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Erschossen, erschlagen, von Panzern überrollt

Tian’anmen-Platz Tian’anmen-Platz
4. Juni 1989: Ein Archivbild zeigt den Tian’anmen-Platz nach dem Massaker
Quelle: DAPD/Vincent Yu
Das Tian’anmen-Massaker ist auch nach 23 Jahren in China ein Tabu – die genauen Opferzahlen sind bis heute ein Staatsgeheimnis. Eine Hinterbliebenen-Initiative erhebt nun schwere Vorwürfe.

Das Urteil über Pekings Führer klingt verbittert und hoffnungslos. So desillusioniert waren die "Mütter des Tian’anmen" noch nie. Die Hinterbliebenen-Initiative für die Opfer des 4. Juni 1989 schreibt: Chinas Parteichef Hu Jintao stehe einer Gruppe "verknöcherter Bürokraten" vor, die nur in "ausgetretenen Pfaden" laufen könnten.

In den zehn Jahren, seitdem sie die Geschicke des Landes bestimmen, hätten sie unterlassen und verhindert, dieses dunkle Kapitel aufzuarbeiten, die Opfer des Massakers zu rehabilitieren und einen Neuanfang zu wagen.

Alle Probleme, vor denen die Mütter einst Chinas Gesellschaft warnten, hätten sich unter ihrer Herrschaft noch "rascher verschärft." Die Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte habe "extrem" zugenommen, die Kluft zwischen arm und reich sich "dramatisch vertieft".

Die "system-immanente Korruption ist außer Kontrolle". Die Moral "steht vor dem Kollaps." Wenn es um die Zukunft gehe, fühlten sich heute "die Menschen völlig hilflos und verwirrt."

Geschehnisse aufarbeiten statt tabuisieren

Die Anklagen stehen in einem neuen offenen Brief. 121 Pekinger Frauen und Männer im Rentenalter haben ihn unterzeichnet, deren Kinder oder engste Verwandte beim Armeeeinmarsch in Pekings Innenstadt in der Nacht auf den 4. Juni erschossen, erschlagen oder von Panzern überrollt wurden.

29 weitere Namen stehen für Angehörige der Hinterbliebenen-Inititative, die in den 23 Jahren seither verstorben sind. Doch sie gehören weiter dazu. Allen Verfolgungen zum Trotz haben die 150 Klageführer Jahr um Jahr ungebeugt Pekings Regierung angerufen, das Unrecht aufzuarbeiten.

Ihre Unterschriften stehen auch wieder unter ihrem jüngsten Appell, den die Menschenrechtsgruppe Human Rights in China (HRiC) verbreitete. Er richtet sich an die kommende Parteispitze nach dem Generationenwechsel auf dem 18. Parteitag im Oktober.

Sie soll die Geschehnisse aufarbeiten, statt wie ihre Vorgänger weiter zu tabuisieren. Es sei "nie zu spät, um sich aus einer verfahrenen Lage zu retten und aus ihr herauszufinden. Das ist der einzige Weg für Chinas Führer mit den Sünden der Vergangenheit fertigzuwerden."

Korruption erinnere an feudale Zustände

Parteichef Hu und Premier Wen Jiabao hätten in ihrer Dekade 2002 bis 2012 die "historische Gelegenheit" für eine Aufarbeitung des 4. Juni und für eine Aussöhnung der Gesellschaft verpasst.

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Sie hätten die Chance als nicht direkt Verantwortliche für das Massaker gehabt. In einem "Klima der Unterdrückung und Stagnation" habe sich nur Premier Wen mehrfach zum Wandel bekannt und nach politischen Reformen gerufen. Aber seine Äußerungen entpuppten sich als Lippenbekenntnisse.

Wen habe sich nicht durchsetzen können, schreiben die Mütter: Sie vergleichen das heutige politische System Chinas mit einer Gemengelage, in der "spezielle Interessengruppen" den Ton angeben.

Die Immobilität des Systems und Korruption erinnerten an die feudalen Zustände, wie sie im klassischen Familienroman Chinas "Traum der Roten Kammer" beschrieben sind, der jedem Chinesen vertraut sind. Dort diente und schützte die politische Macht die Interessen von vier großen Familien. So ähnlich sei es heute

"Die Clans sind eng verflochten. Was einem schade, schade allen. Was einem nütze komme allen zugute." Für die heutige chinesische Führung habe nur der Gedanken an "Stabilität höchste Prorität", um an ihrer Herrschaftsmacht fest zu halten.

Zahl der Toten bis heute ein Staatsgeheimnis

Die 1995 gegründete Angehörigen-Initiative, die sich seit 2000 "Mütter des Tian’anmen" nennt, ist zur Sammlungsbewegung für alle Hinterbliebenen der Opfer des Militäreinsatzes geworden.

Gründerin wurde die heute 76-jährige ehemalige Philosophiedozentin an der Volksuniversität Peking, Ding Zilin. Ihr 17 Jahre alter Sohn starb in der Nacht auf den 4. Juni 1989 in Peking.

Nach und nach schlossen sich den "Tiananmen-Müttern" 150 Angehörige an, die drei Forderungen an Pekings Führer stellen: Für "Wahrheit, Wiedergutmachung und Verantwortung" der Ereignisse zu sorgen.

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Wie viele Menschen in der Nacht auf den 4. Juni starben ist bis heute Pekings Staatgeheimnis. Nach mühseligen und von der Regierung behinderten Recherchen konnten die Mütter bis heute 203 Todes-Fälle dokumentieren mit dem Namen des Opfers, dem Ort und wie es dazu kam. Ding Zilin schätzt die Zahl aller Getöteten in der Nacht auf den 4. Juni auf über 1000 Personen.

Tabuthema immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt

Ihre innerhalb Chinas blockierte Webseite zeigt auf Karten die drei Aufmarschwege der Armee in die Stadt. Ding veröffentlichte in Hongkong das Buch "Suche nach den Opfern des 4. Juni" mit Biografien von 186 der Getöteten.

Von den Tausenden, die Pekings Sicherheitsbehörden nach dem 4. Juni festnahmen, sind nach Schätzungen der US-Gefangenhilfs-Organisation "Duihua" (Dialog) heute noch ein knappes Dutzend in Haft.

Duihua, die in Kontakt mit chinesischen Justizstellen steht, erfuhr aus amtlichen Quellen, dass einst 1602 Personen ins Gefängnis wegen aktiver Teilnahme an den Massenprotesten 1989 kamen. Von sieben sich noch in Haft befindenden Personen kennt Duihua die Namen, darunter die beiden wegen "konterrevolutionärer Verbrechen" zu Todesstrafen verurteilten heute 73 Jahre alten Jiang Yaqun und Miao Deshun (48).

Ihre Strafen wurden in Lebenslang umgewandelt. Beide sollen 2013 und 2018 entlassen werden. Sie wären die letzten Häftlinge von 1989.

Mit alljährlichen Petitionen, Briefen und einer 1999 vergeblich vor Gericht eingereichten Klage konnten die Mütter des Tian’anmen das Tabuthema immer wieder auf die Tagesordnung setzen.

Sie verlangen nach einer gerechten Untersuchung ,wer die Verantwortlichen waren, auch wenn viele darunter, wie etwa Deng Xiaoping bereits gestorben sind. "Die Zeit für die Lösung des 4. Juni werde kommen.". In ihrem neuen Brief heisst es: "Wir werden nicht aufgeben. Wir werden unsere Forderungen nicht ändern."

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