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Stalins Werk und Lenins Beitrag

Am 21. Januar 1924 starb Wladimir Iljitsch Lenin, der Anführer der bolschewistischen Revolution. Da währte der Nachfolgekampf schon mehr als ein Jahr. Bald setzte Josef Stalin seine ungeheuer brutale Herrschaft durch. Einblick in eine abgründige Welt.
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Lenin und Stalin auf einem stark retuschierten Foto vom März 1919. Entfremdeten sich die beiden 1922/23 wirklich? Lenin und Stalin auf einem stark retuschierten Foto vom März 1919. Entfremdeten sich die beiden 1922/23 wirklich?
Lenin und Stalin auf einem stark retuschierten Foto vom März 1919. Entfremdeten sich die beiden 1922/23 wirklich?
Quelle: Getty Images

Quälende 13 Monate – so lange zog sich das Sterben des Revolutionsführers hin. Einige Tage vor dem 18. Dezember 1922 (wann genau, ist nicht sicher überliefert) hatte Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt unter dem Pseudonym „Lenin“, seinen zweiten Schlaganfall erlitten. Fortan war er halbseitig gelähmt und konnte sich nicht einmal mehr eine Stunde pro Tag konzentrieren; meist saß er teilnahmslos in einem Sessel oder Rollstuhl. Der einst wortmächtige Redner vermochte auch nur noch zu stammeln; leserlich zu schreiben gelang ihm ohnehin nicht mehr.

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Am 10. März 1923 folgte ein dritter Schlaganfall, der Lenin nahezu vollständig lähmte und das Sprachzentrum in seinem Gehirn zerstörte. Erst zwei Monate später war er so weit stabilisiert, dass er in ein requiriertes Herrenhaus im Moskauer Vorort Gorki gebracht werden konnte, das ihm als „Datscha“ diente. Doch sein Zustand besserte sich nicht mehr wesentlich. Auf dem XII. Parteitag der Bolschewiki vom 17. bis 21. April 1923 bekam der abwesende Parteichef bei der Wahl zum Zentralkomitee zwar die meisten Stimmen – aber, zumindest laut offiziellen Angaben, gemeinsam mit Josef Dschugaschwilli, genannt Stalin.

Ein Ende April in Moskau veröffentlichtes ärztliches Bulletin vermeldete eine „mäßige Temperaturerhöhung“ und eine „allgemeine Schwächung des Patienten“, schloss aber mit den Worten: „Trotzdem dauert die Besserung seines Sprachvermögens und seiner Bewegungsstörungen an.“

Inmitten weiterer Bolschewiki steht Feliks Dzierżyński, der Gründer und Chef der sowjetischen Geheimpolizei, am aufgebahrten Leichnam Lenins. Das war kein Zufall
Inmitten weiterer Bolschewiki steht Feliks Dzierżyński, der Chef der sowjetischen Geheimpolizei, am aufgebahrten Leichnam Lenins
Quelle: Getty Images

Eine Falschnachricht. Am 21. Januar 1924, etwa 400 Tage nach dem Hirninfarkt von Dezember 1922, starb Lenin in Gorki. In der Todesmitteilung hieß es: „Um sechs Uhr abends wurde die Atmung stockend; der Kranke verlor das Bewusstsein. Jetzt traten allgemeine Krämpfe ein, und um 6.40 Uhr verschied Lenin unter Erscheinungen der Paralyse des Atmungszentrums.“

Nur rund sechs Jahre überlebte der Kopf der bolschewistischen Revolution deren Beginn im November 1917. Sein Nachfolger wurde Stalin, der schon seit 1922 als Generalsekretär amtierte und so mit Kriegsminister Leo Trotzki, Grigori Sinowjew, dem Chef der Kommunistischen Internationale, und Lew Kamenew, dem faktischen Ministerpräsidenten, die Führung der sowjetischen Kommunisten bildete.

Lenins umstrittenes Testament

Angesichts des Schreckensregimes, das Stalin ab 1924 aufbaute, gilt das lange Sterben Lenins als entscheidend auf dem Weg des vermeintlich fortschrittlichen Kommunismus in eine mörderische Tyrannei. Aber stimmt das überhaupt? Was war Stalins Werk – und was Lenins Beitrag dazu? Gab es die oft beschworene Entfremdung zwischen Lenin und Stalin 1922/23 überhaupt? Welche Rolle spielte das legendenumwobene Testament des Revolutionsführers, welche seine Warnung vor dem eigenen Protegé? Und warum starb Lenin im Alter von nicht einmal 54 Jahren?

Im Prinzip hatte der Berufsrevolutionär gesund gelebt: Er rauchte nicht und verbat sich, dass andere in seiner Gegenwart Zigaretten, Zigarren oder Pfeifen ansteckten. Im Gegensatz zu vielen russischen Männern trank Lenin nur mäßig, fettleibig war er ebenfalls nicht. Die Vermutung, er könnte an Neurosyphilis gelitten haben, ist unwahrscheinlich – typische Symptome dieser Geschlechtskrankheit wurden bei ihm, so weit bekannt, nicht diagnostiziert.

ARCHIV - Der sowjetische Staatsgründer Wladimir Iljitsch Lenin, aufgenommen 1918 in Moskau. Lenin ist knapp 90 Jahre nach seinem Tod Namensgeber einer neuen Saurier-Gattung geworden. TASS/dpa (zu dpa Russische Forscher benennen Saurier-Gattung nach Lenin" vom 30.03.2013) +++ dpa-Bildfunk +++
Wladimir Iljitsch Lenin, aufgenommen 1918 in Moskau
Quelle: picture alliance / dpa

Eine andere Vermutung war, dass die Schwächung der Blutgefäße in Lenins Gehirn mit der Kugel zu tun gehabt haben könnte, die seit dem Attentat der russischen Anarchistin Fanny Kaplan am 30. August 1918 in seinem Hals nahe der Schlagader steckte. Sie wurde erst knapp vier Jahre später, im April 1922, operativ entfernt – und vier Wochen danach folgte der erste Schlaganfall. Doch die Neurologen Norbert Nighoghossian, Tae-Hee Cho und Laura Mechtouff von der Universität Lyon kamen 2021 bei einer Durchsicht der verfügbaren ärztlichen Berichte zu dem Ergebnis, dass diese Annahme nicht schlüssig sei.

Für wahrscheinlich halten sie, dass Lenin schlicht unter einer genetischen Disposition für Arteriosklerose litt. Sein Vater Ilja Uljanow war im Alter von 54 Jahren an einem Schlaganfall gestorben, und auch mehrere seiner Kinder litten unter verstopften Blutgefäßen. Bei der Autopsie von Lenins Leiche hielt ein Arzt fest, dass die Blutgefäße sich wie „versteinert“ anhörten, wenn er mit einer Pinzette dagegenschlug. Da aber bis heute viele medizinische Informationen über Lenins Tod nicht veröffentlicht sind, können die drei Neurologen andere genetische Ursachen nicht sicher ausschließen – wie das Grönblad-Strandberg-Syndrom oder Morbus Fabry.

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Noch umstrittener als die genaue Todesursache ist die Frage, was Lenin in der Zeit seines Siechtums über Stalin dachte. In den Tagen um den 24. Dezember 1922 soll der vom zweiten Schlaganfall schwer gezeichnete Patient der gängigen Sichtweise zufolge ein Dokument diktiert haben, das später als „Lenins Testament“ bekannt wurde; am 4. Januar 1923 folgte noch ein Zusatz.

Im ersten Text hieß es: „Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert. Ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen.“ Stalin war nicht der Einzige, mit dem das „Testament“ abrechnete. Über Leo Trotzki hieß es, er sei „zwar persönlich wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen Zentralkomitee“. Allerdings leide er unter zu großem Selbstbewusstsein und denke zu sehr in „rein administrativen Maßnahmen“. Sinowjew und Kamenew seien unfähig für höhere Aufgaben.

Der Nachtrag von Januar 1923 war noch deutlicher: „Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte.“ Besonders Kommunisten, die zwischen dem vermeintlichen „guten“, angeblich fortschrittlichen Bolschewismus à la Lenin und dem massenmörderischen Despotismus des Tyrannen Stalin unterscheiden wollen, verwiesen (und verweisen manchmal noch immer) gern auf diese beiden Dokumente – um so die an sich menschenrechtswidrige Ideologie der Bolschewiki freizusprechen von den Folgen im Stalinismus.

Jedoch ist zweifelhaft, ob das „Testament“ und der Nachtrag tatsächlich Lenins Gedanken wiedergeben und ob sie überhaupt echt sind. Der Erlangener Osteuropahistoriker Helmut Altrichter führt in seiner Stalin-Biografie (C. H. Beck Verlag München. 356 S., 16,95 Euro) gewichtige Argumente dagegen auf.

circa 1924: A crowd of thousands in Red Square, Moscow, at Lenin's funeral. (Photo by Topical Press Agency/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Menschen bei der Beisetzung Lenins auf dem Roten Platz in Moskau
Quelle: Getty Images

Erstens finden sich im Arbeitsjournal von Lenins Sekretärin keine Einträge für diese wichtigen Diktate, und auch handschriftliche Stenogramme fehlen. Zweitens zeichnen die Krankenblätter für diese Tage ein „eher düsteres Bild seines Gesundheitszustandes“; unwahrscheinlich, dass er zu mehr in der Lage gewesen ist, als einzelne Wörter und Satzfetzen zu stammeln. Drittens bat Lenin am 22. Dezember 1922 ausgerechnet den Generalsekretär, dessen Absetzung er empfohlen haben sollte, ihm eine Zyankali-Kapsel zu besorgen – er wollte gegebenenfalls selbst über den Zeitpunkt seines Todes bestimmen. Altrichter bemerkt treffend, das passe „nicht recht zur These, wonach Stalin bei ihm in Ungnade gefallen sei“.

Die Rolle von Lenins Frau

Wahrscheinlicher ist deshalb, dass die beiden Dokumente zumindest zum größeren Teil statt von Lenin selbst von seiner Ehefrau und Vertrauten Nadeschda Krupskaja formuliert worden sind. Sie war die Einzige, die nach seinem zweiten Schlaganfall noch einigermaßen mit ihm kommunizieren konnte. Ziemlich sicher Ende Dezember 1922 hatte Krupskaja eine heftige Auseinandersetzung mit Stalin; gut vorstellbar daher, dass sowohl das „Testament“ als auch der noch schärfere Nachtrag auf sie zurück gingen.

Dafür spricht auch der weitere Umgang mit den Texten. Eigentlich hätten das „Testament“ und der Nachtrag, so heißt es, auf dem XII. Parteitag verlesen werden sollen. Doch Krupskaja übergab das Schriftstück erst Ende Mai oder Anfang Juni 1923 an Sinowjew, den Nachtrag von Januar sogar erst einen Monat später. Zu dieser Zeit aber tobte bereits der Konflikt um die Nachfolge Lenins.

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Im Wesentlichen stand Stalin gegen Trotzki, während Sinowjew und Kamenew sowie weitere Spitzenfunktionäre taktierten, welcher der beiden ihnen nützlicher sein würde. Die Historiker Verena Moritz und Hannes Leidinger, Autoren einer anlässlich des 100. Todestages erschienenen neuen Lenin-Biografie (Residenz-Verlag Wien. 656 S., 38 Euro), charakterisieren die Auseinandersetzungen im zweiten Halbjahr 1923 als „kammerspielartigen, abgründigen Machtkampf“, in dem sich schließlich der rücksichtsloseste Nachfolgekandidat durchsetzte: Josef Stalin.

Die Idee jedoch, Lenin habe ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ vorgeschwebt, kann man getrost ins Reich der Legende verweisen. Es war kein Zufall, dass am aufgebahrten Leichnam des Revolutionsführers ausgerechnet Feliks Dzierżyński ganz vorne stand. Der Gründer und erste Chef der bolschewistischen Geheimpolizei Tscheka hatte ein Prinzip umgesetzt, das Lenin sich in einem allerdings nicht eindeutig überlieferten Zitat zu eigen gemacht hatte: „Eine Revolution ohne Erschießungskommandos ist sinnlos.“ Auch das sowjetische Lagersystem ging zweifellos auf die Zeit zurück, in der Wladimir Iljitsch Lenin noch eindeutig selbst die Zügel in der Hand hielt. Josef Stalin setzte hinsichtlich der brutalen Repression in der Sowjetunion eigentlich nur den Kurs fort, den sein Lehrmeister Ende 1917 eingeschlagen hatte.

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