Goethes „Werther“ und der Fall Jerusalem
von /Im November 1772 erfuhr Goethe vom Selbstmord seines Freundes Karl Wilhelm Jerusalem, den er erst wenige Wochen zuvor gesehen hatte. Mit seinem Werk Die Leiden des jungen Werther schuf er dem Verstorbenen ein literarisches Denkmal.
Anonym erschien auf der Leipziger Buchmesse im September 1774 Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers. In kürzester Zeit avancierte das Werk zu einem europäischen Bestseller. Im „schwäzzenden Publikum“ (GB 2 I, Nr. 160) sprach es sich schnell herum, dass die tragische Geschichte des unglücklich verliebten Selbstmörders wohl auf einer wahren Begebenheit beruhe. Auch der Stiftsdame Gräfin Auguste zu Stolberg kamen diese Gerüchte zu Ohren. Ihr Exemplar des Romans ist mit zahlreichen Anstreichungen versehen und wird heute im Goethe-Museum Düsseldorf aufbewahrt.
Nach der intensiven Lektüre berichtete sie dem Dichter Heinrich Christian Boie im November 1774: „[S]tellen Sie sich meinen Schrecken vor, als ich, nachdem ich es geleßen hatte, hörte, daß es leider kein Roman sondern die wahre Geschichte des armen unglüklichen jungen Jerusalems ist.“ (GB 2 II, Nr. 188)
Tatsächlich kannte auch Goethe die „wahre Geschichte“ des 25-jährigen Legationssekretärs Karl Wilhelm Jerusalem, der sich zwei Jahre zuvor in Wetzlar das Leben genommen hatte. Es handelte sich um den einzigen Sohn des bedeutenden Aufklärungstheologen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Seit 1742 hatte dieser als Hofprediger die Erziehung des Erbprinzen Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel übernommen. Auf seinen 1747 geborenen Sohn, der auf den gleichen Namen wie der herzogliche Zögling getauft wurde und den Erbprinzen zu seinen Paten zählte, setzte der Theologe große Hoffnungen.
Jerusalems Karriereweg und Konflikte in Wetzlar
Im Wintersemester 1765 begann Jerusalem ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Leipzig. Für diese Zeit erinnert er die erste flüchtige Bekanntschaft mit „Göden“ – nach seinem Urteil ein „Geck“ (BuG I, A 67) –, der ebenfalls an der Alma Mater Lipsiensis Jura studierte. Nachdem Jerusalem drei weitere Jahre die Göttinger Universität besucht hatte, erhielt er im Mai 1770 eine Anstellung als Assessor an der Justizkanzlei in Wolfenbüttel. Fleiß und Begabung dürften seine bald folgende Berufung zum Legationssekretär an die Braunschweigische Vertretung am Reichskammergericht in Wetzlar im Sommer 1771 befördert haben. Allerdings wird sich der junge Jurist möglicherweise nur wenig über die mit diesem Karrieresprung verbundenen aussichtsreichen beruflichen Perspektiven gefreut haben. So hatte er in Wolfenbüttel seine in Leipzig begonnenen philosophischen Studien fortsetzen können und in Gotthold Ephraim Lessing, dem Direktor der Bibliothek, einen guten Freund und Gesprächspartner gefunden.
Mit seinem neuen Vorgesetzten in Wetzlar, Johann Jakob von Höfler, hoffte Jerusalem ein gutes Auskommen zu finden, nachdem der braunschweig-wolfenbüttelsche Gesandte und Professor der Rechte Jerusalems Vorgänger wegen Fehlverhaltens aus dem Dienst entlassen hatte. Zwischen dem als selbstsüchtig und zänkisch beschriebenen Höfler und dem kühl-distanzierten, aber fachlich kundigen Jerusalem kam es indes bald zu Kompetenzstreitigkeiten. Jerusalem fühlte sich zunehmend schikaniert und sah sich öffentlichen Verleumdungen Höflers ausgesetzt. Über diese Vorkommnisse ließ bald sogar der oberste Dienstherr Herzog Karl I. von Braunschweig und Lüneburg-Wolfenbüttel Erkundigungen einholen. Obwohl sich Jerusalem im April 1772 seine Unschuld beteuernd persönlich an den Herzog wandte, sprach Karl I. schließlich gegen beide Männer einen Verweis aus.
Begegnung von Goethe und Jerusalem
Von Mai bis September 1772 arbeitete auch Goethe als Praktikant am Reichskammergericht. Wie Goethe in seiner Lebensbeschreibung Dichtung und Wahrheit berichtet, trafen er und Jerusalem gelegentlich „bei Freunden“ (BuG I, A 210) aufeinander. Sie lebten, wie es der Jurist Johann Arnold Günther erinnerte, in „herzlicher Eintracht und ganz gleichen Gesinnungen; jeder Mensch war ihnen desto willkomner, je natürlicher er war, und so waren sie hier denn ganz in ihrem Element, nahmen innigen Antheil an jede gesellige Freude, und verschlossen übrigens in ihrem Herzen alle Empfindung, die für diese Atmosphäre zu kräftig war, denn sie hätten nur den guten Seelen hier den unbefangnen Genuss ihres Lebens leid gemacht.“ (BuG I, A 210) Im Gegensatz zu Goethe – „ganz offen für jedermann, und für jede Art von Freude empfänglich“ – sei Jerusalem jedoch „mehr verschlossen“ gewesen. (ebd.) Dabei lebte dieser keineswegs zurückgezogen, wie viele Zeitgenossen rückblickend berichteten.
Beide weilten sie am 9. Juni 1772 auf jenem berühmten Ball „auf dem Lande“ (GB 1 II, S. 424) im nahegelegenen Volpertshausen, auf dem Goethe Charlotte Buff kennenlernte, die ihn ganz „eroberte […], um desto mehr, da sie sich keine Mühe darum gab, sondern sich nur dem Vergnügen überließ“. (BuG I, A 188) Dass Charlotte Buff seit Jahren dem hannoverschen Gesandtschaftssekretär Johann Christian Kestner versprochen war, konnte der junge Praktikant Goethe nicht wissen. Die Verlobung war aus Rücksicht auf das junge Alter der zukünftigen Braut und die noch unsichere berufliche Zukunft Kestners nur einem kleinen Kreis bekannt. Charlotte Buff und Kestner, mit dem Goethe zu fortgeschrittener Stunde ebenfalls zusammentraf, vermieden es selbst auf diesem Ball, „mehr als Freundschaft gegen ein ander zu äusern“. (BuG I, A 188) In den folgenden drei Sommermonaten pflegte Goethe zu Charlotte Buff und deren Verlobtem ein vertrauensvolles Verhältnis, das freilich nicht frei von gegenseitiger Eifersucht war, wie Kestner in einem nicht datierten Tagebucheintrag gestand: „Er liebt sie und ob er gleich ein Philosoph ist und mir gut ist, so sieht er mich doch nicht gerne kommen, und mit meinem Mädgen vergnügt seyn. Und ich, ob ich ihm gleich recht gut bin, so sehe ich doch auch nicht gern, daß er bey meinem Mädgen allein bleiben, und sie unterhalten soll.“ (GB 1 II, S. 419) Ohne ein persönliches Wort des Abschieds an Charlotte Buff und ihren Verlobten gerichtet zu haben, verließ Goethe Wetzlar am 11. September 1772.
Der Freitod von Jerusalem und Goethes Werther
Über Karl Wilhelm Jerusalems Freitod am 30. Oktober 1772 – wenige Wochen nach Goethes Abreise – wurde der Dichter durch Kestner persönlich unterrichtet. (vgl. GB 1 II, S. 458–466) Kestners ausführlichem Bericht ist zu entnehmen, dass sich Jerusalem „etwa gegen 1 Uhr […] über das rechte Auge hinein durch den Kopf geschossen“ (RA 1, Nr. 7) hatte. Neben der anhaltenden Unzufriedenheit über die Auseinandersetzung mit Höfler sowie der damit verbundenen gesellschaftlichen Diskreditierung nannte Kestner ein weiteres Motiv für Jerusalems Selbstmord: die unglückliche Liebe zu Elisabeth Herd, der Ehefrau des kurpfälzischen Legationssekretärs Philipp Jakob Herd, die dem 25-Jährigen „vollends seiner Zufriedenheit und Ruhe den Stoß geben“ (ebd.) habe. Erschüttert über den Tod Jerusalems antwortete Goethe: „Gott weis die Einsamkeit hat sein Herz untergraben, und – seit sieben jahren kenn ich die Gestalt, ich habe wenig mit ihm geredt, bey meiner Abreise nahm ich ihm ein Buch mit das will ich behalten und sein Gedencken so lang ich lebe.“ (GB 1 I, S. 241)
Mit seinem Werther setzte Goethe dem Verstorbenen ein literarisches Denkmal, wobei er Kestners akribischer Beschreibung der letzten Tage Jerusalems zum Teil wörtlich folgte. Der Berichterstatter selbst störte sich später weniger an Goethes Plagiaten, als vielmehr an den offensichtlichen Parallelen zu Goethes Wetzlarer Aufenthalt: „Ihr habt zwar in iede Person etwas Fremdes gewebt, oder mehrere in eine geschmolzen. Das ließ ich schon gelten. Aber wenn Ihr bey dem verweben u. zusammen schmelzen euer Herz ein wenig mit rathen lassen; so würden die würcklichen Personen, von denen ihr Züge entlehnet, nicht dabey so prostituiret seyn.“ (RA 1, Nr. 36) Ähnlichkeiten erkannte Kestner nicht nur zwischen seiner und der wertherschen Lotte, sondern auch zwischen Goethes Albert und sich selbst: „Mag es immer ein eigenes nicht copirtes Gemächte seyn sollen; so hat es doch von einem Original wiederum solche Züge │:zwar nur von der Aussenseite, u. Gott sey's gedanckt nur von der Aussenseite:│ daß man leicht auf den würcklichen fallen kann.“ (ebd.) Auch darauf, in leichter Abwandlung einen besonders tragischen Moment der Wirklichkeit nachzugestalten, verzichtete Goethe im Roman nicht: Kestner hatte seine Pistolen – ähnlich wie Albert dem unglücklichen Werther – Jerusalem nichtsahnend wenige Stunden vor dessen Freitod geliehen.
Goethe versuchte, Kestner zu beschwichtigen und bat ihn, die Wirkung des Werks abzuwarten: „Ich will nichts, ich bitte euch, ich will nichts von euch hören, biss der Ausgang bestätigt haben wird dass eure Besorgnisse zu hoch gespannt waren, biss ihr dann auch im Buche selbst das unschuldige Gemisch von Wahrheit und Lüge reiner an euerm Herzen gefühlt haben werdet.“ (GB 2, Nr. 155) Goethe sollte Recht behalten: Ein Vierteljahr später schrieb Kestner seinem Göttinger Studienfreund August von Hennings, dass der „Werther“ ihm „im Publico, so viel ich weiß, hier keinen Schaden gethan“ habe, auch wenn er den Roman „nicht mit der Theilnehmung, wie ich bey andern sehe, lesen und wiederholt lesen kann“, und ihn die Lektüre schmerzte. (GB 2 II, S. 347) Tatsächlich wies Kestner damit auf die bis heute faszinierende Nähe von Leben und Literatur in Goethes Jugendwerk hin, wobei ihm freilich die Einsicht nicht erspart blieb, dass es immer gefährlich sei, einen Autor zum Freund zu haben.
[1] Werther und Lotte am Grabmonument, Zeichnungen von Taco Scheltema, um 1800, © Klassik Stiftung Weimar – Museen
[2] Werthers Grab auf einem Friedhof bei Wetzlar, Druck nach Zeichnung von Johann Eck, zwischen 1820 und 1850, idealisiert dargestellt ist der Friedhof auf dem Jerusalem bestattet wurde mit der Stadtmauer sowie dem Dom Unserer Lieben Frau im Hintergrund. Auf dem Monument auf der linken Bildseite ist „Werther“ zu lesen, heute auf dem Gelände des Parks „Rosengarten“ in Wetzlar, © Klassik Stiftung Weimar
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