Dostojewski - „Der Doppelgänger“ in Schwetzingen: Der gestauchte Mann
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Dostojewski - „Der Doppelgänger“ in Schwetzingen: Der gestauchte Mann

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Goljadkins Welt: Unten rechts er selbst, zunehmend haltlos. Oben die unerreichbare Klara.
Goljadkins Welt: Unten rechts er selbst, zunehmend haltlos. Oben die unerreichbare Klara. © Elmar Witt

Lucia Ronchettis kompakt schwebende Dostojewski-Oper „Der Doppelgänger“ in Schwetzingen uraufgeführt.

Zum verkraftbaren Beamtenschicksal gehört es seit jeher, mit dem Spott jener überzogen zu werden, die von einer Verbeamtung besonders weit entfernt sind. Der Spott kompensiert die u. U. unangenehme Rolle der Beamtenschaft als verlängertem Arm eines bedrängenden Staates, zugleich sind die Witzbolde kaum zu Unrecht der Ansicht, dass der Beamtenapparat auch für seine natürlichen Bewohner (und Bewohnerinnen) ein krauser, schauriger Ort sein kann.

Besondere Volten zeigten sich im russischen Zarenreich, in dem ja vieles überdimensioniert war und ein ausgeklügeltes System von Staatsbediensteten – seit 1722 mit 14 Rängen – die aristokratischen Seilschaften zerschneiden sollte. Das funktionierte letztlich schlecht, schickte die Abertausenden Verwaltungsbediensteten aber als Ameisen in einen kompliziert hierarchisierten Bau. Depression, Desintegration und Verwirrung machten freche Dichter bei den Betreffenden aus. In Gogols „Die Nase“ versucht sich die Titelheldin ohne den zugehörigen Kollegienassessor (8. Rang) ins Ausland abzusetzen. In Fjodor Dostojewskis früher Erzählung „Der Doppelgänger“ wird der Titelheld zum Problem für einen Titularrat (9. Rang), erst ist dieser bloß irritiert, dann wird er verrückt. Oder das Opfer einer Intrige. Oder beides.

Im Auftrag des Südwestrundfunks hat die Schriftstellerin Katja Petrowskaja für Lucia Ronchetti aus der umfangreichen Vorlage ein klug verdichtetes und halbwegs auch Dialoge bietendes Libretto gemacht. Nicht einfach. „Mich rettete nur der Gedanke“, so Petrowskaja, „dass es viele wunderschöne Opern gibt, die auf katastrophalen Libretti basieren.“ Ronchetti, von der die Idee zu einem „Doppelgänger“-Musiktheater kam, fühlte sich nach eigenem Bekunden vor allem von der St. Petersburger Geräuschkulisse angelockt. Ausführlich hat sie dazu recherchiert, zu hören ist nun aber eine ganz leichthändige, feinziselierte Musik. Sie ist anfolklorisiert, zitiert auch direkt russische Volkslieder, auf die Ronchetti im Petersburger Phonogramm-Archiv traf. Dies geschieht aber wie im Vorüberwehen und Vorübergehen, wenn man sich bei lebhafter Witterung in einer vollen Stadt bewegt. Goljadkin – so heißt der Unselige, der von seinem Doppelgänger aus dem tätigen Leben gedrängt wird – ist vielfältig unterwegs, Pferdehufe trappeln, vielleicht sind das Schlittenglöckchen, es mag regnen, und auch Goljadkins Puls könnte zu hören sein, der sich erhöht, als sich ein Mann mit seinem Namen vorstellt, der ihm verflucht ähnlich sieht. So etwas kommt vor, aber nicht oft.

Ronchetti etabliert wirkungsvoll ein Außen und ein Innen, die Petersburger Klangkulisse und der verzagte Beamte, der einen schönen Bariton hat, aber vor Panik oder Übereifer ins Falsett kippt. Seine Verzweiflung mag keiner verstehen, während der Doppelgänger immer offensiver auftritt. Kalt und markig geht es um Goljadkin herum zu. Ätherisch unwirklich in vibratolosen Höhen indes die einzige Frauenfigur, die geliebte, Goljadkin aber entgleitende, schlimmer noch: zum Doppelgänger hinüberwechselnde Klara.

Im dafür denkbar geeigneten Schmuckkasten des Schwetzinger Schlosstheaters bietet das SWR Symphonieorchester unter Tito Ceccherini (Dirigent auch der von Corona stark behinderten Ronchetti-Uraufführung von „Inferno“ in Frankfurt 2021) eine 75-minütige schlanke Überfülle und einen behänden, immer wieder die Richtung wechselnden und eingezäunten Farbenrausch. David Hermanns Inszenierung in Bettina Meyers markantem Bühnenbild begibt sich währenddessen ganz in die Eingezwängtheit der Goljadkinschen Lage. Ein bühnengroßer Setzkasten, flexibler, als er zunächst scheint, ist Goljadkins Welt, und Peter Schöne, der dem Abend große Stimme, scheues Gesicht und elastische Statur gibt, bewegt sich hier auf vertrautem Terrain. Schlimm aber, wie dann die Wände geschoben werden und er sich immer dünner machen, biegen und stauchen muss. Unten kann er wie Jesus in der Predella eines Altars begraben liegen. Aus deutschsprachiger Sicht hat er viel von einer Kafka-Figur, das vermitteln auch die ungrotesken Kostüme von You-Jin Seo. Goljadkin und sein Doppelgänger, der gar nicht so ähnliche, aber ähnlich klingende Christian Tschelebiew, treten im Allerweltsanzug auf. Außer Goljadkin und dem relativ treuen Diener für alle, Zvi Emanuel-Marial (als Counter und Tenor), sind alle Figuren dezent android. Hier stimmt gewaltig etwas nicht, der arme Beamte hat es nur noch nicht gemerkt.

Olivia Stahn ist als überirdische Klara zu hören, Vladyslav Tlushch ist der beinhart uninteressierte Vorgesetzte und Robert Maszl der grelle Doktor Rutenspitz, ein E.T.A.-Hoffmann-Dämon, aber die Regie hält den Ball flach. Umso größer der Graus. Auch ein aus den Solisten formiertes Vokalquartett und eine elektronische Stimmvermehrung (Maurice Oeser, SWR Experimentalstudio) verschärfen den Alp, aber auf die abgefeimte Tour.

Schwetzinger SWR Festspiele: bis 25. Mai. „Der Doppelgänger“ wird kommende Spielzeit am Theater Luzern zu sehen sein.

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