Typisch deutsch – und doch ein globales, internationales Event: Auf der Suche nach gro�en Serien-Stoffen, die auch international re�ssieren k�nnten, musste man irgendwann auf die Wiesn kommen. Im Mittelpunkt von „Oktoberfest 1900“ (BR, Degeto, MDR, WDR / Zeitsprung Pictures) steht Curt Prank, ein Vision�r der freien Marktwirtschaft; ausgerechnet dieser „Zugereiste“ will mit einer „Bierburg“ f�r 6000 G�ste das beschauliche Volksfest revolutionieren. Die ambivalente Hauptfigur gibt auch filmisch den Ton an: Und so machen denn Produktion, Buch und Regie aus deutscher Kulturgeschichte einen wilden filmischen Ritt. Die Geschichten sind im Detail nicht themengesteuert, daf�r finden die Diskurse der Zeit (Kapitalismus, Emanzipation, Gegenkultur, Kinematographie) in der sechsteiligen Serie ihren Niederschlag. Die Konflikte werden mit Shakespearscher Wucht ausgelebt, mal als gro�e Oper, mal mehr im schmuddeligen Western-Look. Getragen wird „Oktoberfest 1900“ von eigensinnigen Charakteren & markanten Schauspielerk�pfen, die filmisches bigger than life ebenso wie theatrales Drama beherrschen. Die sinnliche Kraft aber bekommt das zumeist d�stere Ganze durch die Inszenierung. Extreme Kontraste und hohe Schwarzwerte, Licht-, Schatten- & Farbenspiele sowie eine sehr bewegliche Kamera fordern & begl�cken zugleich das Auge des Zuschauers. Eine Serie, die auch Netflix & Co alle Ehre machen w�rde.
Foto: BR / Zeitsprung / Dusan MartincekProsit der Gem�tlichkeit. Der Prank-Wotan (Maticevic) in seiner Walhall-Bierburg.
Auf der Suche nach gro�en Serien-Stoffen, die auch international re�ssieren k�nnten, musste man irgendwann auf das Oktoberfest kommen: Bier, das beliebteste alkoholische Getr�nk zwischen Garmisch und Flensburg, dazu ein Prosit auf die sprichw�rtliche Gem�tlichkeit – und dann dieses an Trink- und Sangesritualen reiche, gr��te Volksfest der Welt, das j�hrlich �ber sechs Millionen Besucher aus aller Herren L�nder anlockt – gibt es etwas Deutscheres?! Aus dem einstmals lokalen Rummel mit einfachen Bretterbuden, das als ein deftiges Freizeitvergn�gen f�r die kleinen Leute galt, ist heute eine touristische Massenveranstaltung geworden: ein globales, internationales Event. Die sechsteilige Serie „Oktoberfest 1900“ erz�hlt von einem Wendepunkt in der Geschichte der Wiesn, die seit 1810 zum bayerischen Brauchtum geh�rt. Auf dem Weg ins 20. Jahrhundert setzte sich der Fortschritt gegen die in Bayern so gern kultivierte Tradition durch: Ausgerechnet ein „Zugereister“, der N�rnberger Gastro-Unternehmer Georg Lang, revolutionierte das Volksfest mit dem Bau einer „Bierburg“ f�r 6000 G�ste. Dieser weitsichtige Gesch�ftsmann diente als Inspirationsquelle f�r die Hauptfigur der viereinhalbst�ndigen BR-Serie, koproduziert von der Degeto, dem MDR und WDR, die an drei Abenden (innerhalb von acht Tagen) im Ersten ausgestrahlt wird.
Die Kritik war bereits online, da wurde mir zugetragen, dass Netflix die internationalen Rechte der Serie erworben hat und sie unter dem Titel "Oktoberfest – Beer & Blood" ab dem 1. Oktober weltweit in neun Sprachen auswerten wird.
Foto: BR / Zeitsprung Pictures"Wir geb�ren S�hne, ziehen sie auf mit allem, was wir haben, damit's M�nner werden und sie uns die Welt wegnehmen." Eine Frau, der nur der Wahnsinn bleibt, in dieser egoistischen, brutalen M�nnergesellschaft: Maria Hoflinger (Martina Gedeck)
Im Mittelpunkt steht Curt Prank (Misel Maticevic), ein Vision�r des aufsteigenden Kapitalismus. Um seine Bierburg bauen zu k�nnen, ben�tigt er f�nf Budenpl�tze. Die einheimischen Brauer wollen zwar keine ausw�rtige Konkurrenz und die kleinen Wirte, die ums �berleben k�mpfen, erst recht nicht, doch mit Hilfe eines Stadtrats (Michael Kranz) kommt Prank seinem Traum n�her. Nur einer, Ignatz Hoflinger (Francis Fulton-Smith), will seinen Budenplatz nicht verkaufen. Wenig sp�ter schwimmt sein Sch�del in der Isar. Seine verschuldete Witwe (Martina Gedeck) will unbedingt ihren Platz auf der Wiesn behalten, wird allerdings durch eine Intrige ausgebootet. Ihre beiden S�hne, der Brauerei-affine Roman (Klaus Steinbacher) und Ludwig (Markus Krojer), dessen Herz mehr f�r die Kunst schl�gt, m�ssen mitansehen, wie sich ihre Mutter zunehmend von ihnen entfremdet und im Wahnsinn zu enden droht. Sie h�lt den N�rnberger Gro�brauer f�r den M�rder ihres Mannes. Ganz falsch liegt sie damit nicht. Und nun hat ihr Sohn Roman auch noch Pranks Tochter Clara (Mercedes M�ller) geschw�ngert. Im Kampf gegen das M�nchner Bier-Kartell w�rde Prank mit den Hoflingers gern gemeinsame Sache machen, doch noch hat die narrische Witwe das Sagen. Aber da gibt es ja noch den M�nchner Gro�brauer Anatol Stifter (Maximilian Br�ckner). Der hat durchgesetzt, dass nur heimisches Bier beim Oktoberfest ausgeschenkt werden darf, damit er nun sein Gebr�u an Prank gewinnbringend verkaufen kann. Bei dem Gesch�ft ist er gar nicht mal so gierig, verlangt aber als pers�nliche Zugabe Claras Hand.
Foto: BR / Zeitsprung / Stephan PickDas m�chtige M�nchner Bier-Kartell, allen voran der eitle, arrogante Gro�brauer Anatol Stifter (Maximilian Br�ckner), hat �berall seine schmutzigen H�nde im Spiel. Inszeniert werden diese Szenen entsprechend wie konspirative Geheimlogen-Treffen.
„Wer die Zeichen der Zeit erkannt hatte, musste schneller und st�rker sein als sein Konkurrent. Genau davon handelt die Geschichte. Und davon, wie viel Menschlichkeit dabei auf der Strecke bleibt. Gewalt, physisch wie auch psychisch, lie� sich da dramaturgisch kaum verhindern.“ (Ronny Schalk, Head-Autor)
Foto: BR / Zeitsprung / Dusan MartincekSufragetten-Manier. "Ich hab die Schnauze voll von M�nnern, die mir vorschreiben, wie ich mein Leben zu f�hren habe." Es dauert, bis sich Colina Kandl (Brigitte Hobmeier) emanzipiert. Dann aber ist ihr die Solidarit�t der Biermadeln sicher.
Die Charaktere stecken voller Eigen-Sinn. Einige sind wuchtig, verschlagen, geheimnisvoll, zeigen ihre dunkle Seite. Besonders Misel Maticevics Prank ist eine Figur von gro�er Ambivalenz: Obwohl er immer wieder einen Mann f�rs m�rderisch Grobe (Martin Feifel) f�r seine Dienste in Anspruch nimmt und er seinen Schwiegersohn in spe eines Abends brutal zusammenschl�gt, sammelt der ehemalige Bordellbesitzer im Gegensatz zur verlogenen feinen M�nchner Gesellschaft mit ihrem Standesd�nkel zunehmend Sympathiepunkte. Prank ist zwar alles andere als eine klassische Identifikationsfigur, doch Maticevic gibt ihn charismatisch. Auch der jugendliche Liebhaber ist keiner, den der Zuschauer in sein Herz schlie�t; daf�r ist er anfangs viel zu wankelm�tig. Deutsche Produktionen haben also – was die Zeichnung der „Helden“ angeht – etwas gelernt von den internationalen Premium-Serien. Lichtblicke im Macho- und Macher-Imperium des Jahres 1900 bieten neben dem j�ngsten Hoflinger-Spross, der seine Liebe zur Schwabinger Boh�me, insbesondere zu einem polygamen Lebemann (Vladimir Burlakov), entdeckt, zwei Weibsbilder: zum einen Colina Kandl (Brigitte Hobmeier), die falsche Anstandsdame im Hause Prank, die nicht ganz unschuldig ist an der vermaledeiten Schwangerschaft und sich deshalb fortan als Biermadl auf dem Oktoberfest verdingen muss – und dort nicht nur frivol singend Karriere macht. Sie ist einer realen Person nachempfunden: Coletta M�ritz, die – wenn man so will – als das erste bayerische Pin-up-Girl bezeichnen k�nnte. Die andere ist die von Mercedes M�ller verk�rperte Clara, die zwar aus Trotz Stifters Heiratsantrag zustimmt, sich ihr Baby dann allerdings doch nicht nehmen lassen will. Eine willensstarke Porzellan-Sch�nheit, die nicht zerbricht an den Machtspielen der M�nner: eine Wunsch-Projektion. Wie alle Figuren in der Serie ist auch sie bigger than life.
Soundtrack: Leonard Cohen ("You Want It Darker"), Agnes Obel ("Fuel To Fire"), NineOneOne ("Left To Hide"), Norah Jones feat. Vince Giordano & the Nighthawks ("If You Want the Rainbow – You Must Have the Rain")
Foto: BR / Zeitsprung / Stephan PickIm Rausch der Gegenkultur: Sex, Drogen und freches Mundwerk. Der charismatische K�nstler und Lebemann Gustav Fierment (Vladimir Burlakov) liebt kreuz und quer. Wie die mythologische Handlung gelegentlich visuell aufgel�st wird, d�monisch, alptraumhaft & rauschartig, da hat selbstredend Sigmund� Freud die Hand im Spiel.
„Es war uns auch ein Anliegen, eine Serie zu kreieren, die sich heutig anf�hlt und die Zuschauer mit Themen erreicht, die uns alle in unserem Alltag besch�ftigen: Konflikte beim Generationenumbruch, der Umgang der Gesellschaft mit Homosexualit�t, die �berwindung von vorgefertigten Geschlechterrollen oder die Verwirklichung eines selbstbestimmten Lebensentwurfs, wie ihn uns vor 120 Jahren schon so ureigene Charaktere wie das damalige M�nchner It-Girl Fanny zu Reventlow vorlebte.“ (Alexis von Wittgenstein, Produzent)
Foto: BR / Zeitsprung / Felix CramerEndlich bekennt sich Roman (Klaus Steinbacher) zu Clara (Mercedes M�ller). Vom Vater seiner Liebe beinahe tot geschlagen, schmieden beide Pl�ne f�r Amerika.
„Diese Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten“, verr�t ein Insert vor jeder Folge. Das m�gen die Zuschauer des �ffentlich-rechtlichen Fernsehens gerne lesen. „Oktoberfest 1900“ ergeht sich dann aber erfreulicherweise nicht in einer naturalistischen Darstellung der realen Wiesn-Wirklichkeit jener an gesellschaftlichen Umbr�chen reichen Jahrhundertwende. Das namhafte Autorenteam um Ronny Schalk und Christian Limmer sowie Regisseur Hannu Salonen machen hier vielmehr aus deutscher Kulturgeschichte einen wilden filmischen Ritt, der es mit internationalen Serien aufnehmen kann. Im Detail sind die Geschichten, die hier erz�hlt werden, nicht themengesteuert, stattdessen wird die Historie mit archaischen narrativen Motiven ausstaffiert: Hass, Eifersucht, Verlust, Verrat, Liebe, Triebe, Intrigen, Sabotage. Ein Sohn schw�ngert die Tochter des Mannes, der f�r den Tod seines Vaters verantwortlich ist. Die Mutter verst��t diesen Sohn, wird �ber die Ereignisse irre und von ihrem eigenen Fleisch und Blut entm�ndigt. Die Erz�hlung verl�uft sich nicht in den Niederungen einer rustikalen wei�blauen Seifenoper, sondern die Konflikte werden mit Shakespearscher Wucht ausgelebt, mal als gro�e Oper, in der Prank einen Zeremonienmeister von Wagnerscher Gr��e gibt, mal mehr im schmuddeligen Western-Look. Wenn die Kandl singt, ist der Saloon nicht weit. Dazu knallen die Ma�kr�ge, da schwappt das Bier, die Masse gr�lt – und Prank, der Herrscher �ber den kollektiven Rausch, bleibt hinter seiner Maske ganz k�hler Gesch�ftsmann: „Ich will hier keinen mehr geradeaus gehen sehen. Ich m�chte, dass die Leute saufen, bis sie umfallen.“
Foto: BR / Zeitsprung / Julie Vrabelov�Unheilige Allianz von Politik und Wirtschaft. Der gro�spurige Strippenzieher Stifter (Maximilian Br�ckner) h�lt Stadtrat Urban (Michael Kranz) jovial im Klammergriff.
„Es war mir wichtig, dass die Kamera sehr aktiv an der Erz�hlung teilnimmt, am Witz, an der Saftigkeit der Geschehnisse. Eigentlich ist die Kamera beinahe ein eigenst�ndiger Charakter. Die Kamera verschafft dem Zuschauer aktiv Zugang zu den Figuren und deren Empfindungen und Emotionen, zeigt Welten auf, ohne sich zu verstecken. Nah an den Figuren zu sein war f�r mich essentiell; aber dann auch zuweilen in die „Gottesperspektive“ zu springen, aus der heraus man wunderbar hinunterschauen kann, wie die verschiedenen Figuren wie auf einem Schachbrett miteinander ringen.“ (Hannu Salonen, Regisseur)
Foto: BR / Zeitsprung PicturesPranks Hang zur Gigantomanie hat auch sehr private Gr�nde. Misel Maticevic
Noch ein wenig beil�ufiger als in den �sterreichischen Serien „Freud“ und „M – Eine Stadt sucht einen M�rder“ flie�t der Zeithorizont in „Oktoberfest 1900“ ein. Zu den Diskursen jener Jahre geh�ren die kapitalistischen Verhei�ungen des freien Wettbewerbs, die Emanzipation der Frauen oder die Reformierung der Gewerkschaften, die in der Serie allerdings keine gr��ere Rolle spielt. Daf�r schwingt am Rande des (melo)dramatischen Treibens die kolonialistische �berlegenheit des Westens in die Handlung hinein: So ger�t zu Beginn der H�uptling eines Samoa-Stammes, der als „die Kannibalen der S�dsee“ auf der Wiesn rassistisch zur Schau gestellt wird, unter Mordverdacht. Auch die kulturellen Errungenschaften jener Jahre finden in den Geschichten der Serie ihren Niederschlag. Die Kinematographie steckt in den Kinderschuhen und Filme wie „Die Reise zum Mond“ finden gro�en Anklang auf dem Oktoberfest. Und um offenbar die Bef�rchtung zu zerstreuen, in der Serie k�nnte es zu volkst�mlich und zu historisch verstaubt zugehen, haben die Macher auch die Gegenkultur, die weniger bierzeltaffine Schwabinger K�nstlerszene und den obrigkeitskritischen „Simplicissimus“, in die Handlung eingebaut. „Wenn man so will, feierte die Party-Crowd, die in den Zwanzigern Berlin bev�lkert hat, vor dem Ersten Weltkrieg gesammelt in M�nchen ihre Orgien“, so Produzent Alexis von Wittgenstein. Ein Hauch Babylon M�nchen also.
Foto: BR / Zeitsprung / Felix CramerAufg'sperrt und ozapft is'. Endlich wieder eine eigene Bierbude. Steinbacher & M�ller
Optisch dominiert in „Oktoberfest 1900“ in den ersten drei Folgen das Dunkle und D�stere, das R�tselhafte und Unheimliche. Das entspricht ganz der undurchsichtigen Hauptfigur und der Handlung: dem zwielichtigen Geschacher der Gro�kopferten aus Wirtschaft und Politik, dem egoistischen Getriebe um Schanklizenzen, dem brutalen Mord am alten Hoflinger. Immer wieder sch�len sich die Gesichter und K�rper aus der schwach beleuchteten Szenerie. Extreme Kontraste und hohe Schwarzwerte, Licht-, Schatten- und Farbenspiele sowie eine sehr bewegliche Kamera fordern und begl�cken zugleich das Auge des Zuschauers. Regisseur Salonen, der den Anthologie-Serien „Verbrechen“ und „Schuld“ nach den Geschichten von Ferdinand von Schirach einen klaren, reduzierten Look gab, darf f�r die Zeitsprung-Pictures-Produktion nun f�r deutsche Verh�ltnisse in die Vollen gehen. Dabei arbeiten der geb�rtige Finne, Kameramann Felix Cramer („Die Braut im Schnee“ / „Tatort – ich t�te niemand“) und Cutter Ronny Mattas („Ku’damm 56 + 59“) gern mit kraftvollen, temporeichen Parallel-Montagen: Am Ende von Folge 1, „Der Vision�r“, werden Sex und Gewalt miteinander verschnitten. Hier das St�hnen der Lust, dort ein grausiger Todeskampf. Auch Folge 3, „Liebe und Kapital“, endet blutig. Zwar entkommt Clara den Klauen der Engelmacherin, doch daf�r schl�gt der unberechenbare Prank ihren Liebhaber beinahe tot. Mit Folge 4, „Anstich“, wird die Anmutung der Serie heller. Die Wiesn macht die Bilder bunter, in den Innenszenen aber dominieren – den dramatischen Ereignissen angemessen – nach wie vor mehr die Schatten als das Licht. Mag das Sujet auf dem Papier auch typisch �ffentlich-rechtlich erscheinen, „Oktoberfest 1900“ w�rde auch Netflix & Co alle Ehre machen. (Text-Stand: 28.8.2020)
Foto: BR / Zeitsprung / Dusan MartincekDie Deibel-Brauerei-Besitzerin (Martina Gedeck) und – wie sie glaubt – der Teufel h�chstpers�nlich: Curt Prank (Misel Maticevic), Vision�r & Gro�brauer aus N�rnberg
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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