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Kultur „Lieber Thomas“

Der letzte Held der DDR

Filmredakteur
Lieber Thomas

Thomas ist als deutsch-jüdischer Emigrant in England geboren, um Anfang der 1950er Jahre zusammen mit seiner Familie in die junge DDR überzusiedeln. Sein Vater will vor allem den neuen deutschen Staat aufbauen. Thomas will sich lieber als Schriftsteller verwirklichen.

Quelle: Wild Bunch Germany

Autoplay
Andreas Kleinert hat das Leben des Thomas Brasch verfilmt. Lyriker, Filmregisseur, radikaler Individualist. „Lieber Thomas“ ist aber auch ein Film über die Familie Brasch, die Manns Osteutschlands. Und er läutet die dritte Phase der DDR-Filmvergangenheitsbewältigung ein.

Heinrich Breloer hat seine Schriftsteller-Familiensaga „Die Manns“ genannt. Andreas Kleinert hätte das volle Recht gehabt, seine Künstler-Familiensaga „Die Braschs“ zu nennen, denn die Braschs sind für den Osten das, was die Manns für den Westen waren.

Aber Kleinerts Film heißt „Lieber Thomas“, denn es ist vor allem eine kritische Liebeserklärung an Thomas Brasch – ausnahmetalentierter Lyriker, Filmregisseur mit zwei Cannes-Einladungen, Frauenmagnet, Systemsprenger, Romantiker der Revolution, Kokainist.

Man muss heute, zwanzig Jahre nach seinem frühen Tod, das Geflecht Brasch kurz aufdröseln. Der Vater Horst, ein Jude, wird 1939 durch einen der Kindertransporte nach England gerettet und kehrt nach dem Krieg als überzeugter Sozialist zurück.

Natürlich in die DDR, wo er mit der Seilschaft Honecker Karriere macht und Vize-Kulturminister wird. Thomas’ kleiner Bruder Klaus ist ein talentierter Schauspieler mit Brando-Allüren.

Thomas Brasch ist liiert mit der rumänischen Sängerin Sanda Weigl, die bei der Ankunft in Schönefeld von ihrer Tante abgeholt worden war, der Brecht-Witwe Helene Weigel, die nun das Berliner Ensemble (BE) regierte. Sandas Bruder, der Schauspieler Vladimir Weigl, hat eine Tochter mit der blutjungen Katharina Thalbach, Tochter des BE-Hausregisseurs Benno Besson.

Kein Dissident, kein Oppositioneller

Katharina wiederum verliebt sich Hals über Kopf in Thomas. Sanda heiratet dann den Autor Klaus Pohl, der viel später einen Schüsselroman über diese Braschs schreiben wird.

Schon dieser ziemlich kursorische Überblick über Braschsche Familienbande lässt erahnen, welche Kräfte in Bewegung gesetzt werden, wenn einer da nicht mitspielen will. Und Thomas ist kein Mitspieler.

Er ist auch kein Dissident, kein Oppositioneller, er ist ein radikaler Individualist. Das geht gut, solange er in der Prenzlauer Berg-Bohème unter dem Radar bleibt, wo man Che Guevara statt Walter Ulbricht an der Wand hängen hat.

Das geht schrecklich schief, als er und Sanda nach der Prager Invasion 1968 Flugblätter in die Briefkästen stopfen: Stasi. Hohenschönhausen. „Bewährung“ in der Produktion, weil der Vater interveniert hat, den der Starrsinn des Sohnes die Parteikarriere kostet. Immerhin, Thomas lernt unter dem Proletariat des Kabelwerks doch so einiges, was er für das Leben und die Lyrik brauchen kann.

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Regisseur Andreas Kleinert jobbte erst als Transportarbeiter. Er hatte gerade sein Regiestudium in Babelsberg beendet, als die Mauer fiel. Man kann in seinen Filmen viel Autobiografisches entdecken.

Der unerschütterlich an den Sozialismus glaubende Horst Brasch ist auch Kleinerts Vater, der stets unerschütterlich an die 98-Prozent-Wahlergebnisse in dem SED-Staat glaubte. Ausgerechnet bei den manipulierten Kommunalwahlen von 1989, die das Ende der DDR einleiteten, war er Mitglied der Wahlkommission und musste sich wegen der Fälschungen vor Gericht verantworten.

Erzählen über die DDR aus der Post-DDR

„Lieber Thomas“ läutet eine neue, die dritte Phase der DDR-Filmvergangenheitsbewältigung ein. Die begann einst mit depperten Vopos und Spreewaldgurken in „Sonnenallee“ und „Good Bye, Lenin!“. Das frisch vereinte Land musste sich erst den Schrecken der Diktatur aus den Klamotten lachen.

Mit dem „Leben der Anderen“ begann die filmische Aufarbeitung des Überwachungssystems, die bis heute andauert; im August kommt „Nahschuss“ in die Kinos, über das letzte vollstreckte Todesurteil in der DDR.

„Lieber Thomas“ (und Andreas Dresens „Gundermann“) stehen hingegen für das Erzählen über die DDR aus der Post-DDR heraus: durch eine Generation dort geborener Filmemacher, die ihre Karriere erst nach der Wende begannen.

Es geht, wie in den Kolonialismusdebatten, um die Formung des Narrativs durch die Betroffenen selbst beziehungsweise deren Kinder, um die Rückeroberung der Geschichtshoheit durch die Unterlegenen der Geschichte.

Dazu gehört, wie es auch in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung geschieht, das Erfinden von Helden. Thomas Brasch ist, diese Kategorie muss jetzt einmal eingeführt werden, ein Albrecht-Schuch-Held. Albrecht Schuch spielt seit einigen Jahren jede gute Rolle, die es im deutschen Film zu geben scheint.

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Bennis Anti-Aggressionstrainer in „Systemsprenger“, Franz Biberkopfs Verderber in „Berlin Alexanderplatz“, den haltlosen Freund von „Fabian“ in Dominik Grafs neuer Kästner-Verfilmung, den Gestapo-Chef in der neuen „Schachnovelle“ und kommendes Jahr einen der Weltkriegssoldaten im Remake von „Im Westen nichts Neues“.

Brasch kokettierte mit dem Verbrechen

„Lieber Thomas“ scheut sich nicht, Schuchs Brasch zu mögen. Seine Widerspenstigkeit und Unbeugsamkeit, Widersprüchlichkeit und Unstetheit, seine unermesslichen Ansprüche an sich selbst. Sein Starsein und sein Gefallen daran, Star zu sein.

Brasch kokettierte mit dem Verbrechen als der einzig ernsthaften Negierung der bürgerlichen Existenz; Jahrzehnte lang schrieb er an einem Roman über einen Serienmörder, doch die 16.000 Schreibmaschinenseiten wurden nie veröffentlicht.

Kleinert visualisiert solche Fantasien, mit einer schockierenden Mord/Selbstmordszene und einer Bonnie-and-Clyde-Schießerei. In solchen Sequenzen geht der Film weit über das handelsübliche Biopic hinaus, ein Film über einen Unangepassten muss Unkonventionelles wagen.

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Darin liegt der Unterschied zu Annekatrin Hendels Kinodokumentation „Familie Brasch“ von vor drei Jahren, die auf viele Zeitzeugen zurückgreifen konnte. „Lieber Thomas“ ist einer von jenen „Basierend auf realen Ereignissen“-Filmen, die sich Freiheiten herausnehmen und die Wahrheit der Fakten durch eine Wahrheit der Sinnhaftigkeit ersetzen.

Vielleicht kam deshalb das Drehbuch von Klaus Pohl nicht zum Zuge, was dem Film einige Skepsis von Seiten der zahlreichen Braschisten einbringen dürfte. Doch sie bekommen stattdessen einen wahren Filmhelden, einen besessenen Autor, der einst ein Stück schrieb, das nur aus Sätzen des Neuen Deutschland bestand (aber trotzdem nicht aufgeführt werden durfte), sowie einen Charismatiker und einen vom wahren Sozialismus träumenden Idealisten.

Einen Mann, der sich nicht zu schade dafür ist, mit kapitalistischen Verlegern um Hunderttausende zu pokern. Ach ja, und auf der Abschiedsfeier vor seiner Übersiedlung in den Westen soll er den vernichtendsten aller DDR-Witze geprägt haben: „Der Letzte macht das Licht aus.“

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