SWR2 lesenswert Kritik

Tessa Hadley – Sonnenstich

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AUTOR/IN
Claudia Fuchs

Eine Schülerin lässt sich von drei bekifften Studenten im Auto mitnehmen. Ein verlässlicher Ehemann trifft die Frau wieder, die ihm als Teenager erotische Angebote machte.

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Tessa Hadleys Kurzgeschichtenband „Sonnenstich“ zeigt die Brüchigkeit von familiären Beziehungen und Freundschaften so treffsicher und spannend, dass man unwiderstehlich hineingezogen wird.

Sie fangen so harmlos an, diese sechs Erzählungen im Kurzgeschichtenband „Son­nenstich“ von Tessa Hadley. Ein leichter Plauderton, der gekonnt darüber hinwegtäuscht, dass es unter der Oberfläche scheinbarer Normalität kräftig brodelt.

Tessa Hadley, Mutter und Stiefmutter von sechs Söhnen, schreibt über das, was sie am besten kennt: die Fallstricke im Familienalltag und in persönlichen Beziehungen. Thema der sechs Short storys in diesem Band sind Wendepunkte im Leben, die Hadleys Figuren oft erst Jahrzehnte später im Rückblick bewusst werden.

Kleine Auszeiten vom Alltag bieten dabei Gelegenheit für Veränderungen, die sich leise andeuten oder mit heftiger Vehemenz herbeigeführt werden.

Jane Allsop war fünfzehn, als sie entführt wurde

Was ist damals geschehen und was hat es mit mir gemacht? Dieser Leitfrage stellt sich auch die Hauptfigur in der Geschichte „Die Entführung“. Bereits der erste Satz weckt Neugierde ebenso wie böse Vorahnungen: „Jane Allsop war fünfzehn, als sie entführt wurde und niemand es bemerkte.“

Das junge Mädchen, das sich in den Ferien zu Hause langweilt, wird von drei Stu­denten zum Mitfahren eingeladen. Die Geschichte spielt in den 1960er Jahren, die jungen Männer sind betrunken und stehen unter Drogen. Jane steigt ein und schon ist man mitten drin in dieser fesselnden Geschichte.

Es geht darin um die ernüchternde erste sexuelle Erfahrung eines Mädchens, um einen Betrug und dessen lange unbeachtete Folgen. Die allwissende Erzählerin findet einprägsame Bilder für die Schlüsselszene der Geschichte, die den verletzenden Betrug offenbart.

Die blendende Helle eines Schlafzimmers bleibt im Kopf und wehende Leinenvorhänge im Morgenlicht. Wir schauen mit der Protagonistin in ein Zimmer, das einen Erkenntnisraum öffnet, den einer der Studenten mit dem Satz „Jetzt weißt du’s“ vieldeutig und treffend zusammenfasst.

Tessa Hadley verortet ihre Protagonistinnen und Protagonisten sehr sorgfältig. Die Einrichtung der Wohnhäuser wird ebenso genau beschrieben wie Frisuren und Kleidung.

Ungenaue Übersetzung

Leider ist die Übersetzung oft ungenau und teilweise unverständlich. Wenn in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen das wenig aussagekräftige Adjektiv „gemütlich“ zu lesen ist, lässt das auf mangelndes Bemühen um sprachliche Differenzierung schließen.

Und was soll man sich unter einer „Blendung“ vorstellen, die am Protagonisten hängt und von ihm tropft? Dass es hier wohl um Tarnfarbe geht, fiel offenbar auch im Lektorat nicht auf.

Kritiker und Kritikerinnen bescheinigen der 67-jährigen Tessa Hadley ein starkes Interesse an Klassenunterschieden. Das Setting der Short Stories setzt den sozialen Rahmen durch pointierte Details.

Als die junge Jane in das teure, grüne Sport-Cabrio einsteigt, das die Studenten von den Eltern geliehen haben, verlässt sie ihr vertrautes Terrain. Janes Vater fährt einen unauffälligen, schwarzen Mittelklassewagen.

Die Männer in Hadleys Short Stories sind Lehrer, Ärzte oder Professoren. Die eben­falls studierten Ehefrauen und Mütter haben allenfalls „einen symbolischen Job außer Haus“, wie die Erzählerin in „Sonnenstich“ es scharfzüngig benennt. Diesen willfährigen weiblichen Rückzug ins Private beschreibt die Autorin, ohne ihn zu verurteilen.

Die erotischen Avancen einer älteren Frau

Nur eine der Geschichten wird aus männlicher Perspektive erzählt. In „Meeresleuch­ten“ kann ein 13-jähriger Junge die erotischen Avancen einer jungen Ehefrau und Mutter nicht deuten, die sie ihm während des Sommerurlaubs im Cottage seiner Eltern macht. Unsicher versucht der Jugendliche, die Bedeutung der verwirrenden Bot­schaften einzuordnen.

Aber Tessa Hadley bleibt nicht bei den Erinnerungen stehen, sondern bietet auch eine Deutung aus heutiger Perspektive an. Sie lässt den inzwischen erwachsenen Mann 25 Jahre später noch einmal auf seine Ferienbekanntschaft treffen.

Wie komplex und vielschichtig enge Beziehungen sein können, machen Hadleys Ge­schichten mit ihren überraschenden Wendungen und fein austarierten Dialogen deut­lich. Die Hierarchie innerhalb von Beziehungen etwa offenbart sich in der flapsigen Teenagersprache unter Geschwistern ebenso wie im aggressiven Schlagabtausch zwischen einem Familienvater und seiner Geliebten.

Es ist faszinierend, mit welchem sprachlichen Geschick Tessa Hadley die verborge­nen Bedeutungsschichten von Beziehungserfahrungen freilegt. Trotz der Mängel in der Übersetzung verdient der Kurzgeschichtenband eine nachdrückliche Leseempfehlung.

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Claudia Fuchs