seinerzeit bejubelt oder verteufelt hat.“Footnote 85

Entsprechend wird zu prüfen sein, wie die analysierten Lehrbücher die entsprechenden Begrifflichkeiten verwenden und die Frage der Zu- oder Einwanderung thematisieren.

2.8.2 Diskurse zu Kosten und Nutzen der Zuwanderung

Mit den unterschiedlichen Phasen der Ausländerpolitik veränderten sich die politischen und medialen Diskurse zu den eingeschätzten Kosten bzw. dem Nutzen der Migration für die bundesrepublikanische Gesellschaft. In der Anfangsphase wurden einhellig die ökonomischen Vorteile der Ausländerbeschäftigung für die deutsche Wirtschaft betont: Arbeitnehmer(innen) kamen im produktiven Alter, ohne Ausbildungs- (Kindergarten, Schule) und Alterskosten (Altenheime u. a.) zu verursachen, die Rentenversicherung der Gastarbeiter schloss mit einem positiven Saldo ab. Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid unterstrichen noch Anfang der 1990er-Jahre: „Die Ausländerbeschäftigung wurde zur unverzichtbaren Voraussetzung für etliches, das den Deutschen inzwischen lieb und teuer geworden ist: Aufstieg, Arbeitszeitverkürzung, längerer Urlaub, längere Ausbildungszeiten und früheres Ende des Erwerbslebens.“Footnote 86

Mit dem Anwerbestopp und der Tendenz zum längerfristigen Verbleib veränderten sich unter anderem der Frauenanteil, die Altersstruktur, die Erwerbsquote, das Sparverhalten und die Konsumausgaben, Wohnungsansprüche und Lebensperspektiven der Migrant(inn)en. Die öffentlichen Diskurse wandten sich nun zunehmend sozialen Problemen und gesellschaftlichen Belastungen durch Zuwanderung zu.Footnote 87 Insbesondere seit der ausländerpolitischen Wende nach 1982 verloren Argumentationen zum wirtschaftlichen Nutzen der Ausländerbeschäftigung an Bedeutung.Footnote 88

Seit den späten 1980er-Jahren trat das Thema „Asyl“ ins Zentrum der öffentlichen Diskurse. Während die zahlenmäßig bedeutsame Zuwanderung von Aussiedler(inne)n, die – wie dargestellt – bald quotenmäßig geregelt und wohl auch aus politischen Motiven wenig thematisiert wurde, ließ die Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylbewerber(inne)n in Teilen der Medien und der Öffentlichkeit das Bild vom „massenhaften Zustrom von Wirtschaftsflüchtlingen“ und vom „vollen Boot“ entstehen, gegen die sich die „Festung Europa“ verteidigen müsse, wolle man eine „Überforderung der ansässigen Bevölkerung“ oder gar eine „Ausplünderung der Sozialsysteme“ vermeiden. Erweitert wurden die Argumentationen durch Kontroversen zu der Frage, ob die Bundesrepublik Zuwanderung nicht aus demografischen Gründen benötige, wobei allerdings das Demografieproblem und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Sozialsysteme vielfach dramatisiertFootnote 89 und als Begründung für Forderungen nach einem größeren Kinderreichtum deutscher Familien verwandt wurden. So sorgte sich etwa der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg um eine altersbedingte Erhöhung der Lebenskosten und eine damit verbundene Verschlechterung der Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft.Footnote 90 Dieter Oberndörfer kritisierte Birgs Analysen als „in weiten Teilen nicht durch die Fakten gedeckt und in ihren Schlussfolgerungen gefährlich“Footnote 91 und plädierte stattdessen für eine „offene Republik“ und einen Staatsbürgerbegriff, der nicht mehr von einem ethnisch begründeten Volksbegriff ausgeht.Footnote 92

Die Perspektive einer ausschließlich ökonomischen Kosten-Nutzen-Rechnung muss insgesamt kritisch gesehen werden, weil sie der Migrationsproblematik nicht angemessen ist und zudem hinreichend Anknüpfungspunkte für rechtsextreme Diskurse zu diesem Thema bietet.Footnote 93 Bernd Hof forderte mehr als reine Zahlenarithmetik und den Umstieg in die „Bleibegesellschaft“, die eine hohe Frequenz von Zu- und Fortzügen von Migranten durch verbesserte Integration verändern will.Footnote 94 Christoph Butterwegge argumentierte, die deutsche Gesellschaft könne „den demografischen Wandel und seine Folgen für Ökonomie, Sozialstaat und Gesellschaft“, die keineswegs zu leugnen seien, durchaus solidarisch bewältigen, wenn in der Bundesrepublik, die so reich ist wie nie, „eine soziale Umverteilung von oben nach unten“ politisch in Angriff genommen werde.Footnote 95 Häufig dramatisierte „bevölkerungswissenschaftliche“ Prognosen würden dagegen unter dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ im politischen Kampf benutzt, um von vermehrter Ungleichheit innerhalb der Generationen abzulenken.

Die These, Arbeitslosigkeit in Deutschland hinge unmittelbar mit der Zahl der Ausländer(innen), insbesondere der Zahl der Asylsuchenden zusammen, wurde in zahlreichen öffentlichen Debatten für erkennbare politische Zwecke instrumentalisiert.Footnote 96 Wiewohl die Zahl der Asylbewerber(innen) und Asylberechtigten – auch nach Aufhebung des Arbeitsverbots im Jahr 1991 – kaum für wesentliche Verdrängungen auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich gemacht werden kann,Footnote 97 sprachen Medien vielfach von einem „Überschreiten der Belastungsgrenze“. Zweifellos war unmittelbar nach 1989 die Aufnahmekapazität vieler Städte und Gemeinden erreicht, doch waren Argumentationen mit dem Tenor „Das Boot ist voll“ wenig stichhaltig. Die Belastungsgrenze ist keine objektiv messbare Größe, sondern eine politisch gesetzte und veränderbare Toleranzgrenze, und die Dramatisierungen von einer „ungehemmten Zuwanderung über offene Grenzen“,Footnote 98 die den Sozialstaat infolge eines „maßlosen“ und „schrankenlosen“ Asylrechts ausbeute, das Asylbewerber(innen) zudem gegenüber Einheimischen bevorteile, sind nicht nur realitätsverzerrend, sie bedienen sich auch eines Argumentationsfundus, aus dem auch Gegner eines liberalen Rechts- und Sozialstaats schöpfen können.

Es wird zu untersuchen sein, wann und wie sich entsprechende Veränderungen der politischen und medialen Diskurse im Schulbuch widerspiegeln, wie die analysierten Schulbuchinhalte das Verhältnis von Demografie und Migration, von Migration und sozialen sowie ökonomischen Problemen, insbesondere den häufig unterstellten problematischen Zusammenhang von Migration, Arbeitslosigkeit und Problemen des Sozialstaates in Deutschland, darstellen.

2.8.3 Migration und Rassismus

In der Öffentlichkeit wurden und werden Diskurse über Migrant(inn)en vielfach mit dem Thema „Rechtsextremismus“ verbunden und die große Zahl rassistisch motivierter Gewalttaten seit Ende der 1980er-Jahre wirft Fragen nach deren Interpretation auf. Vorab ist zur Begrifflichkeit, über die bereits problematisierten Bezeichnungen „Ausländer-“ und „Fremdenfeindlichkeit“ hinaus, festzustellen, dass auch der Begriff „Xenophobie“ unzureichend erscheint, da er unterstellt, dass Furcht vor Fremden eine natürliche Eigenschaft sei, die notgedrungen und stets in feindliche Haltungen und Aktionen umschlägt. Christoph Butterwegge plädierte stattdessen für die Verwendung der Begriffe „Rassismus“ und „Ethnozentrismus“, da damit „mehr als ein Ensemble persönlicher Vorurteile gegenüber Minderheiten bzw. Menschen anderer Hautfarbe/Herkunft“,Footnote 99 nämlich ein sozialer Ausgrenzungs- bzw. Ausschließungsmechanismus, gemeint sei. Rassismus bezeichne „ein gesellschaftliches Macht- und Gewaltverhältnis (institutioneller bzw. struktureller Rassismus), eine Weltanschauung, die Rangunterschiede pseudowissenschaftlich zu rechtfertigen sucht (intellektueller Rassismus) sowie Vorurteile eines Großteils der Bevölkerung gegenüber ethnischen Minderheiten und deren darauf basierende Diskriminierung (individueller bzw. Alltagsrassismus). Während der Rassismus eine – biologische bzw. kulturelle – Differenz betont und damit in letzter Konsequenz den Ausschluss, die Ausgrenzung oder gar Ausmerzung ‚der Anderen’ verlangt, hält der Ethnozentrismus die eigene Überlegenheit für ein zu vermittelndes Gut und neigt zu der Annahme, andere Völker bzw. Volksgruppen müssten sich assimilieren.“Footnote 100 Da bei der Schulbuchanalyse alle genannten Begriffe auftauchen werden, sollte man sich der jeweiligen Konnotationen bewusst sein.

Unterschiedlich und wandelbar sind auch Erklärungen der Forschung für rechtsextremistische Tendenzen.Footnote 101 In den 1950er- und 1960er-Jahren wurden rechtsextremistische Aktionen entweder als Taten unverbesserlicher Altnazis oder aber als Ausdruck jugendlichen Rowdytums gedeutet, Ende der 1960er-Jahre, als die NPD enorme Wahlerfolge feierte, als eine durchaus „normale Pathologie von freiheitlichen Industriegesellschaften“.Footnote 102 Die in den 1950er- und 1960er-Jahren populäre „Totalitarismus-Theorie“ versuchte Faschismus und Kommunismus als „totale Ideologien“ zu vergleichen, ihre Gemeinsamkeiten zu betonen und sie gleichermaßen als demokratiefeindlich abzulehnen.Footnote 103 Auch wenn die Totalitarismusforschung nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems einen „zweiten Frühling“ erlebte,Footnote 104 bleiben Fragen nach den Unterschieden bezüglich Herkunft, Erscheinungsweise der Auffassungen sowie den Formen der Abdankung der jeweiligen Herrschaftssysteme wesentlich.

Seit den 1980er-Jahren knüpfte Wilhelm Heitmeyer zur Erklärung und Interpretation rechtsextremer Einstellungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen an Thesen des Soziologen Ulrich Beck zur „Risikogesellschaft“ an. Dieser sah die bundesrepublikanische Gesellschaft von Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen geprägt, die einerseits die persönlichen Entscheidungsmöglichkeiten enorm vermehren, zugleich jedoch eine Zunahme von Unsicherheiten im Gefolge haben. Infolge von sozialen, politischen und beruflichen Desintegrationsprozessen entstünden bei Jugendlichen Vereinzelungserfahrungen, Ohnmachtsgefühle und Handlungsunsicherheiten, die sie anfällig für rechtsextreme Orientierungen machen.Footnote 105

Wenngleich Heitmeyers Versuch, die Attraktivität rechtsextremer Orientierungen für Jugendliche aufzuzeigen, großen Einfluss hatte, ist auf diesem Weg nicht schlüssig aufzuzeigen, warum die Desintegrationsprozesse sich ausgerechnet in rechtsextremen Einstellungen und Handlungsweisen niederschlagen müssen und nicht in anderen Weisen der Verarbeitung münden.Footnote 106 „Modernisierungsverlierer“ bedienen sich politisch und medial angebotener, ethnisch begründeter Schuldzuweisungen, wobei die unterschiedliche Skandalisierung verschiedener Migrantengruppen auffällt: Migrant(inn)en aus anderen Industrienationen werden anders angesehen und behandelt als Migrant(inn)en türkischer Herkunft, Aussiedler(innen) anders als Flüchtlinge und Asylbewerber(innen). Ein Vorwurf kann allerdings lauten, sich auf derartige Vereinfachungen einzulassen, weil sie entlastend sind, und nicht zu erkennen bzw. bewusst zu übersehen, dass hier rassistische Erklärungsmuster angewendet werden. Zu bedenken sind außerdem die Ergebnisse empirischer Untersuchungen, die aufzeigen, dass rechtsextreme jugendliche Gewalttäter keineswegs – wie es Heitmeyers AnsatzFootnote 107 nahe legt – in der Regel aus zerrütteten, sondern vorwiegend aus ganz „normalen“ Familien stammen und nur zum kleinen Teil über persönliche Desintegrationserfahrungen (Schulabbruch, Arbeitslosigkeit, Beziehungsprobleme, Erfahrungen aus krisenhaften sozialen Milieus) verfügen. Problematisch erscheint zudem, Rechtextremismus vor allem als „Jugendproblem“ zu thematisieren, Rassismus bei Erwachsenen auszublenden und zugleich rechte Jugendliche als „Opfer der Risikogesellschaft“ und nicht als Gewalttäter darzustellen.

Eine Deutung der gewaltsamen Übergriffe gegen Ausländer als „Jugendprotest“ oder gar als „Hilferuf“ verunsicherter Jugendlicher, ja als eine „soziale Bewegung“ einer unverstandenen Generation kritisierte Christoph ButterweggeFootnote 108 zurecht, denn der Bewegungsbegriff, den Neonazis gern für sich reklamieren, sei ein denkbar ungeeigneter Begriff zur Analyse des Rechtsextremismus. Der organisierte Rechtsextremismus sei zudem eine „unsoziale Bewegung“, „die sich keineswegs für sozial Benachteiligte einsetzt, Asylsuchende, Haftentlassene, Menschen mit Behinderung, Obdachlose, Homosexuelle und andere ‚Randgruppen‘ vielmehr ausgrenzt, ihnen sozialstaatliche Leistungen vorenthalten und/oder sie durch Zwangsmaßnahmen disziplinieren will“.Footnote 109 Der von konservativer Seite erhobene Vorwurf, gerade die Linke habe mit ihrer Kritik das Wertefundament der parlamentarischen Demokratie untergraben und mit ihrer Laissez-faire-Haltung in der Erziehung versäumt, zentrale Werte für das Gemeinwesen zu vermitteln, ist unschwer als politische Instrumentalisierung zu durchschauen. Die von der von 1982 bis 1998 amtierenden Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP proklamierte „geistig-moralische Erneuerung“ wird Jugendliche von heute wohl eher beeinflusst haben, als die ohnehin begrenzten Wirkungen der „68er-Generation“.

Der zunehmende Rechtextremismus und die nationalistischen Tendenzen seit den 1980er- und 1990er-Jahren weisen vielmehr auf Zusammenhänge mit den neoliberalen Modernisierungsprozessen in der Bundesrepublik hin.Footnote 110 Im „Zeitalter der Globalisierung“ wurden zur „Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland“ wichtige Errungenschaften des Sozialstaates abgebaut, Sozialleistungen gekürzt, eine erneute Privatisierung der Versicherung von sozialen Risiken durchgesetzt, die Erhöhung der Eigenbeteiligung von Kranken eingefordert und Millionen von Menschen aus den Sozialversicherungssystemen ausgegrenzt. Hinsichtlich der sozialen Leistungen des Wohlfahrtsstaates wurden teilweise kampagnenartig Angriffe gegen den „Missbrauch von Sozialleistungen“ geführt, die zunächst Asylbewerber(innen) betrafen, später auch Sozialhilfeempfänger und Erwerbslose. Die gesellschaftliche Spaltung in den 1980er- und 1990er-Jahren, die unter Hinweis auf eine notwendige Standortpolitik zu einer Wohlstandsmehrung für relativ wenige und zu einer Verarmung vieler Menschen führte, veränderte auch die Bedingungen von Diskursen zu Ausländern(innen). Mit dem Regierungswechsel des Jahres 1982 setzte sich zugleich eine Politik zur Neukonturierung der „nationalen Identität“ Deutschlands durch,Footnote 111 die – durch die deutsche Vereinigung noch befördert – in den 1990er-Jahren begleitet war von teilweise offen gegen Migrant(inn)en gerichteten Kampagnen, an denen sich nicht nur die Boulevardpresse, sondern auch politisch Verantwortliche beteiligten. Fortgesetzt durch den Streit um eine Reform des Staatsbürgerrechts und die „Leitkultur-Diskussion“ nach dem Oktober 2000 wurden überall politisch und medial mehr oder weniger drastisch gegen Zuwanderung argumentierende Reden und Artikel nicht nur von der politischen Rechten formuliert, diskutiert und zugunsten eigener politischen Zielsetzungen fortgeführt.Footnote 112 Dabei war erkennbar, dass ein national und marktradikal orientierter Neoliberalismus die Gesellschaft zunehmend spaltete und ein Klima für ethnische und kulturelle Ab- und Ausgrenzungen erzeugte, das Migrant(inn)en und „Asylanten“ vielfach stigmatisierte oder gar als Schmarotzer des Sozialstaates skandalisierte.

Es wird im Rahmen der Schulbuchanalyse zu untersuchen sein, wie Schulbücher die rassistischen Tendenzen und gegen Migranten gerichteten Haltungen in Deutschland darstellen und erklären und ob sie Zusammenhänge zwischen Neoliberalismus, Nationalismus, Rechtextremismus und Rassismus herstellen.

2.8.4 Konzeptionen zum Zusammenleben von Autochthonen und Allochthonen

In den 1980er-Jahren wurde – zunächst von der politischen Linken und in der Pädagogik – als Vision von einer Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Sprachen, Religionen und Ethnien zusammenleben, das Konzept der „multikulturellen Gesellschaft“ propagiert, wobei der Begriff in der Folgezeit mit unterschiedlichen Inhalten und Intentionen verknüpft wurde.Footnote 113 Kritik daran kam aus unterschiedlichen Richtungen. So wurden Dieter Oberndörfer und Heiner Geißler – beide Mitglieder der CDU – zu Beginn der 1990er-Jahre von konservativen Zuwanderungsgegnern als „Multikulturalisten“ verunglimpft und man meinte, ihnen einen Mangel an Patriotismus vorwerfen zu können.Footnote 114 Dabei plädierte Dieter Oberndörfer – seinem Konzept eines Europas als „offene Republik“ entsprechend – lediglich für die Akzeptanz der de facto seit langem stattfindenden Zuwanderung und für eine liberale Einwanderungspolitik der Bundesrepublik, die schon aus demografischen und wirtschaftlichen Zwängen unabdingbar sei.Footnote 115

Der Münchener Verhaltensforscher Irenäus Eibl-EibesfeldtFootnote 116 behauptete dagegen, die multikulturelle Gesellschaft verstoße gegen natürliche Abgrenzungsprinzipien: Er übertrug kindliche Fremdenscheu auf gesellschaftliche Verhältnisse, stellte „Überfremdungsängste“ und „Fremdenfeindlichkeit“ als angeborene Konstanten dar, wobei ihm die Einwanderung von „Kulturfremden“ als widernatürlich erschien, der Widerstand dagegen als natürlich und verständlich. Eine derart biologistische Betrachtungsweise gesellschaftlicher Vorgänge ist nicht weit entfernt von längst überholt geglaubten „völkischen“ Ideologien und es erscheint wenig verwunderlich, dass sich ähnliche Ausführungen in der rechten Presse wiederfinden.Footnote 117

Von anderer Seite wurde eine gelegentliche „Romantisierung der Multikulti-Idylle“Footnote 118 bemängelt, die Migration ausschließlich oder vorrangig als eine folkloristische oder kulinarische Bereicherung sieht und nicht zu leugnende reale Probleme in Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil übersieht oder unterschätzt. Frank-Olaf Radtke kritisierte andererseits die Überbetonung kultureller Unterschiede, die politische und soziale Konflikte als ethnische Konflikte deute und damit missverstehe.Footnote 119 In der Pädagogik wurde im Lauf der 1990er-Jahre dem Begriff der Interkulturalität der Vorzug gegeben, da man die Vorstellung eines multikulturellen Nebeneinanders für unzureichend hielt und vielmehr ein zu gestaltendes Zusammenleben anstrebte. Festzuhalten ist jedenfalls, dass das Gerede vom „Scheitern von Multikulti“ nicht nur empirisch unzutreffend ist, sondern auch ausblendet, dass es nicht nur in der allochthonen,Footnote 120 sondern auch in der autochthonen bundesrepublikanischen Bevölkerung eine Vielzahl unterschiedlicher Teilkulturen innerhalb pluraler Lebensformen und -stile gibt, ja in einer pluralistischen Demokratie geben muss.

Um die Jahrtausendwende entwickelte sich in der politischen und medialen Diskussion eine neue Argumentationsrichtung, die eine kulturelle Unverträglichkeit von orientalischen und okzidentalen Lebensweisen bzw. Glaubens- und Wertvorstellungen behauptete und in der Zuwanderung von Personen muslimischen Glaubens eine Bedrohung der deutschen Gesellschaft sah. Ausgangspunkt war eine Parlamentsrede des CDU-Fraktionschefs Friedrich Merz im Oktober des Jahres 2000, in der er eine Begrenzung der Zuwanderung von Ausländer(inne)n forderte und feststellte, für Zugewanderte gehe es darum, „sich einer deutschen Leitkultur anzunehmen“.Footnote 121 Der Begriff „Leitkultur“ stammt aus einem Buch des Göttinger Professors Bassam Tibi,Footnote 122 in dem dieser von einer europäischen – wohlgemerkt: nicht deutschen – Leitkultur sprach, die den europäischen Muslimen die Errungenschaften der Aufklärung, der Französischen Revolution und das Prinzip der Menschenrechte anzubieten habe, Errungenschaften, die es nicht aufzugeben gelte.Footnote 123 Bassam Tibis Begrifflichkeit wurde rasch von der politischen Rechten, Teilen der Presse und der Unionsparteien aufgegriffenFootnote 124 und trotz der Distanzierung einiger Parteikollegen für erkennbare politische Zwecke instrumentalisiert. So meinte der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm etwa im Spiegel: „Für mich ist der Begriff Leitkultur das Gegenmodell zu Multikulti“.Footnote 125 Die Mehrheit der Presse kritisierte „Merzens feuergefährliche Ideen“, so die Süddeutsche Zeitung, Footnote 126 und Marion Gräfin Dönhoff widersprach in der Zeit dem als politischem Kampbegriff dienenden Ausdruck in einem Artikel mit der Überschrift „Leitkultur gibt es nicht“: „Es gibt keine angeborenen nationalen Eigenschaften.“Footnote 127 Und Dieter Oberndörfer beharrte auf den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Republik, in der „die Kultur keine verbindlich vorgegebene kollektive Orientierungsgröße sein kann.“Footnote 128

Hinter den strittigen Konzepten sind unterschiedliche Integrationsvorstellungen zu erkennen. Während vor allem konservative Kreise eine erfolgreiche Eingliederung von z. T. erheblichen Assimilationsleistungen der Einwanderer abhängig machen wollten, meinten andere Kräfte, die Gleichberechtigung von Ausländer(inne)n, insbesondere in den Bereichen Wohnung, Schule und Beruf, müsse umgekehrt die Voraussetzung für eine erfolgsversprechende Integration sein. Das aus der amerikanischen Soziologie stammende klassische Assimilationskonzept, Migrant(inn)en würden „ganz von allein“, möglicherweise nach einigen Phasen der Angleichung, ihre ethnische Identifikation aufgeben und Bestandteil des kulturellen Lebens werden, hat einer kritischen empirischen Prüfung nicht standgehalten.Footnote 129 Neuere Konzepte erwarten stattdessen zahlreiche Varianten der partiellen Assimilation bzw. Nicht-Assimilation (Fremdheit, Marginalität) und betonen, dass eine (zeitweise) Segregation eine Hilfe im Einwanderungsprozess sein kann und nicht als dauerhafte integrationsfeindliche Abkapselung interpretiert werden muss.Footnote 130 In Deutschland sind für Angehörige der dritten Migrantengeneration Kontakte zu Einheimischen einerseits selbstverständlich, doch dominiert im primären Bereich von Freundschaften häufig weiterhin Separation, zumal die Medien vielfach separierend wirken und politische Interessen und geringes Vertrauen in eine überzeugende Einwanderungspolitik positive Integrationstendenzen häufig zunichte machen.Footnote 131 „Stark vereinfacht ausgedrückt: Die […] Daten sprechen dafür, dass es bei der Integration der Türkischstämmigen eher an Möglichkeiten als am Willen der Betroffenen fehlt.“Footnote 132

Entgegen der in Politik und Medien vielfach betonten kulturellen Unterschiede erscheinen insbesondere der erreichte Status und die relativen Machtunterschiede zwischen Einheimischen und Zugewanderten bedeutsam, denn die demonstrative Herausstellung einer anderen Kultur oder Ethnie dient auch als Abwehrargument Einheimischer, um den eigenen Status zu sichern. Ethnisierung wirkt insofern als ein sozialer Exklusionsmechanismus, der Minderheiten schafft, die, zumeist negativ etikettiert, Privilegien einer dominanten Mehrheit begründen sollen.Footnote 133 Umgekehrt hängt das Gefühl der Zugehörigkeit zur ethnischen Community, das als Hilfe bei der Selbstvergewisserung in einer zunächst neuen Umgebung dienen kann, auch davon ab, wie die Einheimischen Statuszuweisungen über ethnische Kriterien vornehmen. Dabei spielt offensichtlich das soziologische Alter eine besondere Rolle: So schlossen und schließen sich auch frühere gegen spätere Gruppen von Zuwanderern ab, etwa italienische gegen türkische Einwanderer, ehemalige „Gastarbeiter(innen)“ gegen Übersiedler(innen), Spätaussiedler(innen) gegen Flüchtlinge aus dem Kosovo.Footnote 134

Bei der Schulbuchanalyse wird zu beachten sein, wie die genannten Begrifflichkeiten und Konzepte (Gastarbeiterbegriff, multikulturelle Gesellschaft, Leitkultur, Assimilation und Segregation) Eingang in Inhalte der analysierten Lehrbücher gefunden haben und welche Zielvorstellungen für das Zusammenleben von Autochthonen und Allochthonen erkennbar sind.

2.8.5 Europäische Perspektiven

Arbeitsmigration, Zuwanderung von Flüchtlingen wie auch rassistische Reaktionen in der autochthonen Bevölkerung sind kein ausschließlich deutsches Phänomen.Footnote 135 Bereits bei der Anwerbung von Arbeitsmigrant(inn)en trat die Bundesrepublik in Konkurrenz zu anderen europäischen Staaten und weiterhin zählt die EU zu einer der bevorzugten Einwanderungsregionen, wenngleich nach wie vor die Entwicklungsländer die Hauptlast der globalen Wanderungen tragen.Footnote 136 Nach der Realisierung der vollen Freizügigkeit innerhalb der EU im Jahr 1993, der Öffnung der Binnengrenzen und dem Abbau der internen Grenzkontrollen wurde das Problem der Zuwanderung und der Personenkontrollen an die Außengrenzen der EU verlegt. Für Unionsbürger besteht die volle Freizügigkeit, während für Personen aus Drittländern legale Einreisemöglichkeiten erheblich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wurden und werden. Kritisiert wurde vielfach, Flüchtlinge seien durch die restriktive Einwanderungspolitik vermehrt in die Illegalität gezwungen worden, auch weil ausschließlich staatliche Verfolgung als anerkannter Asylgrund angeführt werden kann.Footnote 137

Insgesamt gesehen besteht ein erheblicher Handlungs- und Harmonisierungsbedarf zur Realisierung einer gemeinsamen europäischen Ausländer- und Flüchtlingspolitik. Verwiesen werden kann beispielweise auf die unterschiedliche Einbürgerungspraxis der europäischen Länder, auf die Unterschiede im Umgang mit Migrationsfolgen und bei der interkulturellen Erziehung. Auch ist es bis heute nicht gelungen, ein einheitliches kommunales Wahlrecht für EU-Bürger zu schaffen. Selbst eine Harmonisierung des Asylrechts sowie gemeinsame Schutzregeln und Verteilungsschlüssel für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge bleiben bis heute ein Desiderat und es erscheint fraglich, ob die Gemeinschaft eine übernationale europäische Einwanderungspolitik überhaupt realisieren will. Die Einsichten, dass Europa in Zukunft auf Zuwanderung angewiesen sein wird und dass die faktische Einwanderung, die in einzelnen Mitgliedsstaaten seit vielen Jahren stattfindet, als solche auch anerkannt wird, damit sie transparent gestaltet und integrationspolitisch begleitet werden kann, müssen sich zunächst einmal durchsetzen.Footnote 138 Fragen zur weiteren Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und dem Wunsch der Türkei nach Aufnahme in die Gemeinschaft scheinen weiterhin strittig.Footnote 139 Das gilt auch für die Vorstellungen, ob Europa sich nach innen als ein Verband separater ethnisch homogener Staaten („Europa der Vaterländer“) oder als kulturell vielgestaltiger Verband und ob es sich als nach außen abgeschottete „Wohlstandsfestung“ oder als weltbürgerliche „offene Republik“ (Dieter Oberndörfer) entwickeln will. Angesichts der Marginalisierung der Dritten Welt, der Bedrohungen durch die Entwicklungen des internationalen Terrorismus und der militärischen Antworten von Industriestaaten hierauf stehen Deutschland und Europa mit ihrer künftigen Entwicklungs- und Migrationspolitik vor großen Herausforderungen.Footnote 140 Klaus J. Bade stellt dazu fest: „Solange das Pendant der Abwehr von Flüchtlingen aus der ‚Dritten Welt‘, die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Ausgangsräumen, fehlt, bleibt diese Abwehr ein historischer Skandal, an dem künftige Generationen das Humanitätsverständnis Europas im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert bemessen werden“.Footnote 141

Schließlich wird zu untersuchen sein, ob bzw. wie in den analysierten Schulbüchern die europäische Dimension des Migrationsgeschehens erkennbar wird oder ob den Schüler(inne)n der Eindruck vermittelt wird, bei den Migrationsprozessen handle es sich vorwiegend oder ausschließlich um ein deutsches Phänomen.