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Zweiter Weltkrieg Kriegsende 1945

Der Henker der SS kam bis zuletzt einmal pro Woche

Noch während 1945 die Schlacht um Berlin tobte, waren die Gefängnisse der Reichshauptstadt mit Todeskandidaten gefüllt. Der Historiker Johannes Tuchel hat erforscht, wie die Zellen „geleert“ wurden.
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Bis in den April 1945 wurden Hunderte Gefangene im Gefängnis Berlin-Plötzensee festgehalten. Das Foto zeigt die Hinrichtungsstätte, in der unter anderem viele Verschwörer des 20. Juli 1944 hingerichtet wurden, die letzten in den Schlusstagen des Krieges Bis in den April 1945 wurden Hunderte Gefangene im Gefängnis Berlin-Plötzensee festgehalten. Das Foto zeigt die Hinrichtungsstätte, in der unter anderem viele Verschwörer des 20. Juli 1944 hingerichtet wurden, die letzten in den Schlusstagen des Krieges
Bis in den April 1945 wurden Hunderte Gefangene im Gefängnis Berlin-Plötzensee festgehalten. Das Foto zeigt die Hinrichtungsstätte, in der unter anderem viele Verschwörer des 20. J...uli 1944 hingerichtet wurden, die letzten in den Schlusstagen des Krieges
Quelle: picture-alliance / dpa

Gefängniswärter leben gefährlich. Jedenfalls, wenn ihr Arbeitsplatz gestürmt und die Gefangenen befreit werden. Genau das wusste offenbar Obergerichtsvollzieher Runge, in den letzten Tagen des Dritten Reiches der Verantwortliche im Gefängnis Berlin-Plötzensee.

An Hitlers letztem Geburtstag schickte er eine Liste mit den verbliebenen Gefangenen an den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof und bat um „Entscheidung, ob diese Gefangenen im äußersten Fall entlassen werden können“. Offenbar sorgte sich Runge, was mit ihm passieren könnte, wenn vorrückende sowjetische Soldaten allzu viele Häftlinge in seiner Obhut antreffen könnten.

Ob der Brief seinen Adressaten erreichte, ist unklar. Immerhin kämpften an diesem Tag sowjetische Truppen bereits rund um Berlin, hatten mehrere Vororte schon eingenommen. Das Ende des Krieges stand unmittelbar bevor, verbunden mit der Eroberung der Reichshauptstadt.

In besonderen Fällen vollzog der Henker auch „Einzelexekutionen“: Der Historiker Johannes Tuchel (Jg. 1957) ist Professor an der Freien Universität Berlin und Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendlerblock
In besonderen Fällen vollzog der Henker auch „Einzelexekutionen“: Der Historiker Johannes Tuchel (Jg. 1957) ist Professor an der Freien Universität Berlin und Leiter der Gedenkstät...te Deutscher Widerstand im Bendlerblock
Quelle: picture-alliance / Brexendorff_M

Trotzdem öffneten die Gefängniswärter nicht einfach die Zellen. Was in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges in Plötzensee geschah, hat Johannes Tuchel erforscht. Der Historiker ist im Hauptberuf Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendlerblock, dem heutigen Bundesverteidigungsministerium, und der beste Kenner aller Arten von Gegnern des NS-Regimes. Weil in Plötzensee auch die meisten Verschwörer des 20. Juli 1944 hingerichtet wurden, lag es für den Professor der Freien Universität nahe, sich mit diesem Gefängnis in 1945 zu befassen.

Der letzte Mitwisser des Stauffenberg-Attentats, der hier gehenkt wurde, Ewald von Kleisst-Schmenzin, starb am 9. April 1945. Doch auch danach gab es noch regelmäßige Exekutionen. „Einmal pro Woche kam der Henker“, resümiert Tuchel gegenüber der „Welt“ seine Recherchen über die Endzeit in Plötzensee. Es war immer derselbe: Wilhelm Röttger.

Nach Schätzungen vollzog der gelernte Schlosser und Fuhrunternehmer mindestens 6000 Exekutionen; genaue Zahlen gibt es nicht. Allein zwischen dem 1. und dem 18. April 1945 tötete Röttger 57 Menschen in Plötzensee mittels Fallbeil, in der Regel reihenweise wöchentlich, mal 13, mal 33 in einer Nacht.

Doch in besonderen Fällen gab es auch „Einzelexekutionen“, für die Röttger eigens ins Gefängnis kam. Nachdem am 6. oder 7. April 1945 Berliner Bäckereien überfallen worden waren, ordnete NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels umgehende Liquidierungen an, um ein Exempel zu statuieren. Am frühen Morgen des 8. April, genau um 0.30 Uhr und eine Viertelstunde später, tötete Röttger deshalb zwei angebliche oder tatsächliche Rädelsführer.

Im Februar 1945 waren in Plötzensee noch 794 Gefangene inhaftiert
Im Februar 1945 waren in Plötzensee noch 794 Gefangene inhaftiert
Quelle: picture-alliance / akg-images

Doch auch mit Exekutionen ließ sich die Haftanstalt Plötzensee nicht wirklich leeren. Nach Tuchels Recherchen im Bundesarchiv befanden sich dort im Februar 1945 noch 794 Gefangene; spätere Zahlen gibt es offenbar nicht. Ihre Zahl wird sich in den folgenden Wochen verringert haben, doch es gab auch Neuzugänge.

Am Morgen des 23. April 1945 nämlich wurden zwei Dutzend Gefangene nach Plötzensee eingeliefert. Sie kamen zum Teil aus dem Zellengefängnis an der Lehrter Straße. Genau gegenüber des heutigen Berliner Hauptbahnhofes, der Rest waren „unpolitische“ Strafgefangene.

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Weil es keine fahrtüchtigen Autos mehr gab, mussten die Häftlinge zu Fuß gehen: „Der vorschriftstüchtige Herr Regierungsrat ließ uns zu dritt nebeneinander fesseln, und dann wurde rechts und links noch eine Längskette durchgezogen, sodass eine untrennbare Kolonne entstand“, notierte Paulus van Husen. Der Jurist war Mitwisser des 20. Juli und hatte zum Kreisauer Kreis gehört; trotzdem hatte der Volksgerichtshof ihn „nur“ zu drei Jahren schwerem Zuchthaus verurteilt.

Mehrere Wachtmeister trieben die Häftlingskolonne gegen elf Uhr auf die Straße und in Richtung Plötzensee. Es war eine lebensgefährliche Verlegung: „Als zweimal russische Tiefflieger ganz niedrig die Straße entlangstrichen, sprangen die Wächter in Haustüren und ließen die ihnen anvertrauten Gefangenen, die wegen der Ketten nicht in Deckung laufen konnten, erbarmungslos auf der Straße stehen.“

In einer verschlossenen Zelle im zweiten Stock eines Riesengebäudes beliebigem Artilleriefeuer ausgesetzt zu sein, ist ein Gefühl, das man nicht beschreiben kann
Paulus van Husen, Gefangener in Plötzensee

Nach einer Stunde kamen die Gefangenen in Plötzensee an. Ihnen fielen brennende Häuser auf. Explosionen und Geschützdonner zeigten, dass weiter östlich gekämpft wurde. Im weitläufigen Gefängnis wurden die verlegten Häftlinge durch lange Gänge und mehrere Eisengitter getrieben: „Man ließ uns endlos lang auf dem Gang stehen, schnauzte uns an und ließ uns warten“, notierte van Husen. Schließlich kam er mit anderen politischen Gefangenen „in eine ganz erträgliche, wenn auch enge Zelle“.

Am Abend und am folgenden Tag gab es immer wieder heftiges Feuer – und auch fatale Treffer: Eine sowjetische Granate schlug in Haus IV des Gefängnisses ein, in dem die verbliebenen politischen Häftlinge überwiegend einsaßen. „Es ist einer der schlimmsten Tage meines Lebens“, schrieb Paulus van Husen, „denn in einer verschlossenen Zelle im zweiten Stock eines Riesengebäudes beliebigem Artilleriefeuer ausgesetzt zu sein, ist ein Gefühl, das man nicht beschreiben kann.“

An diesem Mittag und erneut am folgenden Morgen, dem 25. April, brachte der katholische Anstaltsgeistliche Peter Buchholz ihm die Heilige Kommunion. Mit einem gewaltsamen Tod in den letzten Stunden des Krieges musste jeder in Plötzensee rechnen.

Gegen Mittag verschärften sich die Kämpfe. Doch inzwischen hatte offenbar jemand bei der Artillerie erkannt, um was es sich bei dem großen Gelände handelte: nicht um Kasernen, sondern um das größte Gefängnis der Reichshauptstadt. Jedenfalls wurden nun nur noch Nebengebäude gezielt beschossen: „ein Zeichen großer Menschlichkeit“, hielt van Husen dankbar fest.

Gegen 15 Uhr war dann der Nationalsozialismus auch in Plötzensee vorüber: Soldaten des 79. Schützenkorps der sowjetischen 3. Stoßarmee besetzten das Areal. Nun wurde noch einmal gestorben: Gefängniswärter waren dran. „Allenthalben“ lagen ihre Leichen herum, sah Paulus van Husen, „in großen Blutlachen um die grünen Uniformen“. Traf diese Rache die „richtigen“, also die besonders grausamen unter den Schließern? Das weiß niemand. Überlebende Gefangene aus Hitlers Gefängnissen berichteten sowohl von sadistischen Aufsehern wie von Männern, die ihnen nach Möglichkeit halfen.

Sowjetische Soldaten drängten sich im Mai 1945 um das Fallbeil in der Hinrichtungsstätte Plötzensee
Sowjetische Soldaten drängten sich im Mai 1945 um das Fallbeil in der Hinrichtungsstätte Plötzensee
Quelle: picture-alliance / akg-images
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Obwohl gläubiger Christ, konnte van Husen den Exzess verstehen: „So grausig dieses kaltblütige Morden war, so erklärlich war nach meinen eigenen Erfahrungen die Wut der Gefangenen“, schrieb er auf.

Ein Armeefotograf dokumentierte, wie sich sowjetische Soldaten um das Fallbeil drängten.

Nach Tuchels Untersuchungen verließen einige der befreiten Gefangenen noch am selben oder folgenden Tag das Gefängnis. Doch das konnte eine schlechte Idee sein: Der Gewerkschafter Heinrich Körner, zu vier Jahren Haft verurteilter Hitler-Gegner, starb beim Verlassen des Gefängnisses durch einen Schuss. Die genauen Umstände konnten nie aufgeklärt werden.

In den erhaltenen Gebäuden schlug das 79. Schützenkorps sein Hauptquartier auf. Vermutlich wurde von hier aus der Sturmangriff auf den Reichstag am 30. April 1945 organisiert. Er kostete noch einmal Tausende Menschenleben.

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