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Revolutionierte die Literaturkritik und wäre am Donnerstag 100 Jahre alt geworden: Roland Barthes.

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Roland Barthes war einer der anregendsten Intellektuellen Frankreichs. Er revolutionierte die Literaturkritik und verschaffte dem Strukturalismus Eingang in die Literaturwissenschaft. Die französische Schriftstellerin und Literaturhistorikerin Tiphaine Samoyault leuchtet in ihrer soeben in deutscher Sprache erschienenen großartigen Biografie alle Aspekte von Leben und Werk dieses unorthodoxen Denkers aus.

STANDARD: Frau Professor Samoyault, beeindruckend ist die thematische Vielfalt von Roland Barthes, und einen erstaunlichen Umfang von zwei Dutzend Büchern und mehreren hundert weiteren Veröffentlichungen weist sein Werk auf. War Barthes der französische Intellektuelle par excellence?

Samoyault: In der Tat konnte Barthes über alles reden. Er äußerte sich über das Kochen, die Mode, die Malerei, die Fotografie, die Soziologie, die Literatur, die Politik. Im Unterschied zu den Intellektuellen, die heute über alles reden, glaubte er an die Wirksamkeit des Wortes. Er war von der tiefen Überzeugung durchdrungen, dass seine Worte etwas verändern könnten. Insofern verkörperte er das Bild, das man sich vom französischen Intellektuellen macht. Aber obgleich er sehr medienwirksam war, nahm er doch eine Außenseiterposition abseits der intellektuellen Landschaft ein. Das hing mit seinem Werdegang zusammen. Seine Tuberkulose verbannte ihn als Jugendlicher für mehrere Jahre ins Sanatorium. Dadurch war ihm der klassische Weg vom Studium an einer Elitehochschule bis zur institutionellen Anerkennung verwehrt, und er brauchte viel Zeit, um diese Anerkennung zu erlangen.

STANDARD: Betrachtet man Barthes Bibliografie, gewinnt man den Eindruck, als habe er alles in Text verwandelt, jede Lektüre, aber auch alle Erlebnisse und Eindrücke. Lebte Barthes um zu schreiben?

Samoyault: Das war bereits in seiner Jugend der Fall. Aus den langen Briefen, die Barthes aus dem Sanatorium an seine Freunde und seine Familie schrieb, lässt sich nicht nur die Entwicklung eines Intellektuellen nachverfolgen, der enorm viel liest und sich autodidaktisch bildet, sondern man erkennt auch bereits, wie der Wunsch zu schreiben Gestalt gewinnt.

An der Kartei, die Barthes in seiner Jugend anlegte und bis zu seinem Tod fortführte, kann man sehen, wie er sich ein Leben im Schreiben und für das Schreiben einrichtete. Der Ablauf des Tages war organisiert, um sich gänzlich dem Nachdenken und Schreiben widmen zu können. Es gab in diesem Leben durchaus mitreißende Abenteuer. Aber das wichtigste Abenteuer war das Schreiben.

STANDARD: Welcher Stellenwert kommt in diesem Zusammenhang Barthes Homosexualität zu?

Samoyault: Barthes lebte seine Sexualität frei. Nirgendwo bringt er irgendwelche Gefühle der Schuld oder des Bedauerns über seine Homosexualität zum Ausdruck. Das hing vielleicht mit seiner calvinistischen Erziehung zusammen und vor allem mit der Freiheit, die ihm seine Mutter ließ und auf die er viel Nachdruck legte. Obwohl er eine enge Bindung an seine Mutter hatte, gab es keine mütterliche Machtausübung. Im Gegenteil, es war eine Beziehung großer Freiheit.

Die Homosexualität war aber auch bestimmend für viele Kräfte in Barthes Denken, insbesondere dem Denken eines Neutrum. Sie erlaubt es, sich von männlicher oder weiblicher Identität als verdinglichter Identität zu befreien. Das war es, was Barthes interessierte, als er den Plan fasste, über Homosexualität zu schreiben. Er wollte aus ihr ein Prinzip der Auflösung machen, das die Identität stört oder verunsichert und sich damit als produktiv für das Denken erweist.

STANDARD: "Mythen des Alltags" ist bis heute Barthes meistgelesenes Buch, obwohl es darin um die französische Gesellschaft der fünfziger Jahre geht. Spielt da Nostalgie eine Rolle?

Samoyault: Sicher bereitet es Vergnügen, diese französische Gesellschaft der fünfziger Jahre zu sehen. Das war ein Elysium des Konsums. Aber darin liegt nicht die Kraft dieses Buches. Es ist vielmehr Barthes Art zu denken und zu erkennen, was eine Gesellschaft oder eine Epoche ausmacht. Diese Art, die Zeichen zu lesen, kann man dem Text entnehmen und auf andere Wirklichkeiten übertragen. Ich war im Mai in China. Da haben Studenten Dinge aus der gegenwärtigen urbanen Wirklichkeit Chinas genommen wie das elektrische Fahrrad oder die Atemschutzmaske und im Stil Barthes eine Mythologie des chinesischen Alltags erarbeitet. Zugleich fand ein Diskurs statt über die Veränderung der chinesischen Gesellschaft.

STANDARD: "Fragmente einer Sprache der Liebe" war der größte Erfolg zu Lebzeiten Barthes. Gelang ihm mit diesem Buch der Brückenschlag aus der intellektuellen Szene in die allgemeine Gesellschaft?

Samoyault: Bereits mit "Mythen des Alltags" hatte er eine solche Brücke geschlagen. Allerdings muss man anmerken, dass die Trennung in den siebziger Jahren geringer war als heute. Wenn man von einer außergewöhnlichen Epoche des französischen Denkens spricht, dann auch deswegen, weil dieses Denken von der Gesellschaft aufgenommen wurde. Die Vertreter der Geisteswissenschaften hatten damals weitaus größere Wirkung als heute.

Hinzu kam, dass Barthes im Unterschied zu Foucault und auch zu Sartre keine komplizierten Bücher verfasste. Er schrieb seine Bücher ganz frei, ohne eine Bibliothek aufzusuchen, und führte einen Diskurs, der nicht den einschüchternden Charakter der Wissenschaft hatte. Allerdings schnitt er sich damit vom akademischen Milieu ab. "Fragmente einer Sprache der Liebe" stieß im wissenschaftlichen Bereich nicht auf Akzeptanz.

STANDARD: Sie zitieren Beschwerden von Studenten, die Barthes Vorlesungen am Collège de France "enttäuschend, banal" fanden. War Barthes an einem Endpunkt angelangt, oder war der Strukturalismus an ein Ende gekommen?

Samoyault: Als Barthes seine Kurse am Collège de France hielt, war er kein Strukturalist mehr. So wie der Marxismus nach einer Periode intensiver Auseinandersetzung in den Hintergrund trat, war auch der Strukturalismus nur für eine gewisse Phase bestimmend. Sein Kurs am Collège de France bestand aus Überlegungen zu Themen, über die er noch kein gesetztes Wissen und auch keine Methode hatte. Alles Wissen musste erst während des Kurses gemeinsam entwickelt und aufgebaut werden. Diese experimentelle Seite mag die Studenten verstört haben.

STANDARD: Worin liegt aus Ihrer Sicht die anhaltende Faszination von Barthes?

Samoyault: Er erfand eine Form der Kritik, die nicht ideologisch war. Liest man andere Kritiken aus der Zeit, fällt auf, wie altmodisch sie wirken. Barthes dagegen verstand es, die Zeichen zu sehen. Und das fasziniert an ihm bis heute, auch wenn sich die Zeichen gewandelt haben. Seine Kritik war immer verbunden mit einer Anerkennung. Er lehrt uns, die Welt anzuschauen, empfänglich zu sein für ihren Zauber und zugleich Distanz zu wahren, um Kritik üben zu können.

STANDARD: Als Swetlana Alexijewitsch den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, gab es Stimmen, die meinten, das sei keine Literatur. Wie hätte Barthes das gesehen?

Samoyault: Barthes interessierte sich immer für Neuheiten. Er war offen für das Erscheinen neuer Formen. Alexijewitsch verkörpert eine neue Art, Literatur zu schreiben. Sie stellt eine neue Beziehung her zwischen der Wirklichkeit und dem Schreiben. Auf ähnliche Weise versuchte Barthes, das Schreiben und die Literatur mit dem Denken und dem Essay zu verbinden. Liest man seine Texte aus den siebziger Jahren, ist man überrascht von der Qualität seines Schreibens. Das sind Texte, die der wissenschaftlichen Reflexion zugezählt werden. Aber man könnte sie in die Literatur aufnehmen.

STANDARD: Und was ist geblieben von Barthes Erkenntnissen?

Samoyault: Die kreative Kraft der Lektüre. In dem Text "Der Tod des Autors" geht es weniger um den Tod des Autors als um die Inthronisierung des Lesers. Dieser erhält die Möglichkeit, den Text selbst zu produzieren. Das ist aber keine Beförderung des individuellen Lesers, kein Relativismus. Diese Kraft ist nur an die Subjektivität gebunden, nicht an das Individuum.

STANDARD: Welches von Barthes Büchern betrachten Sie als sein bedeutsamstes?

Samoyault: "Über mich selbst". In diesem Buch bemüht sich Barthes um eine neue Art des Subjekts der Erkenntnis. Zunächst stürzt er das literarische Genre der Autobiografie komplett um, wie auch andere das getan haben, zum Beispiel Sartre mit seinen autobiografischen Schriften "Die Wörter". Barthes aber geht noch radikaler vor. Was er einsetzt, ist ein in seiner Existenz und Erkenntnis zersplittertes Subjekt. Das bedeutet, dass es kein Zentrum, keinen verbindlichen Punkt der Erkenntnis und des Diskurses mehr gibt. Darum ist "Über mich selbst" nicht nur aus philosophischer Sicht bedeutsam, sondern auch für unsere Epoche wichtig. Barthes nimmt darin die Position vorweg, die wir heute in Bezug auf Wissen haben, nämlich dass es durch die neuen Mittel der Kommunikation zwar zur Verfügung steht, uns aber in eine Position versetzt, die in Bezug zu diesem Wissen völlig zersplittert ist.

STANDARD: Für Ihre Biografie konnten Sie auch unbearbeitetes Material heranziehen. Hat sich das Bild von Barthes dadurch verändert oder verschoben?

Samoyault: Eine erste Etappe der Umformung des Bildes von Barthes erfolgte bereits mit der posthumen Veröffentlichung seiner Texte aus dem Nachlass. Dabei handelte es sich um literarische und sehr intime Texte wie etwa "Begebenheiten" oder "Tagebuch der Trauer". Die Archive, die ich benützte, bekräftigen diese Veränderung. Sie zeigen einen Barthes der Romanprojekte, der nicht ausschließlich wissenschaftlich tätig ist. Und vor allem bestätigen sie die starke Präsenz von Barthes in der Geschichte seiner Zeit, die auch eine politische Geschichte Frankreichs war. In Bezug auf die Politik hat sich das Bild von Barthes sehr erweitert. Ich setze mich dafür ein, den einfach hedonistischen Barthes, der seine Subjektivität schätzt, einzutauschen gegen einen wahrhaft politischen Barthes. (Ruth Renée Reif, 12.11.2015)