Warum es wesentlich ist, welche Fraktion am größten ist, wer die Ausschüsse dominiert und die künftige EU-Führung wählt.
Brüssel/Wien. Vor der Abstimmung war Ursula von der Leyen noch nervös gewesen. Letztlich stimmten 383 der damals noch 747 Abgeordneten (vor dem Brexit) für sie. Es war eine hauchdünne Mehrheit für die deutsche CDU-Politikerin im EU-Parlament. Sie konnte nur gewinnen, weil neben ihrer eigenen christdemokratischen Fraktion zahlreiche Liberale und viele rechtsnationale Abgeordnete der Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR) für sie votierten. Das war am 16. Juli 2019.
Will sie im Sommer dieses Jahres wiederbestellt werden, ist die EU-Kommissionspräsidentin erneut auf eine Mehrheit quer durch die Fraktionen des neu gewählten Abgeordnetenhaus angewiesen. Die EU-Wahl wird also auch Einfluss auf die Bestellung des künftigen Führungspersonal der EU haben. Es geht dabei nicht bloß um die künftige Frau oder den künftigen Mann an der Spitze der Kommission, es geht auch darum, wer das Amt des Parlamentspräsidenten, des künftigen Außenbeauftragten übernimmt und wer Kommissarsposten erhält.
Rücksicht auf Balance
Die Europawahl kann das Machtgefüge in den wichtigsten EU-Institutionen verändern, weil die EU-Abgeordneten per Mehrheitsbeschluss jeweils die dafür vorgeschlagenen Führungspersönlichkeiten absegnen müssen. Deshalb wird von den EU-Regierungen, die hier ein Vorschlagsrecht haben, schon vor den Nominierungen auf die Machtbalance zwischen den stärksten politischen Fraktionen im EU-Parlament Rücksicht genommen.
Ursula von der Leyen ist Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP), die Sozialdemokraten (S&D) schicken den bisherigen Luxemburger Kommissar Nicolas Schmit ins Rennen, die Grünen haben sich für eine Doppelkandidatur der deutschen EU-Abgeordneten Terry Reintke und ihrem niederländischen Parlamentskollegen Bas Eickhout entschieden. Die Liberalen (Renew) gehen gleich mit drei Spitzenkandidaten ins Rennen: Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Sandro Gozi und Valérie Hayer. Es gibt auch Gruppen wie die Fraktion Identität und Demokratie (ID), die keinen Spitzenkandidaten nominiert haben.
Seit der Europawahl des Jahres 2019 ist die Automatik, dass der Spitzenkandidat oder die Spitzenkandidatin der stärksten politischen Kraft letztlich auch Kommissionspräsident wird, durchbrochen worden. Das Manko war, dass dieses Prinzip nicht im EU-Vertrag verankert, sondern lediglich zwischen den großen Fraktionen des EU-Parlaments vereinbart worden war. Auch diesmal könnte deshalb ein taktisches Manöver einzelner Staaten oder politischen Gruppen noch für eine Überraschung sorgen. Ursula von der Leyen, die aussichtsreichste Kandidatin, muss deshalb bis zuletzt bangen, ob sie neuerlich bestellt wird oder nicht. Allerdings wird es auch diesmal keine Bestellung geben, die nicht von einer Mehrheit der Abgeordneten im EU-Parlament mitgetragen wird.
Sie stimmen nicht nur über die Person an der Spitze der Kommission ab, sondern auch über das Kollektiv der restlichen Kommissare. Dass die Abgeordneten ihren Einfluss dabei geltend machen, haben sie bereits in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach unter Beweis gestellt. 2019 beispielsweise sorgte das EU-Parlament dafür, dass zwei nominierte Kommissare letztlich nicht zum Zug kamen: Die rumänische Sozialdemokratin Rovana Plumb als Verkehrskommissarin und der vormalige ungarische Justizministers László Trócsányi von der Regierungspartei Fidesz als Erweiterungskommissar. Weil sie den Ansprüchen der Abgeordneten, die sie über ihre Einstellung zu Europa und ihre vorgesehene künftige Tätigkeit befragten, nicht entsprachen, mussten sie von ihren Regierungen zurückgezogen und durch neue Kandidaten ersetzt werden.
»Der Kompromiss ist die Kunst, eine Torte so aufzuteilen, dass jeder glaubt, das größte Stück zu haben.«
Paul-Henry SpaakEhemaliger belgischer Premier. Er entwickelte das Projekt eines gemeinsamen Markts.
Die Europawahl wird die Größe der künftigen Fraktionen im EU-Parlament bestimmen. Je nach Zahl der Abgeordneten für die einzelnen Gruppen hat das zum einen Einfluss auf die Themensetzung und die politische Linie der gesamten EU in Zukunftsfragen wie der Sicherheitspolitik, dem Klimaschutz oder der wirtschaftspolitischen Orientierung. Zum anderen hat die Fraktionsgröße direkten Einfluss auf die Leitung der wichtigsten Ausschüsse im Parlament. Und sie beeinflusst die Auswahl von Berichterstatterinnen und Berichterstattern. Deren Aufgabe ist es, die Position des Abgeordnetenhauses bei neuen Gesetzesvorhaben zu entwerfen und zu verhandeln. Sie bestimmen die gemeinsame europäische Politik in wesentlichem Maße mit, obwohl sie jeweils auf Kompromisse angewiesen sind.
Im politischen Maschinenraum der EU spielt das EU-Parlament neben dem Rat der EU (Regierungsvertreter) eine wesentliche Rolle. Es kann seine Aufgabe aber nur erfüllen, wenn es auch in Zukunft kompromissfähig bleibt – das heißt, auch bei kontroversen Themen eine gemeinsame Linie findet.
Fähigkeit zum Kompromiss
Es ist die Faszination und gleichzeitig das Schicksal der 27 Länder umfassenden EU: Kompromisse sind die einzige Möglichkeit, gemeinsam Probleme zu lösen und die Union weiterzuentwickeln. Durch sie werden unterschiedliche Interessen und ideologische Differenzen auf einen Nenner gebracht. Im EU-Parlament gibt es zwar keinen Klubzwang wie etwa im österreichischen Nationalrat. Abgeordnete können frei nach ihrer Meinung entscheiden. Aber je größer die Kluft in der Gesellschaft wird, je stärker sich Meinungsbilder abseits jeder Rationalität verfestigen, desto schwieriger wird es auch, zu einer Einigung auf europäischer Ebene zu kommen. Dies wurde zuletzt etwa bei der gesetzgeberischen Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen oder bei der Migrationspolitik deutlich.
Weil die Kompromisssuche im Europaparlament nicht nur spannend, sondern weltweit auch einzigartig ist, war sie bereits Vorlage für Fernsehdokumentationen und Filmserien. So begleitet etwa die auf Arte ausgestrahlte Dokumentation „Der Kompromiss. In den Korridoren der Macht“ drei Abgeordnete bei ihrer Suche, wie Menschenrechte, Umwelt und Wirtschaftsinteressen bei dem kürzlich beschlossenen Lieferkettengesetz unter einen Hut gebracht werden konnten. Die Netflix-Serie „Parlament“ (siehe Seite 8) stellt nicht nur das kuriose Leben von Assistenten in den Mittelpunkt, sondern auch die heikle Entscheidungsfindung im EU-Parlament.