Arthur Schopenhauer : Moralische Freiheit und Charakter

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Moralische Freiheit und intelligibler Charakter

in Arthur Schopenhauers Philosophie

Die sogenannte moralische Freiheit ist ein Kernproblem in Arthur Schopenhauers Philosophie. Es geht um die Frage, ob es dem Menschen m�glich ist, seinen Charakter zu �ndern und sich in moralischer Hinsicht frei zu entscheiden. Damit eng verbunden ist die Frage nach der moralischen Verant- wortlichkeit. Hierbei kommt dem, was Schopenhauer in Anlehnung an Kant intelligibler Charakter nannte, besondere Bedeutung zu. Diese Zusammen- h�nge hat Heinrich Hasse in seinem sehr lesenswerten Buch Schopenhauer n�her dargelegt, welchem der folgende Textauszug (ohne die dortigen Anmerkungen und Quellenangaben) entnommen wurden:

“Es handelt sich bei der moralischen Freiheit darum, ob das Wollen selbst frei sei. Genie�e ich physischer Freiheit, so kann ich zwar tun was ich will, aber die Frage nach der sogenannten moralischen Freiheit lautet: Kannst du auch wollen was du willst? d. h. genauer: Steht es dir frei, unter den vorliegenden Verh�ltnissen anders zu wollen als dein faktisches Wollen tats�chlich verl�uft? [...]

Die L�sung des Problems der moralischen Freiheit �berhaupt ist f�r die philosophische Ethik und Rechtslehre von gr��ter Bedeutung, da nicht nur die Frage der sittlichen Verantwortung durch sie aufs st�rkste ber�hrt wird, sondern auch die Theorie der Strafe an ihr lebhaft interessiert ist. Im Gegensatz zur physischen Freiheit ist jedoch die moralische nicht durch Erfahrung zu beglaubigen, da der fragliche Tatbestand sich der Selbstkontrolle entzieht. Es bedarf einer ernsthaften, von kritischer Besonnenheit geleiteten gedanklichen Untersuchung, um die Frage zu entscheiden, ob eine Freiheit unseres Wollens im Sinne der Abwesenheit der Notwendigkeit besteht. Die meisterhaften Ausf�hrungen im dritten Abschnitt der Preisschrift �ber die Freiheit des Willens sind es, welche in gl�nzender Gedankenentwicklung die Haupter�rterung dieser Frage bieten. [...]

Der eigentliche Urheber der Handlung ist der auf die Motive reagierende Wille, welchem dieselben nur Gelegenheitsursachen sind, seine Kraft zu entfalten. �ben doch die gleichen Motive auf verschiedene Menschen eine verschiedenartige Wirkung aus. Die Eigenart der Willensreaktion auf ein Motiv h�ngt also ab von der individuell bestimmten Beschaffenheit des Willens. Diese nennen wir den menschlichen Charakter. Er ist die zweite Komponente jeder Willenshandlung. Von seiner Beschaffenheit h�ngt es ab, ob ein bestimmtes Motiv eine bestimmte Handlung hervorruft. Da er uns nicht a priori [von vornherein] bewu�t ist, sondern nur durch Erfahrung bekannt wird, nennen wir ihn empirischen  Charakter. Er ist angeboren und von individueller Eigenart. Mit ihm ist der Grund und Boden gefunden, auf welchem die Notwendigkeit aller Willenshandlungen fu�t.

Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein notwendiges Produkt zweier Faktoren ist, n�mlich der hier sich �u�ernden allgemeinen Naturkraft und der diese �u�erung hier hervorrufenden einzelnen Ursache, gerade so ist jede Tat eines Menschen das notwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Sind diese beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich. Damit eine andere entst�nde, m��te entweder ein anderes Motiv oder ein anderer Charakter gesetzt werden. Bei gegebenem Charakter und gegebenen Motiv ist hingegen kein Zweifel m�glich an der Unausbleiblichkeit der Tat. [...]

Innerhalb des empirischen Wollens ist f�r die moralische Freiheit kein Raum, da mit allen �brigen Erscheinungen auch die Willenserscheinungen dem Gesetz der Kausalit�t ausnahmslos unterworfen sind. Trotzdem wohnt uns ein Bewu�tsein der Eigenm�chtigkeit und Urspr�nglichkeit unserer Handlungen inne, welches uns n�tigt, sie als unser Werk anzuerkennen und uns als die wirklichen T�ter unserer Taten zu betrachten. Wir f�hlen uns f�r dieselben moralisch verantwortlich, und im Gef�hl dieser Verantwortlichkeit k�ndigt sich unmittelbar ein Bewu�tsein der Freiheit an. Dies deutet darauf, da� der Charakter ein ebenso notwendiger Faktor jeder Handlung ist wie das Motiv, da� jenem noch eine speziellere Behandlung geb�hrt, und da� mit der Anerkennung des empirischen Determinismus das Problem der Freiheit des Willens noch nicht abschlie�end erledigt ist.

Die Erscheinung des Willens ist als solche durchaus notwendig, d. h. dem Satz vom Grunde in der Form des Gesetzes der Kausalit�t (Motivation) unterworfen. Aber der Wille ist andererseits nicht selbst Erscheinung. Als Ding an sich und innerer Gehalt aller Erscheinung kann er nicht der Form des Objektseins unterliegen. Er kann somit auch nicht als Folge durch einen Grund bestimmt sein, kennt keine Notwendigkeit, ist grundloser Wille, d. h. er ist frei, ja er darf allm�chtig genannt werden.

Damit ergibt sich die M�glichkeit, das Problem des scheinbar unvers�hnlichen Gegensatzes von Notwendigkeit und Freiheit zu l�sen, d. h. die M�glichkeit der Vereinigung beider. Der Weg dazu ist gewiesen durch Kant, dessen Lehre vom Zusammenbestehen der Freiheit mit der Notwendigkeit Schopenhauer als die gr��te aller Leistungen des menschlichen Tiefsinns erkl�rt. Sie und die transzendentale �sthetik bezeichnet er als die zwei gro�en Diamanten in der Krone des Kantischen Ruhmes. Demgem�� schlie�en sich Schopenhauers Gedanken eng an Kants Lehre an, geben dieser jedoch auch hier eine ausgesprochen metaphysische Wendung.

Die Erscheinung, das Objekt, ist notwendig und unab�nderlich in der Verkettung der Gr�nde und Folgen bestimmt, die keine Unterbrechung haben kann. Das Dasein �berhaupt aber dieses Objekts und die Art seines Daseins, d. h die Idee, welche in ihm sich offenbart, oder mit anderen Worten, sein Charakter ist unmittelbar Erscheinung des Willens. In Gem��heit der Freiheit dieses Willens k�nnte es also �berhaupt nicht dasein, oder auch urspr�nglich und wesentlich ein ganz anderes sein; wo dann aber auch die ganze Kette, von der es ein Glied ist, die aber selbst Erscheinung desselben Willens ist, eine ganz andere w�re: aber einmal da und vorhanden, ist es in die Reihe der Gr�nde und Folgen eingetreten, in ihr stets notwendig bestimmt und kann demnach weder ein anderes werden, d. h. sich �ndern, noch auch aus der Reihe austreten, d. h. verschwinden.

Der Wille des Menschen an sich ist der intelligible Charakter, welcher mit der Idee desselben zusammenf�llt. Er ist ein einheitlicher, au�erzeitlicher, unteilbarer und unver�nderlicher Willensakt, dessen in Zeit, Raum und allen Formen des Satzes vom Grunde entfaltete und auseinandergezogene Erscheinung der empirische Charakter ist. Daraus folgt, da� der intelligible Charakter, als au�erzeitlicher, grundloser Willensakt, jene echte moralische Freiheit besitzt, welche dem empirischen mangelt. Die intelligible Freiheit ist die Freiheit unseres Charakters an sich.

Der empirische Charakter mu� ein getreues Abbild des intelligiblen liefern und kann nicht anders ausfallen, als dessen  Natur es fordert. Er bildet das zeitlose Wesen des Menschen in der ganzen F�lle der Begehrungen und Handlungen seines zeitlich-empirischen Lebenslaufes ab. So ist die echte moralische Freiheit nicht in der Natur, sondern nur au�erhalb derselben zu suchen. Sie ist innerhalb der physisch-zeitlichen Welt etwas Unm�gliches.

Demnach sind unsere einzelnen Handlungen und Taten keineswegs frei. Wohl aber ist der individuelle Charakter eines jeden als Ganzes anzusehn als seine freie Tat. Nicht im operari [Handeln], sondern im esse [Sein] ist die Freiheit gelegen.

Da aber der empirische Charakter nichts anderes als die determinierte Erscheinung des intelligiblen Charakters ist, so vermag der einzelne Mensch nur so zu handeln, wie es der unver�nderlichen Beschaffenheit des letzteren entspricht, weshalb dem gegebenen Individuum in jedem gegebenen einzelnen Fall schlechterdings nur eine Handlung m�glich ist. Operari sequitur esse [Was man tut, folgt aus dem, was man ist].

Das Bewu�tsein der Verantwortlichkeit und das diesem beigesellte Bewu�tsein der Freiheit gewinnen hiermit einen vertieften Sinn. Denn so strenge auch die Notwendigkeit ist, mit welcher bei gegebenem Charakter die Taten von den Motiven hervorgerufen werden, so wird es dennoch keinem, selbst dem nicht, der von der Notwendigkeit, mit welcher unsere Handlungen eintreten, v�llig �berzeugt ist, jemals in den Sinn kommen, �sich f�r ein Vergehen durch diese Notwendigkeit zu entschuldigen und die Schuld von sich auf die Motive zu w�lzen, da ja bei deren Eintritt die Tat unausbleiblich war. Denn er sieht sehr wohl ein, da� diese Notwendigkeit eine subjektive Bedingung hat, und da� hier objective, d. h. unter den vorhandenen Umst�nden, also unter der Einwirkung der Motive, die ihn bestimmt haben, doch eine ganz andere Handlung, ja, die der seinigen gerade entgegengesetzte, sehr wohl m�glich war und h�tte geschehen k�nnen, wenn nur Er ein Anderer gewesen w�re: hieran allein hat es gelegen. Ihm, weil er dieser und kein anderer ist, weil er einen solchen und solchen Charakter hat, war freilich keine andere Handlung m�glich; aber an sich selbst, also objective, war sie m�glich. Die Verantwortlichkeit, deren er sich bewu�t ist, trifft daher blo� zun�chst und ostensibel die Tat, im Grunde aber seinen Charakter: f�r diesen f�hlt er sich verantwortlich.

Der Mensch ist sein eigenes Werk und er ist es vor der Erkenntnis. Diese tritt erst sekund�r hinzu, es zu beleuchten. Der Mensch will nicht, was er erkennt, sondern er erkennt, was er will. Er besitzt in seinem Wesen an sich Aseit�t, d. h. ist durch sich selbst. W�re er das Werk eines Anderen, z. B. eines Gottes und durch diesen geschaffen, so w�rden seine sittlichen M�ngel und Vergehen unweigerlich diesem zur Last fallen. Die menschliche Verantwortlichkeit f�r das eigene Handeln w�rde verloren gehen. Das erhellt aus dem Satz: operari sequitur esse [Was man tut, folgt aus dem, was man ist] und dessen Korollarium: ergo unde esse, inde operari [Schlu�: folglich, von woher das Sein, von daher auch das Handeln]. Was w�rde man von dem Uhrmacher sagen, der seiner Uhr z�rnte, weil sie unrichtig ginge? Ohne Ase�t�t keine moralische Freiheit, keine Verantwortlichkeit. Geschaffen-Sein und Willensfrei-Sein sind unvereinbare Dinge.

Durch die gewonnenen Ergebnisse wird also die moralische Freiheit nicht aufgegeben, sondern nur hinausger�ckt aus dem Gebiet der einzelnen Handlungen, wo sie nachweislich nicht anzutreffen ist, hinauf in eine h�here, unserer Erkenntnis weniger leicht zug�ngliche Region. In diesem Sinne bekennt sich Schopenhauer zu dem ber�hmten Ausspruch des Malebranche: La libert� est un myst�re [Die Freiheit ist ein Mysterium].”
Heinrich Hasse, Schopenhauer , M�nchen 1926, S. 306-313.
 

Nachwort der Redaktion

Arthur Schopenhauer hat zum obigen Thema dem � 10 [Kants Lehre vom intelligibeln und empirischen Charakter - Theorie der Freiheit] in seiner Preisschrift �ber die Grundlage der Moral eine sehr aufschlussreiche Anmerkung hinzugef�gt. Dort zitierte er einen Text des altgriechischen Schriftstellers Stobaeus zur Philosophie Platons.  Hierbei wies Schopenhauer  auf das �bereinstimmende mit der Metempsychosenlehre des Brahmanismus, also der Seelenwanderungslehre, die auch in den von ihm hoch gesch�tzten Upanishaden enthalten ist, hin. In der �bersetzung lautet dieser Text:

Denn alles, was Platon sagen will, scheint folgendes zu sein: Ehe sie in die Leiber und verschiedenen Lebensformen eingehen, haben die Seelen die Freiheit, die eine oder andere Lebensform zu w�hlen, welche sie sodann durch das entsprechende Leben und den der Seele angemessenen Leib zur Ausf�hrung bringen (denn er sagt, da� es bei ihr stehe, das Leben eines L�wen oder das eines Menschen zu erw�hlen). Jene Willensfreiheit aber ist aufgehoben, sobald die Seele irgendeine derartige Lebensform erlangt hat. Denn nachdem die Seelen in die K�rper gelangt und aus freien Seelen zu Lebewesen geworden sind, haben sie nur diejenige Freiheit, die der Beschaffenheit des betreffenden Lebewesens eigen ist [...]. Die Art der Freiheit aber h�ngt von der jeweiligen Beschaffenheit ab, indem sie [...] geleitet wird gem�� der aus der jeweiligen Beschaffenheit entspringenden Gesinnung.(1)

W�hrend Arthur Schopenhauer sich einerseits zur St�tzung seiner Lehre vom intelligiblen Charakter auf Aussagen der altgriechischen und altindischen Philosophie berief, betonte er andererseits den engen Zusammenhang mit Kants Philosophie, indem er darauf hinwies, da� die Wurzel meiner Philosophie schon in der Kantischen  liegt, besonders in der Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter.(2)

Wie problematisch diese Lehre ist, geht aus Schopenhauers Brief vom 21. September 1844 an seinen Freund Johann August Becker hervor: Da� der intelligible Charakter eines Menschen ein au�erzeitlicher Willensakt sei, habe ich nicht als objektive Wahrheit, oder als ad�quaten Begriff des Verh�ltnisses zwischen Ding an sich und Erscheinung dargestellt; vielmehr blo� als Bild und Gleichni�, als fig�rlichen Ausdruck einer Sache, indem ich sagte, man k�nne, um sich die Sache fa�lich zu machen, sie so denken.(3)

Im gleichen Brief zitierte Schopenhauer den oben erw�hnten Ausspruch von Malebranche, wonach die Freiheit ein Mysterium sei. Wenn dem so ist, sind hier die Grenzen der Philosophie Schopenhauers erreicht. Es beginnt der Illuminismus - jenes Gebiet, auf das er, wie Schopenhauer erkl�rte, “als ein Vorhandenes hingedeutet”, aber sich “geh�tet” habe, “es  auch nur mit einem Schritte zu betreten”.(4)

Denen, die diese Grenzen �berschreiten m�chten, empfahl Schopenhauer : ”Wer inzwischen zu der [...] Erkenntnis, bis welcher allein die Philosophie ihn leiten  kann, [...] Erg�nzung w�nscht, der findet sie am sch�nsten und reichlichsten im Oupnekhat [Upanishaden]” (5)

 

Anmerkungen

(1)
Arthur Schopenhauer , Werke in zehn B�nden, Band VI:
 Die beiden Grundprobleme der Ethik,
Z�rich 1977, S. 218 ff.

(2) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band VII:
 Parerga und Paralipomena I, S. 151.

(3) Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe.
Hrsg.von Arthur H�bscher, 2. Auflage, Bonn 1987, S. 217.

(4) Arthur Schopenhauer ,Werke ...,  a. a. O., Band IX:
 Parerga und Paralipomena II, S. 17.

(5) Arthur Schopenhauer , Werke ..., a. a. O., Band IV:
Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 716 .)
 

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