Donald Tusk im Vordergrund nach rechts blickend
Polen soll auf der europäischen Bühne wieder "eine Hauptrolle" spielen, sagte der frühere EU-Ratspräsident und polnische Oppositionsführer Donald Tusk am Mittwoch Brüssel. Bei der jüngsten Parlamentswahl erzielte seine Bürgerkoalition gemeinsam mit der konservativen Partei "Dritter Weg" und der sozialdemokratischen Linken eine Mehrheit im Sejm.
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Polens populistisch-autoritäre Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) erlitt bei den Parlamentswahlen am 15. Oktober eine herbe Niederlage. Sie konnte nur 35,4 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, die prodemokratischen Oppositionsparteien kamen auf 53,5 Prozent. Nach dem Sieg von Joe Biden über Donald Trump ist dies die zweite bedeutsame Niederlage für autoritäre Politiker im Westen. Welche Lehren lassen sich daraus für Polen, Europa und andere Demokratien ziehen?

Ebenso wie bei den Präsidentschaftswahlen 2020 in den USA lag auch in Polen die Wahlbeteiligung mit 74 Prozent – verglichen mit 62 Prozent 2019 – auf einem Rekordwert, nämlich dem höchsten seit dem Fall des Kommunismus im Jahr 1989. Nicht nur schaffte es die PiS nicht, ihre Gesamtstimmenzahl zu erhöhen (was Trump damals sehr wohl gelang), vielmehr konnten die drei demokratischen Oppositionsparteien ihren Stimmenanteil um mehr als drei Millionen ausbauen.

Zugunsten der PiS

Obwohl es sich technisch gesehen um eine freie Wahl handelte – sprich: Die Stimmen wurden ordnungsgemäß ausgezählt –, war der Urnengang definitiv nicht fair. Die Bedingungen waren in einem Maße zugunsten der PiS gestaltet, dass sogar Ungarns autoritärer Premierminister Viktor Orbán stolz darauf gewesen wäre. Polens staatlich kontrollierter Fernsehsender, der mit 3,5 Millionen Zuschauern 40 Prozent des landesweiten Publikums erreicht und von denen mehrere Millionen keine anderen Sender empfangen können, strahlte während des gesamten Wahlkampfs rund um die Uhr PiS-Propaganda aus. Gleichzeitig gaben staatliche Unternehmen, darunter wichtige Versorgungsunternehmen, genauso viel für Pro-PiS-Wahlwerbung aus wie die PiS selbst.

Doch anders als in Ungarn blieb Polens großer, zum US-Unternehmen Discovery gehörender Kabelnachrichtensender TVN24 konsequent bei seiner unabhängigen Lini,e und ein anderer mittelgroßer, im Eigentum eines polnischen Milliardärs stehender Sender bot trotz seiner regierungsfreundlichen Ausrichtung doch differenziertere Berichterstattung. Gleichzeitig blieben die meisten Internet- und Printmedien frei, obwohl das staatliche Ölmonopol den größten Teil des lokalen Pressewesens aufkaufte, um Stimmung für die PiS zu machen.

"Je länger eine autoritäre Herrschaft andauert, desto schwieriger wird es, sie zu beenden."

Welche Lehren sind also zu ziehen? Zunächst einmal: Je länger eine autoritäre Herrschaft andauert, desto schwieriger wird es, sie zu beenden, weil die Machthaber nach und nach unabhängige Institutionen und Einflusszentren wie unabhängige Medien beseitigen. Die Chancen für einen ähnlichen Umbruch in Ungarn oder der Türkei, wo sich die Autokratie seit mehr als einem Jahrzehnt hält, sind wesentlich geringer als in Polen. Wäre die PiS als Sieger aus dieser Wahl hervorgegangen, hätte sie ihre Macht für viele weitere Amtsperioden zementieren können.

"Wahlsysteme, die auf dem Verhältniswahlrecht beruhen, sind für autoritäre Parteien schwieriger zu beherrschen."

Zweitens sind Wahlsysteme, die (wie in Polen) auf dem Verhältniswahlrecht beruhen, für autoritäre Parteien schwieriger zu beherrschen als reine Mehrheitswahlsysteme (wie in Ungarn und der Türkei). Verhältniswahlrecht bedeutet eben die verhältnismäßige Aufteilung der Stimmen, während sich Mehrheitswahlsysteme als eher anfällig für die als Gerrymandering bezeichnete Manipulation von Wahlkreisgrenzen erweisen.

In Polen besteht zwar noch ein gewisser Spielraum für derartige Manipulationen – deshalb hat die PiS mit nur 35 Prozent der Stimmen 42 Prozent der Sitze im Sejm, dem polnischen Unterhaus, gewonnen –, aber das reichte nicht, um den Sieg zu garantieren. Im Gegensatz dazu hat sich Orbán in Ungarn mit lediglich rund der Hälfte der Wählerstimmen eine Zweidrittelmehrheit gesichert, die groß genug ist, um Verfassungsänderungen durchzubringen.

Beispiel USA

Darüber hinaus tendieren Mehrheitswahlsysteme zur Polarisierung der Wählerschaft und zur Erhöhung des Drucks bei Wahlen, die einer oder beiden Seiten in zunehmendem Maße als existenzielle Frage erscheinen. Autoritäre, die in einem derartigen System die Oberhand in einer großen Partei gewinnen, können über viele Jahrzehnte hinweg eine Bedrohung für die verfassungsmäßige Ordnung im weiteren Sinne darstellen. In den Vereinigten Staaten scheint dies derzeit der Fall zu sein.

Ein Hauptgrund für die Niederlage der PiS bestand darin, dass der Dritte Weg – ein Wahlbündnis, das sich an demokratisch eingestellte gemäßigte Konservative wendet, also das polnische Gegenstück zu den „Never-Trump-Republikanern“ – 65 Sitze im Sejm gewann. Man stelle sich nur vor, wie anders die US-Politik wäre, würde beispielsweise eine Partei unter der streng konservativen ehemaligen Kongressabgeordneten Liz Cheney aus Wyoming – die wegen ihrer Opposition zu Trump aus dem Amt gedrängt wurde – über 60 Sitze im Repräsentantenhaus verfügen.

Auf Verhältniswahlrecht ausrichten

Wollen wir unsere Demokratien vor der Gefahr des Autoritarismus schützen, müssen wir unsere Wahlsysteme so weit wie möglich auf das Verhältniswahlrecht ausrichten, auch wenn das zu stärkerer politischer Fragmentierung führt. Als die PiS im Jahr 2015 mit lediglich 38 Prozent der Stimmen eine Mehrheit im Parlament errang, lag das an den Sperrklauseln, die verhinderten, dass Parteien, die gemeinsam auf einen Stimmenanteil von etwa 16 Prozent kamen, ins Parlament einziehen konnten.

In der Weimarer Republik, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, als die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent lag, konnten die Nazis aufgrund des herrschenden Verhältniswahlrechts keine Mehrheit erlangen. Nur durch die Inszenierung eines Staatsstreichs nach dem Reichstagsbrand waren sie in der Lage, sich die absolute Macht zu sichern. Mit Blick auf die Zukunft sollten sich prodemokratische Kräfte in den USA für ein – wie im Bundesstaat Georgia praktiziertes – Zwei-Runden-System statt parteiinterner Vorwahlen einsetzen. In Polen sollte überdies die Hürde für den Einzug ins Parlament radikal auf ein Prozent gesenkt werden.

"Den Wählerinnen und Wählern nicht nur ein vielfältiges Angebot machen, sondern auch für eine höhere Wahlbeteiligung sorgen."

Eine dritte Lehre lautet, dass es für prodemokratische Kräfte nicht nur gilt, den Wählerinnen und Wählern ein vielfältiges Angebot zu machen, sondern auch für eine höhere Wahlbeteiligung zu sorgen. Genau das tat der ehemalige polnische Ministerpräsident und Präsident des Europäischen Rats Donald Tusk in diesem Jahr, als er im Wahlkampf unermüdlich jede Woche drei bis vier öffentliche Versammlungen in ländlichen Hochburgen der PiS abhielt. Während der Dritte Weg den Politikverdrossenen einen etwas abgeschwächteren Ansatz präsentierte, bot Tusk allen Polinnen und Polen, die wirklich demokratische Verhältnisse wollen, genau das an.

Und Ungarn?

Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass die populistisch-autoritäre Bedrohung den gesamten Westen erfasst hat. Das heißt, die demokratische Antwort darauf hat ebenso weitreichend zu sein. Auf europäischer Ebene muss die neue polnische Regierung jenen Schutzschirm beseitigen, den die PiS mit ihrem Veto gegen einschneidende EU-Maßnahmen wegen Ungarns Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit über Orbán gespannt hat. Das Verfahren gegen Orbán nach Artikel 7 des EU-Vertrags ist unverzüglich wiederaufzunehmen, und Ungarn ist das Stimmrecht in der EU zu entziehen, bis das Land eine funktionierende demokratische Ordnung wiederhergestellt hat. Wahlen – auch wenn sie in anderen Ländern stattfinden – müssen Konsequenzen nach sich ziehen. (Jacek Rostowski, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 26.10.2023)