Selbst die ganz Großen haben mal klein angefangen. Das gilt auch für New York, die mit rund achteinhalb Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Stadt der USA. Politisch, wirtschaftlich und kulturell hat die Metropole an der Ostküste globalen Einfluss, vielfach wird sie „Hauptstadt der Welt“ genannt. Seien es Debatten am Sitz der Vereinten Nationen, Börsenkurse an der Wall Street, Hit-Musicals am Broadway oder die von Touristen wie Filmemachern unzählig abgelichteten, ikonischen Wolkenkratzer – was in New York passiert, findet heute überall seinen Widerhall.
Das war zu Beginn der Besiedlung der Region, vier Jahrhunderte zuvor, noch völlig anders. Die „Insel der vielen Hügel“ („Manna-hatta“ in der Sprache der Ureinwohner, woraus später der Name „Manhattan“ hervorging) war von dichten Wäldern überwachsen, in denen Bären umherstreiften, und von Sümpfen voller quakender Frösche durchzogen. 1524 hatte der italienische Seefahrer Giovanni da Verrazzano als erster Europäer das Gebiet entdeckt, 1609 bereiste der Engländer Henry Hudson die Region, der wie zuvor Christoph Kolumbus auf der Suche nach einer Westpassage gen Asien war.
Der spätere Namensgeber des Hudson Rivers berichtete von einer reichen Biber-Population, was Pelzhändler der Alten Welt auf den Plan rief, wo die Felle der Nagetiere in der Modebranche gerade sehr gefragt waren. Kurz darauf errichteten holländische Geschäftsleute einige Handelsposten, bis die Niederländische Westindien-Kompanie im Jahr 1624 die Kolonie Neu-Niederland gründete – die Geburtsstunde des späteren New York. Einige Familien siedelten nun dort, und an Manhattans Südspitze begann der Bau des Forts Neu-Amsterdam.
Das Verhältnis zwischen den europäischen Neuankömmlingen und den amerikanischen Ureinwohnern war zunächst von Handel geprägt, doch bald kam es zu Konflikten und schließlich zur gewaltsamen Verdrängung durch die weißen Siedler. Zum Schutz vor Überfällen ließen diese von Sklaven, die sie aus Afrika importierten, einen Schutzwall errichten, auf dessen Verlauf sich die heutige Wall Street befindet. Ein einstiger Handelspfad der Natives quer durch die Insel wurde der spätere Broadway. 1653 erhielt Neu-Amsterdam Stadtrechte. In den Englisch-Niederländischen Seekriegen fiel die Stadt an die Briten, welche sie 1664 nach dem damaligen Duke of York (dem späteren König James II.) in New York umbenannten.
Die Stadt wuchs, und 1754 ließ König George II. im Süden Manhattans das King’s College gründen, die spätere Columbia University. Als intellektuelles und wirtschaftliches Zentrum wurde New York auch politisch bedeutender, neben anderen Ostküstenstädten wie Boston bildete sich hier eine Keimzelle der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Diese mündete im Unabhängigkeitskrieg, in dem New York von den Briten besetzt und in weiten Teilen durch ein Feuer zerstört wurde. Nach dem Sieg der Amerikaner fungierte sie einige Jahre als Hauptstadt der jungen USA, in der 1789 die Inauguration des ersten US-Präsidenten George Washington stattfand.
Der große Schub
Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts setzte eine rasante Transformation New Yorks ein, und mit dem „Commissioners’ Plan of 1811“ wurden entscheidende Weichenstellungen für das spätere Stadtbild getroffen. Für die weitere Ausdehnung von der Südspitze der Insel, wo sich bisher alles konzentrierte, in die bislang kaum besiedelten nördlichen Teile Manhattans setzte man ab jetzt konsequent auf ein gleichförmiges, rechtwinkliges Raster, mit Straßenblöcken an zwölf Avenues in Nord-Süd-Richtung und dutzenden durchnummerierten Querstraßen.
Neuer Wohnraum wurde nun auch immer dringender benötigt, denn das Wachstum der Stadt entfaltete eine beispiellose Dynamik. Das lag zum einen an der Fertigstellung des Eriekanals 1825, der New Yorks Hudson River mit den großen Seen und damit den Märkten des Mittleren Westens verband und die Stadt zum größten Warenumschlagplatz der Ostküste werden ließ. Zum anderen setzte eine Masseneinwanderung aus Europa ein.
Von rund 79.000 Einwohnern im Jahr 1800 wuchs die Bevölkerungszahl „Greater New Yorks“ bis ins Jahr 1900, inklusive der jetzt inkorporierten Boroughs außerhalb Manhattans wie Queens und Brooklyn, auf rund dreieinhalb Millionen Menschen, davon knapp zwei Millionen in Manhattan. Vor allem wirtschaftliche Gründe bewogen Millionen verarmter Europäer zu dieser Zeit, ihr Glück in der Neuen Welt zu versuchen, darunter viele Iren, Engländer – und Deutsche.
Denn als große Teile der Deutschen Länder in den unsicheren Revolutionszeiten der 1840er-Jahre von einer Ernährungs- und Teuerungskrise erfasst wurden, setzte ein wahrer Auswanderungsschub ein, dem im Verlauf des Jahrhunderts weitere folgen sollten. Verleger erkannten das steigende Interesse am Thema Emigration und brachten spezielle Auswandererblätter mit Informationen über Ausreise und Arbeitsmöglichkeiten in Übersee heraus.
Schiffseigner engagierten Ausreiseagenten, die um potentielle Emigranten warben, für sie ein lukratives Geschäft. Der technische Fortschritt schuf weitere Impulse: Eine Überfahrt nach New York auf einem modernen Dampfschiff dauerte nun statt bis zu zwölf Wochen nur noch 14 Tage. Keine andere Stadt verzeichnete jetzt eine so starke deutsche Zuwanderung wie New York, das nach Berlin und Wien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Stadt mit den meisten deutschen Einwohnern werden sollte.
Viele Neuankömmlinge zogen weiter nach Westen ins Landesinnere, wo günstiges Acker- und Weideland lockte, aber immer mehr entschieden sich, in der aufstrebenden Handels- und Industriestadt zu bleiben. Die meist mittellosen Emigranten hatten einen harten Weg vor sich, geschenkt wurde ihnen nichts. Einmal vom Schiff direkt in die fremde Umgebung geworfen, waren sie – meist kaum oder gar nicht der englischen Sprache mächtig – auf sich gestellt.
Da lag es nahe, sich gegenseitig zu unterstützen und zusammenzutun. Das Ergebnis waren Einwandererviertel, in denen ganze Straßenzüge die Gestalt der Heimat annahmen. Teile der Lower East Side nannten die Amerikaner jetzt „Little Germany“, die Emigranten bezeichneten die Gegend im Südosten Manhattans als Kleindeutschland. Das Leben in der deutschen Enklave hat die Historikerin Ilona Stölken in ihrem Buch „Das deutsche New York“ (Lehmstedt Verlag, 2013. 280 Seiten) nachgezeichnet.
Begehrte Arbeitskräfte
Im „Deutschlandle“ stellten deutsche Immigranten bis zu 45 Prozent der Bevölkerung, man sprach deutsch und heiratete untereinander, las deutschsprachige Zeitungen und traf sich in Kirchen, Volkstheatern, Vereinslokalen und Biergärten. Die Gegend war allerdings alles andere als malerisch: Immer mehr Einwohner drängten sich in überfüllten Mietskasernen ohne fließendes Wasser, Seuchen grassierten, im östlichen Teil befanden sich Kohlenlager, Werften, Brauereien und Schlachthäuser, die einen beißenden Gestank verbreiteten. Neben einer kleineren Zahl von Akademikern bestand die deutsche Gemeinschaft vor allem aus Arbeitern und Handwerkern – die besser als etwa die Iren ausgebildet und daher als Arbeitskräfte in der expandierenden Stadt sehr begehrt waren. An New Yorks rapidem wirtschaftlichen Aufschwung hatten sie somit erheblichen Anteil.
Eine deutsche Domäne wurde die Nahrungsmittelindustrie. Das Bierbrauen war fest in deutscher Hand, aus zunächst kleinen Brauereien wurden bis ins späte 19. Jahrhundert riesige Betriebe. Auch deutsche Fleischer und Bäcker hatten in der Stadt hohe Marktanteile. Die größte Gruppe deutscher Immigranten arbeitete aber in der Bekleidungsindustrie, oft in Heimarbeit. Neben weiteren produzierenden Berufen wie Tischlern waren viele Deutsche auch im Handel tätig und unterhielten kleine „Krämerläden“. Deutsch-jüdische Einwanderer, die zu Hause von vielen Gewerben ausgeschlossen waren, hatten hier am meisten Expertise, sodass sie bald einen Großteil des Einzelhandels in New York kontrollierten. Ebenso vermochten sich deutsch-jüdische Banker in Konkurrenz mit den alteingesessenen angelsächsischen Geldhäusern New Yorks zunehmend zu etablieren.
Wer es sich leisten konnte, ließ die vollgestopften Straßen und Hinterhöfe Kleindeutschlands aber bald hinter sich, um nach Norden in die neuen und modernen Bauten oberhalb der Houston Street zu ziehen, die dort in rasantem Tempo hochgezogen wurden. Zudem strömten immer mehr Einwanderer aus Osteuropa und Italien in die Lower East Side, die daher um die Jahrhundertwende zunehmend ihren deutschen Charakter verlor.
Die Deutschen wichen mit ihren Unternehmen nicht nur nach Norden aus, sondern auch aus Manhattan hinaus, etwa nach Brooklyn, das durch die 1883 fertiggestellte Brooklyn Bridge nun viel besser angebunden war. Die imposante, damals weltweit längste Hängebrücke mit 486 Metern Spannweite zählt bis heute zu den ikonischsten Bauwerken New Yorks und wurde bei ihrer Einweihung, zu der zehntausende Schaulustige kamen, noch Roebling-Brücke genannt. Denn ihr Konstrukteur war Johann August Röbling, der sich 1831 aus dem thüringischen Mühlhausen nach Amerika aufgemacht und seinen Namen in John Roebling abgeändert hatte.
Ein weiterer Aufsteiger aus Deutschland war Heinrich Steinweg. Dem Möbeltischler und Instrumentenbauer, der 1850 aus dem Harz nach New York kam, gelang mit seiner Familienfirma unter dem anglisierten Namen „Steinway & Sons“ eine rasante Expansion zum führenden Hersteller von Klavieren, die als Statussymbol in den Wohnzimmern der aufstrebenden Mittelschicht sehr gefragt waren.
1885 emigrierte Friedrich Trump aus dem pfälzischen Kallstadt, aus dem auch die Familie seines Vetters zweiten Grades Henry John Heinz stammte. Dessen H. J. Heinz Company in Pittsburgh wurde um die Jahrhundertwende zum Synonym für Tomatenketchup. Trump wiederum stieg nach lukrativen Geschäften an der Westküste 1918 ins Immobiliengeschäft in Queens ein, was sein Sohn Fred Trump weiterführte. Dessen Sohn Donald Trump sollte in den 1970ern und -80ern zu einem der schillerndsten Immobilienunternehmer New Yorks werden, 2015 verkündete er im von ihm erbauten Trump Tower in Midtown Manhattan seine erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur. Im November 2024 will er erneut kandidieren. Die US-Präsidenten Herbert Hoover (im Amt 1929 bis 1933) und Dwight D. Eisenhower (im Amt 1953 bis 1961) hatten ebenfalls deutsche Vorfahren.
So wie Röbling oder Steinweg änderten viele deutsche Einwanderer in den USA seit jeher ihre Namen ab, um sich der angelsächsischen Leitkultur anzupassen. Der Assimilierungsdruck führte bereits um die Jahrhundertwende zu einer schwindenden Sichtbarkeit der Deutschamerikaner. Dann kam die Zäsur des Ersten Weltkriegs, und alles Deutsche geriet unter Generalverdacht. Den deutschen Amerikanern kam es ab dem Kriegseintritt der USA 1917 nur noch in Ausnahmefällen in den Sinn, das Banner deutscher Kultur hochzuhalten. Der Zweite Weltkrieg tat ein Übriges. Wer heute nach deutschen Spuren in New York sucht, muss genau hinschauen, etwa um verblasste deutsche Inschriften auf Kirchen oder einstigen Vereinshäusern zu finden.