Wer denkt schon Böses bei einem Blumenstrauß? Vor allem, wenn eine Frau mittleren Alters die Blumen in der Hand hält, um sie einem der beiden prominenten Politiker zu überreichen, die gerade Wahlkampf machen? Der Kölner Kriminalbeamte Siegfried van Almsick zum Beispiel. Er hat am 25. April 1990 den richtigen Instinkt: Mehrfach weist der Polizist eine ganz in Weiß gekleidete, dunkelhaarige Frau mit ihren Blumen zurück, als sie während der Wahlkampfveranstaltung auf die Bühne gehen will, wo Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau und der SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine sprechen.
Erst als sich die Kundgebung in der Stadthalle von Köln-Mülheim gegen 20.45 Uhr ihrem Ende nähert, bekommt die Frau ihre Chance: Gegen den Willen van Almsicks lassen einige Ordner der SPD sie auf die Bühne kommen. Vielleicht scheint es ihnen eine schöne Geste zu sein, wenn die beiden Spitzengenossen vor noch laufenden Fernsehkameras Blumen überreicht bekommen.
Doch plötzlich zieht die Frau in Weiß ein 30 Zentimeter langes Messer und stößt es Lafontaine seitlich in den Hals. Warum Lafontaine, warum nicht Rau? Zufall, wird die Attentäterin später sagen: Der Kanzlerkandidat steht ihr im entscheidenden Moment gegenüber, nicht rechts neben ihr wie der stellvertretende SPD-Vorsitzende Rau. Ein anderes Mal wird sie die Auswahl ihres Ziels damit begründen, dass Lafontaine ihr plötzlich „politisch wertvoller“ erschienen sei.
Das Messer trifft seinen Hals direkt zwischen Ohr und Kiefer, es verletzt mehrere Blutgefäße schwer. Doch Lafontaine hat Glück im Unglück: Die Attentäterin verfehlt ihr eigentliches Ziel, die Halsschlagader. Wäre sie verletzt worden, hätte nichts mehr das Leben des saarländischen Regierungschefs retten können. So aber kommt Oskar Lafontaine, lebensgefährlich verletzt und mit schlimmem Blutverlust, in eines der besten Krankenhäuser Deutschland, das Universitätsklinikum Köln. In einer zweistündigen Notoperation retten die Chirurgen das Attentatsopfer.
Unmittelbar nach dem fatalen Stich nehmen Sicherheitsbeamte die Attentäterin fest. Auf den Fernsehbildern jener Augenblicke ist sie mit einem merkwürdig entspannten, beinahe zufriedenen Gesichtsausdruck zu sehen. Schnell wird sie identifiziert – es handelt sich um die Arzthelferin Adelheid Streidel, 42 Jahre alt.
Weitere Ermittlungen ergeben, dass sie am Morgen des Attentats ganz normal zur Arbeit gegangen ist. Denn seit dem 1. April 1990 arbeitet sie wieder als Sprechstundenhilfe bei einem Arzt in Bad Neuenahr. Um 12.30 Uhr hat Adelheid Streidel an diesem Mittwoch die Praxis verlassen – Mittwochnachmittag sind wie in ganz Deutschland die meisten Arztpraxen geschlossen.
Doch nun, so stellt die Kriminalpolizei fest, weicht Adelheid Streidel von ihrem gewöhnlichen Tagesablauf ab: Sie isst in einer Pizzeria, trinkt einen Fernet Branca, besteigt ein Taxi und lässt sich nach Köln-Mühlheim fahren. Eine Strecke, die laut Taxameter immerhin fast 120 Mark kostet. Das passt gar nicht zu ihrer sonstigen eisernen Sparsamkeit.
In der Mühlheimer Stadthalle wartet sie den ganzen Nachmittag und fällt trotz ihrer seltsamen Aufmachung – weißes Kleid, aber grellrot geschminkte Lippen und dunkel nachgezogene Augenbrauen – niemandem auf. Wenn nur jemand sie nach ihrem Namen gefragt hätte! Immerhin kommen am Abend zwei der wichtigsten Politiker der Bundesrepublik, die beide Personenschutz haben, weil sie als gefährdet gelten.
Dann wäre schnell herausgekommen, wer da wartet: Bereits seit Jahren ist aktenkundig, dass Adelheid Streidel geistig gestört ist und gemeingefährlich sein kann. Spätestens seit 1978 fühlt sie sich von „Stimmen“ und „Erscheinungen“ gepeinigt, später kommen Wahnvorstellungen hinzu: Sie fürchtet sich vor Gaswolken, die „die Politiker“ freisetzten, um normale Bürger zu „vergiften“.
Außerdem verteilt Streidel Flugblätter, in denen sie vor den „Menschentötungsfabriken der Bonner Regierung“ warnt. Dort würden aus Menschen der unteren sozialen Schichten Konserven hergestellt – oder aber sie würden zu Intellektuellen umfunktioniert, indem man ihnen ihre eigenen Köpfe abtrennte und durch andere Köpfe ersetzte.
1986 folgt dann der erste wirklich gemeingefährliche Übergriff: In der Garage einer Druckerei legt Streidel Feuer, weil sich darunter geheime Gänge befänden, in denen Menschen verschwänden. Für sechs Wochen wird sie daraufhin in eine geschlossene Anstalt eingewiesen, drei weitere Monate tagsüber psychiatrisch versorgt. Mit Psychopharmaka gelingt es, ihre Angstzustände in den Griff zu bekommen; die Vormundschaft durch ihre Schwester wird aufgehoben.
Doch im Frühjahr 1989 setzt Adelheid Streidel die Medikamente ab; prompt verschlimmert sich ihr Zustand wieder. Einige Monate später unternimmt sie einen Suizidversuch. Am 17. Januar 1990 beantragt ihre Schwester Irene N. erneut die Pflegschaft, weil Adelheid Streidel „stark selbstmordgefährdet ist und durch die wieder auftretende Aggressivität auch eine Gefahr für andere besteht“.
Doch erst nach dem fatalen 25. April und dem Messerangriff handeln die Behörden. Die Attentäterin wird in der Untersuchungshaft psychiatrisch begutachtet; das Ergebnis ist eindeutig: „Adelheid Streidel kann für die Tat, die sie an Oskar Lafontaine begangen hat, nicht zur Verantwortung gezogen werden. Sie sieht das Unrecht nicht ein. Sie ist aufgrund ihrer Krankheit schuldunfähig.“ Die Staatsanwaltschaft beantragt daraufhin die dauerhafte Verlegung der Angeklagten in eine psychiatrische Klinik; das Gericht stimmt zu.
Die folgenden gut 23 Jahren verbringt Adelheid Streidel in der geschlossenen Psychiatrie; am 1. Juli 2013 wird sie unter strengen Auflagen aus der Klinik entlassen und unter falschem Namen in einem Pflegeheim untergebracht. Nach weiteren sechs Jahre unter Bewährung erhält sie im Juli 2019 ihre vollständige Freiheit zurück. Nach Angaben eines Sprechers erwarten die Richter der zuständigen Strafvollstreckungskammer in Kleve, dass von der einstigen Attentäterin „kein Risiko mehr ausgeht, erneut Straftaten zu begehen“.
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