(PDF) Präsenzschau in Versunkenheit und Ekstase. Carl Albrechts Phänomenologie der Mystik | Simon Peng-Keller - Academia.edu
Präsenzschau in Versunkenheit und Ekstase Carl Albrechts Phänomenologie der Mystik von Simon Peng-Keller 1 Einleitung Schon eine flüchtige Kenntnisnahme der Bedeutungsvielfalt, die mit der Vokabel »Mystik« in der religionswissenschaftlichen Literatur der letzten Jahrzehnte verbunden ist, lässt fraglich werden, ob es sich hier um einen Begriff handelt, der sich für weitere Forschungen empfiehlt. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei diesem Substantiv um die Spätfrucht einer sich über Jahrhunderte hinziehenden abendländisch-christlichen Entwicklung handelt, drängt es sich auf, zunächst bei diesem religiösen Traditionsstrom anzusetzen und erst in einem zweiten Schritt danach zu fragen, ob das auf diesem Wege gewonnene Verständnis auf andere religiöse Traditionen übertragbar ist. Doch auch im Hinblick auf die abendländische Religionsgeschichte besteht Uneinigkeit darüber, was »Mystik« sei, was den »Mystiker« und die »Mystikerin« ausmache. Grundsätzlich steht nach Michel de Certeau die Mystologie als wissenschaftliches Reden über »Mystik« vor dem Dilemma, dass sie entweder bei außergewöhnlichen Phänomenen ansetzen muss, die jedoch isoliert betrachtet ihren mystischen Gehalt verlieren, oder bei einer Essenz, die sich aber in den Raum des Unaussprechlichen entzieht.1 Entgegen dem weit verbreiteten Vorverständnis, das Wesen und Ziel von Mystik sei die unio mystica, werde ich mich im Folgenden an Bernard McGinn orientieren, der in seiner mehrbändigen Geschichte der abendländischen Mystik herauszuarbeiten versucht, »dass die Einigung mit Gott gar nicht die zentrale Verstehenskategorie für Mystik ist.«2 Wie der Originaltitel von McGinns Werk andeutet – The Presence of God –, ist es für den Kirchenhistoriker aus Chicago das Bewusstsein der »unmittelbare(n) bzw. direkte(n) Gegenwart Gottes«, welches das »mystische Element im Christentum« kennzeichnet.3 Mit der Spezifizierung des mystischen Bewusstseins als unmittelbar und direkt grenzt es McGinn gegenüber der »gewöhnlichen« Glaubenserfahrung ab, die ebenfalls als ein Bewusstsein 1 Michel de Certeau, Art. Mystique, in: Encyclopaedia Universalis, Bd. 15 (1992) 1031 -1036, hier 1033f. 2 Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland. Bd. 1: Ursprünge, Freiburg i. Br. 1994, 16. 3 McGinn, Mystik (wie Anm. 2), 16 4 McGinn, Mystik (wie Anm. 2), 19. 5 McGinn, Mystik (wie Anm. 2), 17. 6 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. I: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, 14. 7 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik. Band II: Frauen- zmr | 90. Jahrgang | 2006 | 88 - 100 mystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, 78. 8 Vgl. Ruh, Geschichte (wie Anm. 7): »Was Elisabeth von Schönau vor allem, streng genommen: fast ausschließlich, in die mystische Tradition einbindet, ist die Grundform ihrer visionären Schau: die Ekstase.« 9 Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland. Bd. 2: Entfaltung, Freiburg i. Br. 1996, 515. 10 McGinn, Mystik (wie Anm. 9), 514: »War Hildegard von Bingen eine Mystikerin? Einige ihrer Visionen bezeugen eine unmittelbare Begegnung mit Gott, deren mystischer Gehalt nach den unserer Geschichte zugrunde gelegten Kategorien nur schwer zu leugnen ist. Hildegards Schriften sind jedoch nicht mystischen Charakters […]. Ihre Stimme ist die der Theologin, aber weniger einer mystischen denn einer prophetischen Lehrerin – wahrlich die ›Sibylle vom Rhein‹.« 11 Ausführlichere biografische Angaben und Belege finden sich in: Simon Peng -Keller, Gottespassion in Versunkenheit. Die psychologische Mystikforschung Carl Albrechts aus theologischer Perspektive, Mainz 2003, 19 -84. Präsenzschau in Versunkenheit und Ekstase 89 der Gegenwart Gottes beschrieben werden kann. Bei dieser Näherbestimmung geht es McGinn um mehr als um eine Differenz im Bereich des subjektiven Erlebens: »Die objektive Differenz liegt im Modus der göttlichen Gegenwart: Von ihr wird gesagt, dass sie direkt bzw. unmittelbar gegeben ist, ohne die üblichen internen und externen Vermittlungen, die in anderen Bewußtseinsformen vorliegen.«4 Demgegenüber hält McGinn »Visionen, herausgehobene Redeweisen, Verzückungen und dergleichen«5 von sekundärer Bedeutung für eine Wesensbestimmung der Mystik. Anders sieht es der kürzlich verstorbene Schweizer Altgermanist Kurt Ruh, der sich in seiner zeitgleich zu McGinns Werk begonnenen Geschichte der abendländischen Mystik am Kanon der Forschungsgeschichte und an den »Traditionszusammenhänge(n), Überlieferungsgeschichte mit eingeschlossen« orientiert.6 Die mystische Erfahrung hat nach Ruh eine komplexe Struktur: »Wie in der Ekstase (extasis [sic], excessus, raptus) die visio erfolgt, so in der visio die Offenbarung (revelatio). […] Die Ekstase ist der Akt, der die Bedingungen der leiblichen Existenz aufhebt, die visio die übersinnliche Erkenntnis- und Erfahrungsform der visionären Person, die Offenbarung die Kundgebung der Überwelt.«7 Was bei McGinn ein Nebenphänomen ist, die Ekstase, wird bei Ruh zum entscheidenden Kriterium, um z. B. die Visionen von Elisabeth von Schönau, anders als die nichtekstatischen Schauungen der Hildegard von Bingen, als mystische Visionen zu klassifizieren.8 Demgegenüber ist Elisabeth für McGinn »ein gutes Beispiel für eine Visionärin, die nicht als Mystikerin anzusehen ist. Obwohl sie oft von ihrer Entrückung spricht (in excessu mentis), ist das, was sie in diesen Ekstasen verspürt, weniger eine unmittelbare, die Seele verwandelnde Begegnung mit Gott als ein Eintreten in die himmlische Welt, wo ihr meist durch Vermittlung von Engeln Botschaften mitgeteilt werden, die der Kirche in ihren Schriften verkündet werden sollen.«9 Im Hinblick auf Hildegard von Bingen ist McGinn hingegen weniger zurückhaltend als Ruh und hält mindestens bei einigen ihrer Visionen das Prädikat »mystisch« für berechtigt.10 Die folgenden Ausführungen möchten im Rückgriff auf die Mystologie Carl Albrechts zwischen McGinns und Ruhs Position vermitteln, indem sie nach einigen biografischen Angaben zu Albrecht (2.) dessen Schriften im Hinblick auf eine Phänomenologie der vielfältigen Formen der ecstasis (3.) und der visio (4.) auswerten und sein Verständnis der mystischen revelatio (5.) skizzieren. Im Anschluss daran ist die von Albrecht und McGinn vertretene Ansicht zu prüfen, dass das Spezifikum mystischer Erfahrung in einer besonderen Form von Unmittelbarkeit liege (6.). Die letzten drei Abschnitte (7.-9.) widmen sich schließlich der Frage, in welchem Verhältnis mystisches Erleben und kognitive Orientierungen zueinander stehen. Mein in diesem Durchgang entwickelter Vermittlungsvorschlag besteht darin, mit McGinn bei der Präsenzerfahrung anzuknüpfen, die Unterscheidung zur »gewöhnlichen« Glaubenserfahrung jedoch nicht in einer »objektiven« Unmittelbarkeit sondern in einer besonderen Erlebnisform bzw. Erlebnisintensität zu sehen, so dass mit K. Ruh die mystische Erfahrung mit der folgenden Formel beschrieben werden kann: in der ecstasis die visio, in der visio die revelatio, wobei mit »visio« das ganze Spektrum inneren Erlebens, mit »revelatio« die Offenbarung von Gottes Gegenwart gemeint ist. 2 Carl Albrecht (1902-1965)11 Spiritualitätsgeschichtlich ist Carl Albrecht insofern eine Ausnahme, als sich in seiner Person vereinigte, was üblicherweise auf verschiedene Akteure verteilt war. Er war zugleich mystisch Erlebender und skeptischer Mystologe und wechselte im Laufe seines Lebens 90 Simon Peng-Keller zwischen der Innenschau des Kontemplativen und dem diagnostischen Blick des Arztes, die psychologisch-mystagogische Kunst des Therapeuten mit der Akribie des Wissenschaftlers vereinigend. Ein solches Spektrum an Möglichkeiten ließ sich nicht ohne Spannungen verbinden. Als ältester Sohn einer reichen Bremer Kaufmannsfamilie war Carl Albrecht väterlicherseits zu einem anderen Beruf und Leben bestimmt, als er es sich selber wünschte und dann auch gegen große Widerstände durchsetzte. Nach einem wechselvollen Jahr des Suchens an verschiedenen Fakultäten wählte er schließlich das Medizinstudium, spezialisierte sich auf Innere Medizin und lernte in seinen Assistentenjahren das Autogene Training kennen, das er später in seiner ärztlich-psychotherapeutischen Praxis zu einer eigenen Versenkungstechnik weiterentwickelte, die ihm schließlich, nach einer langjährigen Annäherung an den Glauben, die Tore zu religiös-mystischem Erleben öffnete. In der Folge dieses für ihn selber überraschenden Einbruchs waren die turbulenten Kriegsjahre für den in Bremen verbliebenen Arzt durch verschmelzungsmystische Versunkenheitsstunden aufgehellt. Nach einem gesundheitlichen Zusammenbruch kamen Albrecht 1947 Zweifel bezüglich der mystischen Qualität seines Versunkenheitserlebens, und er fasste den eigentümlichen Entschluss, auf dem Wege einer psychologisch-philosophischen Mystologie nach größerer Klarheit zu suchen. In einem Brief äußerte sich Albrecht rückblickend über diesen Entscheid: »Ich darf an dieser Stelle, persönlich sprechend, meine eigene Ausgangssituation nennen: Ich selber stand jahrelang im mystischen Erlebnisbezug. Wie jeder ernstzunehmende Mystiker wurde ich von der Frage gequält, ob das mystische Erleben ›echt‹ sei. Da ich nicht im 16. Jahrhundert, sondern im zwanzigsten lebe, bin ich nicht wie Theresa zu meinem Beichtvater hingegangen, sondern musste versuchen, das Phänomen in der Sphäre des kritischen Denkens zu prüfen.« Die Frucht dieser Katharsis des Denkens, für die Albrecht Jahre der seelischen Trockenheit, des »mystischen Entzugs« wie er es nannte, in Kauf nahm, sind seine in ihrer Weise einzigartigen Mystikbücher 12, die bald nach Erscheinen von Denkern wie Gabriel Marcel und Karl Rahner mit großer Zustimmung aufgenommen wurden. Carl Albrecht starb am 19. Juli 1965 nach einer längeren Herzkrankheit. 12 Ich werde Albrechts Bücher mit den folgenden Siglen zitieren: PmB: Psychologie des mystischen Bewußtseins, Mainz 21990; ME: Das mystische Erkennen. Gnoseologie und philosophische Relevanz der mystischen Relation, Bremen 1958; MW: Das mystische Wort. Erleben und Sprechen in Versunkenheit. Dargestellt und herausgegeben von Hans A. Fischer -Barnicol. Mit einem Vorwort von Karl Rahner, Mainz 1974. 13 Vladimir Satura, Art. Ekstase, in: Peter Dinzelbacher (Hg.), Wörterbuch der Mystik, Stuttgart 1989, 132 -134, hier 132. 14 In Albrechts Phänomenologie fehlt die »Entrückung«, während Satura nicht zwischen »Entrückung« und »Versunkenheit« unterscheidet und beide als »unbewegte Ekstase« klassifiziert. Vgl. auch die Bestimmung von A. Müller, Art. Ekstase, in: HWPh, Bd. 2 (1972) 434: »Die pagane Welt kennt die prophetische Ekstase, deren Subjekt ›tönendes Werkzeug des Gottes‹ ist, als Heraustreten des menschlichen Geistes, der dem Gott Platz macht und nach dessen Erleuchtung wieder zurückkehrt. Für Plotin ist Ekstase Einswerden mit dem Göttlichen (unio mystica) durch intensive Selbstversenkung, bei der Schauender und Geschautes den Logos transzendieren. Zeichen der Echtheit sind Nichtmitteilbarkeit des Geschauten – das impliziert Ablehnung der prophetischen Ekstase – und völlige Bewegungslosigkeit des Ekstatikers« (Abkürzungen stillschweigend aufgelöst). 15 In der christlich -abendländischen Tradition ist die von Paulus in 2 Kor 12, 2 -4 beschriebene Erfahrung (die Vulgata übersetzt ›harpazo‹ mit ›raptus‹) das klassische Beispiel für eine mystische Entrückung. 16 Satura, Ekstase (wie Anm. 13), 133. 17 Vgl. PmB 105f (im Original Fettdruck): »Die Versenkung ist ein aus sich selbst ablaufender psychischer Vorgang, der durch einen vorlaufenden Willensentschluß durchgängig determiniert ist und dessen kennzeichnendes Merkmal die Desintegrierung des Wachbewußtseins und die Neuintegrierung des Versunkenheitsbewußtseins ist. […] Die Versunkenheit ist ein voll integrierter, einheitlich und einfach gefügter, überklarer und entleerter Bewußtseinszustand, dessen Erlebnisstrom verlangsamt ist, dessen Grundgestimmtheit die Ruhe ist und dem als einzige Funktion eines nur noch passiv erlebenden Ichs die Innenschau zugeordnet ist.« 18 In einer ersten Stufe der Versenkung (Vgl. PmB 11ff) tauchen noch störende Gedanken, Alltagssorgen, Ängste u.s.w. auf. Die zweite Stufe der Versenkung (Vgl. PmB 95ff), die sich dem Zustand der Versunkenheit nähert, ist nach Albrecht gekennzeichnet durch ein ruhiges Bilderleben. 19 Vgl. PmB 102 -105. 20 Vgl. PmB 204 -207. Präsenzschau in Versunkenheit und Ekstase 3 91 Ecstasis: Verzückung, Entrückung und Versunkenheit In dem von Peter Dinzelbacher herausgegebenen Lexikon der Mystik definiert Vladimir Satura die Ekstase »als ein Erlebnis extrem intensiver Ergriffenheit bei gleichzeitigem Verlust der Körperempfindung und des Realitätsbezuges zur Umwelt.«13 Phänomenologisch lassen sich im Anschluss an Satura und Albrecht 14 mindestens drei Grundformen von ekstatischem Erleben unterscheiden: 1. Die Verzückung, die als eine gradweise entstehende psychophysische Übererregung zu beschreiben ist, welche sich in einem Ausdrucksgeschehen (Tanz, Jubilus, Glossolalie) manifestieren kann. 2. Die Entrückung (»raptus« 15), die als unbewegte Ekstase »unbeabsichtigt, unerwartet, blitzartig (ohne Übergang)« eintritt und oft mit dem Gefühl verbunden ist, sich außerhalb seines Körpers zu befinden.16 3. Die Versunkenheit, die wie die Verzückung gradweise entsteht, im Gegensatz zu dieser aber ein Zustand psychophysischer Untererregung darstellt, der von außen betrachtet dem Schlafzustand gleicht, sich jedoch durch ein ausschließlich dem »inneren« Erleben zugewandtes Wachbewusstsein von diesem unterscheidet. Zu diesem differenzierten Ekstasebegriff bietet die Forschung Albrechts nicht nur begriffliche Klärungen, sondern eine in mancherlei Hinsicht einzigartige Phänomenologie, in deren Zentrum der Zustand der Versunkenheit steht. Begrifflich unterscheidet Albrecht die Versunkenheit als spezifischen außeralltäglichen Bewusstseinszustand von der Versenkung, durch die sich das normale Wachbewusstsein in ein Versunkenheitsbewusstsein transformiert.17 In seiner ausführlichen und genauen Beschreibung des Versenkungsvorgangs konnte Albrecht auf die jahrzehntelange Erfahrung mit einer eigenen Versenkungsmethode zurückgreifen, die er ausgehend vom Autogenen Training und der Hypnosetherapie entwickelt und als Arzt auch zu psychotherapeutischen Zwecken fruchtbar gemacht hatte. Während der Versenkung geschieht ein Doppeltes: einerseits wird in einer radikalen Introversionsbewegung die sinnliche Wahrnehmung zunehmend ausgeschaltet, andererseits gewinnt die nach innen gerichtete Aufmerksamkeit an Klarheit, und es kommt zu einer zunehmenden Beruhigung und Verlangsamung des Erlebens.18 Die Versenkung mündet dann in die Versunkenheit, wenn alle äußere Wahrnehmung ausgeschaltet ist und der Sich-Versenkende zu einem inneren Erleben gefunden hat, das Albrecht metaphorisch die Innenschau nennt.19 Die Innenschau zeichnet sich nach Albrecht durch eine hohe Luzidität und Geordnetheit des Bewusstseins aus. Obwohl also der Versunkene von außen einem Schlafenden gleicht und wie der Schlafende der Sinneswahrnehmung beraubt ist, befindet er sich in einem äußerst wachen Zustand, wobei die ganze Aufmerksamkeit dem inneren Erleben gilt. Eine zentrale Einsicht von Albrechts Psychologie des mystischen Bewußtseins liegt nun darin, dass der Versunkenheitszustand für sich genommen sowenig mit Mystik zu tun hat wie beispielsweise der Schlaf. Die Versunkenheit ist wie die Verzückung ein methodisch einübbarer außeralltäglicher Bewusstseinszustand, der mit den verschiedenartigsten Erlebnisformen verbunden sein kann.20 Die mystische Erlebnisqualität ist nach Albrecht weder als ekstatische Verschmelzung noch als Bewusstseinsentleerung zureichend bestimmt, sondern zeichnet sich durch ein inhaltliches Moment aus. In der Formel von Ruh: mystisch ist eine »ecstasis« nur dann, wenn sie verbunden ist mit der »revelatio« der Gegenwart Gottes, die sich in einer »visio« vermittelt. Wir nähern uns dieser mystischen Qualität, indem wir zunächst nach den möglichen Formen der »visio« fragen. Während für die Näherbestimmung der »ecstasis« Albrechts erstes Buch, die Psychologie des mystischen Bewußtseins, weiterführend ist, kann man für eine Phänomenologie der »visio« auf das einige Jahre später erschienene (1956) zweite Werk Das mystische Erkennen zurückgreifen. 92 4 Simon Peng-Keller Visio: Imagination und Präsenzerleben Die vielfältigen Unterscheidungen von Albrechts ordnender Phänomenologie mystischer Erfahrungsformen lassen sich auf die Leitdifferenz zwischen Imagination und Präsenzerleben (bzw. Realitätsbewusstsein) reduzieren. Die Spielarten der ›visio‹ ergeben sich einerseits aus den verschiedenen Formen der Imagination, andererseits daraus, dass das Präsenzerleben sich manchmal mit der Imagination verbindet, in Grenzfällen aber auch für sich alleine vorkommt. Im Wesentlichen unterscheidet Albrecht die folgenden Möglichkeiten: • die einfache Bildschau metaphorischer, allegorischer oder symbolischer Art ohne Präsenzqualität; • das Doppelphänomen aus Bild und Präsenz: »Diese Präsenz erscheint nicht ›in‹ dem Bilde, sondern steht erlebnismäßig unverbunden ›hinter‹ oder ›neben‹ dem Bilde«;21 • das Erscheinungsbild als »ein der Innenschau gegebenes Bild, in welchem der im Bild dargestellte Gegenstand unmittelbar präsent ist«;22 • die Ausdruckserscheinung als »räumliches Schaugebilde, dessen Gesamtgestalt und dessen sämtliche Einzelzüge und Einzelbewegungen physiognomische Kundgabe eines gleichzeitig Präsenten sind«;23 • das (bildlose) Präsenzbewusstsein. Diese visionären Erlebnisformen kommen sowohl als mystische als auch als nichtmystische vor. Nichtmystisches Präsenzbewusstsein findet sich nach Albrecht beispielsweise in Gestalt von psychopathologischen Bewusstseinstäuschungen (»leibhaftige Bewusstheiten«), aber auch in alltäglichen Zusammenhängen: »Man ist mit einem anderen Menschen zusammen im gleichen Zimmer und unterhält sich mit ihm. Dann setzt man sich an den Schreibtisch und schreibt konzentriert an einem Brief. Man sieht und hört den anderen nicht mehr und denkt auch nicht an ihn. Trotzdem weiß man, daß er hinter einem anwesend ist. Man weiß dieses jederzeit, nicht auf Grund eines Schlusses, nicht auf Grund einer unterschwelligen Wahrnehmung, nicht in der Form der Vorstellung, sondern unmittelbar und unanschaulich in der Form der Bewußtheit.«24 Allerdings dürfte auch dieses »bildlose« und deshalb »unmittelbare« Präsenzbewusstsein, das in seiner mystischen Variante für Albrecht das zentrale Phänomen darstellt, untergründig von sinnlicher Wahrnehmung und Imagination bestimmt sein, indem die vergangene Unterhaltung und das dadurch entstandene Präsenzerleben retentional nachwirkt. Die atmosphärische Qualität, die durch Wahrnehmung oder Imagination entstanden ist, kann diese Vollzüge überdauern und ins »Leibgedächnis« eingehen. Ein Sonderfall der »visio«, der die Unterscheidung von Imagination und Präsenz unterläuft, ist die Lichtschau. Albrecht unterscheidet wiederum zwischen verschiedenen Formen der mystischen Lichtschau, ohne zu vergessen, dass das »Wort Licht […] auch im mystischen Wesensbereich immer nur eine symbolisch-metaphorische Aussageweise« ist, mit der niemals ein »wirkliches Licht benannt« wird.25 Das Licht kann einem Schaugegenstand, 2 1 ME 67. 22 ME 67. 23 ME 191 (im Original kursiv). 24 ME 127. 25 ME 100. 26 ME 111. 27 ME 113. 28 Evagrios Pontikos, Briefe aus der Wüste. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von G. Bunge, Trier 1986, 86. 29 Vgl. PmB 215: »Da Karl Jaspers sich in seinen letzten Werken auf den Begriff des Umgreifenden festgelegt hat und das früher mit diesem Begriff gleichartig gebrauchte Wort ›das Umfassende‹ seltener verwendet, schien es mir erlaubt zu sein, wenigstens das letzte Wort für die psychologische Kennzeichnung zu benutzen.« 30 PmB 217: »Das Wort ›Umfassen‹ ist eine gute Metapher, um den Sachverhalt auszudrücken, daß ein Wesensbereich durch einen ihn umlagernden anderen Bereich getragen und gehalten wird. Das Wort ist unbestimmt und weiträumig genug, um Raum zu lassen für die sehr unterschiedlichen Einzelqualitäten des Umfassenden, seien diese passiver oder seien diese aktiver Art.« 31 PmB 214f (Kursivierungen getilgt). 32 ME 293. Präsenzschau in Versunkenheit und Ekstase 93 z. B. einer Christusgestalt, anhaften oder als Medium dienen, »in welchem intuitive Einsichten in sonst unzugängliche mystische Bezüge möglich werden«26, wird aber manchmal auch selber zum Geschauten, wofür Albrecht Visionen von Symeon dem Neuen Theologen zitiert. Symeons Schau wird begleitet von affektivem Erleben, das in seinem Überschwang zur Verzückung hin tendiert. Nach Albrecht sind sich die Mystiker selber uneinig, wie sie das von ihnen geschaute Licht deuten sollen.27 Diese Frage gehörte nicht nur zu den umstrittenen Punkten in der Auseinandersetzung zwischen Gregorios Palamas und Barlaam im Hesychastenstreit des 14. Jahrhunderts, sondern beunruhigte schon Evagrios Pontikos derart, dass er zu Johannes von Lykopolis, dem »Seher der Thebaïs« reiste, um ihn dazu zu befragen. Dieser antwortete kurz und bündig: »Es gibt niemanden, der in der Lage wäre, das zu erklären. Indessen vermag der Intellekt ohne die Gnade Gottes nicht im Gebet erleuchtet zu werden, von vielen und bitteren Feinden befreit, die auf sein Verderben erpicht sind.«28 5 Revelatio: Die Ankunft des Umfassenden Weder die ecstasis noch die visio sind für sich genommen mystisch. Erst durch das Moment der revelatio lassen sich mystische von nicht-mystischen Ekstasen und Visionen unterscheiden. Eine Metapher von Karl Jaspers 29 übernehmend bestimmt Albrecht dieses inhaltlich-offenbarende Moment als das »Ankommen eines Umfassenden«30, wobei er es gegen psychokathartisches Erleben und Selbsterfahrungen abgrenzt und folgendermaßen näher bestimmt: »Dem Ankommenden, welches hier erscheint, fehlt jede Ich-Qualität. Es ist weder ein Bereich von Erlebnissen, die früher dem Ich zugehörig waren, es ist kein schon einmal Gehabtes oder Gewußtes, noch ist es ein Bereich, den man in Zukunft einmal zur Verfügung haben könnte. Es ist kein unbekannter, etwa im Symbol personifizierter Teilbereich des Selbstes, sondern es wird erlebt, als ob es ein schlechthin Fremdes und Anderes wäre. Es ist aber […] nicht nur ein Fremdes, sondern es ist ein unabmeßbar Großes, ein ›alles andere Überragendes‹. […] Es hat […] den Charakter des Numinosen. […] ein solches Ankommendes (wird) immer wieder derart erlebt […], als ob es ein Umfassendes, ein Umspannendes, ein Umwölbendes, ein Einhüllendes, ein Einbettendes wäre.«31 Albrechts Umschreibung lebt von Negationen: keine Selbst- und Welterfahrung kommt dem hier als ankommend Erlebten gleich. Es fehlt deshalb auch die Möglichkeit, es vergleichend zu beschreiben. Einzig der metaphorische Gehalt verweist auf eine inhaltlich qualifizierte Relation: das in Versunkenheit Ankommende wird als umfassend, umspannend, umwölbend, einhüllend und einbettend erlebt. Die numinose Dunkelheit des hier Begegnenden lichtet sich im Nachhinein, in den Wirkungen, welche die Begegnung mit dem »Umfassenden« hinterlässt, oder aber durch ein begleitendes Bilderleben, das Albrecht jedoch – wie viele Mystologen seit Augustins De genesi ad litteram xii – als truggefährdet einschätzt. Dagegen sei die Wahrnehmung der Präsenz des »Umfassenden« vor Trug gefeit: »Die Präsenzerfassung ist das zentrale mystische Erkenntnisphänomen. […] Das unmittelbare Ankommen und das Fortfallen des Zwischengliedes der mystischen Gewirktheit verringern die Möglichkeiten des Irrens. In der Präsenzerfassung gibt es keinen Irrtum über den Quellpunkt der Gewirktheit. […] Vom Sosein des Präsenten wird nichts anderes erfaßt, als daß es der mystische Gegenstand selber oder aber ein nichtmystischer Gegenstand ist. In der Präsenzerfassung entfällt demgemäß jede Trugmöglichkeit, die in einer fehlerhaften Erfassung der Washeitselemente wurzeln könnte.«32 94 Simon Peng-Keller In der Rede von der Truggefährdung und im Bemühen, einen Bereich des Erlebens auszusondern, der nicht unter Illusionsverdacht geraten kann, liegt jedoch die zentrale Schwierigkeit von Albrechts Phänomenologie der mystischen Erfahrungsformen. Die Regel, dass eine mystische Erfahrung umso trugsicherer sei, je mehr Zwischenglieder ausfallen, suggeriert eine Unmittelbarkeit, die es nicht gibt. Mit Ruh gesagt: ohne visio keine revelatio. Noch der Grenzfall einer bildlosen Präsenzschau ist, wo sich in ihr wirklich etwas offenbart, eine Form der vermittelnden visio. Die Truggefährdung, die allem religiösen Erleben anhaftet, lässt sich nicht mit den Bildern austreiben. Und wäre nicht aus religionskritischer Perspektive gegen Albrechts »Umfassendes« der Verdacht anzumelden, dass hier im Ausgang an eine elementare Endlichkeitserfahrung etwas halluziniert wird, welches das begrenzte Ganze dieser Welt zu umfassen scheint? 6 Mystisches Erleben zwischen Vermittlung und Unmittelbarkeit Albrecht trifft sich mit McGinn darin, dass er das Spezifikum mystischer Erfahrung in einer besonderen Form von Unmittelbarkeit sieht. Der Gewinn dieser Vorstellung scheint darin zu liegen, dass die Vielfalt von mystisch-religiöser Erfahrung in den verschiedenen Religionen als Ausdruck einer »ursprünglichen« und »unmittelbaren« Grunderfahrung gesehen werden kann, die dann – von den »Mystikern« selber oder von ihren Adepten – je verschieden versprachlicht und theologisch konzeptualisiert wird. Doch ist dieses Mystikverständnis in verschiedener Hinsicht problematisch. Indem es die Gleichheit der »ursprünglichen« Erfahrung als von vornherein gegeben erachtet und alle Differenzen auf einer sekundären Ebene ansiedelt, kommt es zu einer massiven Entdifferenzierung. Die konstruktivistische Gegenposition 33, die solche Generalisierungen zu vermeiden sucht, indem sie den theoriegeleiteten und sprachlichen Charakter menschlichen Erfahrens betont, gerät jedoch ihrerseits in Schwierigkeiten, wo sie die Differenz erklären sollte, die in vielen mystischen Zeugnissen beharrlich betont wird, dass nämlich in mystischen Erfahrungen die Gegenwart Gottes in überraschender Weise als unmittelbar wahrgenommen werde, wo33 Vgl. die Beiträge in: Stephen Katz (Hg.), Mysticism and Philosophical Analysis, New York 1978; Ders. (Hg.), Mysticism and Religious Traditions, New York 1983. 34 Teresa von Avila, Das Buch meines Lebens. Vollständige Neuübertragung. Gesammelte Werke, Bd. 1. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Ulrich Dobhan u. Elisabeth Peeters, Freiburg i. Br./Basel/ Wien 2001, 164 und 171f (Kapitel 9,4 und 10,1). 35 Aus der Perspektive Carl Albrechts könnte es allerdings scheinen, dass mit einem derart abgeschwächten Verständnis von Unmittelbarkeit genau das Wahrheitskritierium verspielt worden ist, das den ›trugsicheren‹ Kern mystischen Erkennens vor dem Zweifel derer schützt, die das mystische Erleben auf eine intensive Form von Imagination reduzieren. Doch ist auch Albrechts vermeintlich trugsicherer Kern gegen einen solchen Zweifel nicht gefeit. Auch ein noch so bildloses Präsenzbewusstsein kann ein Produkt der Einbildungskraft darstellen. 36 Nach W. James muss die Qualität des mystischen »Zustands direkt erfahren werden […]; er kann anderen nicht mitgeteilt oder auf sie übertragen werden. In dieser Eigenheit ähneln mystische Zustände eher emotionellen als intellektuellen Zuständen. Niemand kann einem anderen, der ein bestimmtes Gefühl nie erfahren hat, klarmachen, worin dessen Qualität oder Wert besteht. Man muß ein Ohr für Musik haben, um den Wert einer Symphonie zu erfahren; man muß selbst verliebt gewesen sein, um den Bewußtseinszustand eines Liebenden zu verstehen. Wenn uns das Herz oder das Ohr fehlt, können wir den Musiker oder den Liebhaber nicht richtig interpre- tieren und sind sogar geneigt, ihn für schwachsinnig oder lächerlich zu halten. Der Mystiker stellt fest, daß die meisten von uns seiner Erfahrung eine ähnlich inkompetente Behandlung zuteil werden lassen« (William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt /M. 1997, 384). 37 Karl Albert, Mystik und Philosophie, Sankt Augustin 1986, 223. 38 Als verschiedene Formen der Gewirktheit sind nach Albrecht zu berücksichtigen: gewirkte Wandlungen des Fühlens, der Einstellung und des Wollens; eingewirkte und bewirkte Einsichten und Visionen; Auswirkungen als »›Ausstrahlungen‹ des mystischen Es, die von seiner Präsenz ›künden‹« ME 57. 39 ME 240. 40 ME 240. 4 1 ME 326 (im Original kursiv). Präsenzschau in Versunkenheit und Ekstase 95 durch sie sich in unverkennbarer Weise von gewohntem religiösem Erleben unterscheiden. Um ein Beispiel für diesen Sachverhalt anzuführen, sei ein kurzer Passus aus der Vida der Teresa von Avila zitiert: »Ich hatte folgende Art zu beten: Da ich mit dem Verstand nicht diskursiv nachdenken konnte, versuchte ich, mir Christus in meinem Innern vorzustellen, und – wie mir schien – ging es mir damit an jenen Stellen besser, wo ich ihn am einsamsten erlebte. […] Ich erlebte bisweilen […], wenn auch nur für eine kurze Dauer, den Anfang von dem, was ich jetzt sagen will. Es widerfuhr mir bei meinem Bemühen, mir Christus vor mir zu vergegenwärtigen […], oder manchmal sogar beim Lesen, dass mich ganz unverhofft ein Gefühl der Gegenwart Gottes überkam, so dass ich in keiner Weise bezweifeln konnte, dass er in meinem Innern weilte oder ich ganz in ihn versenkt war. Das geschah nicht nach Art einer Vision; ich glaube, man nennt es mystische Theologie. Es enthebt die Seele derart, dass sie ganz außer sich zu sein schien: Mit der Kraft ihres Empfindens liebt sie; ihr Erinnerungsvermögen scheint mir eher verloren; das Erkennen denkt meines Erachtens nicht diskursiv nach, verliert sich aber nicht, doch arbeitet es nicht, wie ich sage, sondern ist gleichsam erstaunt über alles, was ihm hier aufgeht.«34 Während Teresa in ihrer gewohnten Gebetspraxis sich als Imaginierende weiß, die Christus zu vergegenwärtigen versucht, geht im mystischen Erleben der Präsenz Christi, das ihr unverhofft geschenkt wird, die selbstreflexive Distanz verloren, so dass dem innerlich Geschauten der Charakter des nur Vorgestellten verloren geht. Deshalb betont Teresa, was sie erlebt habe, sei keine Vision gewesen sondern »mystische Theologie«, eine überbildliche cognitio Dei experimentalis. Das innerlich Geschaute war auf Gegenwart Christi hin transparent. Erst im distanzierten Rückblick kann die Vermittlungsstruktur auch dieses Erlebens erkannt werden. So verstanden steht das Adjektiv »unmittelbar« für eine bestimmte Erlebnisqualität, die mit der selbstvergessenen und hingerissenen Innenschau des Mystikers verbunden ist, wobei es keinen Widerspruch bedeutet, das gleiche Erleben aus einer reflektierenden Perspektive als vermittelt zu bezeichnen.35 Was mystisches Erleben auszeichnet, ist deshalb auch nicht die Unmittelbarkeit an sich – das gilt z. B. auch für ästhetisches Erleben36 –, sondern das, was hier als unmittelbar erlebt wird. Und diesbezüglich macht es einen Unterschied, ob es das Widerfahrnis der »unmittelbaren« Präsenz Christi ist oder etwa »die schweigende Anschauung des Seins in seiner Einheit und Unendlichkeit, wobei sich der Schauende als mit dem Geschauten vereint erfährt«.37 7 Personale und apersonale Mystik Mystische Erfahrungen unterscheiden sich einerseits dadurch, dass die revelatio verschiedenartig bestimmt sein kann, anderseits durch den Offenbarungsmodus: offenbart sich mir etwas oder offenbart sich mir jemand? – Carl Albrecht versucht diesen Unterscheidungen durch ein Schichtenmodell gerecht zu werden. Er unterscheidet zwischen drei Offenbarungsstufen: die Offenbarung der Qualität des »Umfassens« (1.), der Qualität des »Wirkens«38 (2.) und schließlich von personalen »Überschichtungen« (3.).39 Die erste Offenbarungsstufe ist nach Albrecht personaler und apersonaler Mystik gemeinsam. Die mystische Erkenntnis beschränkt sich hier darauf, »daß das Ankommende das ›Ganz-Andere‹, das total Vergleichslose, Unbestimmbare ist.«40 Was Albrecht als trugfreien Kern mystischen Erkennens bezeichnet, ist nach dieser Beschreibung gesichtslos. Erst durch das einfallende Glaubenswissen »wird der Erfassungsvollzug der Präsenz zu dem Ereignis einer personalen Begegnung.«41 Auf der zweiten Offenbarungsstufe trennen 96 Simon Peng-Keller sich die Wege. Nur ein Teil der ›Wirkungen‹ kann apersonal verstanden werden: »die Ausdruckserscheinungen, die Stimmen und Einsprachen und die Lenkungen können nur als personale Bewirkungen verstanden werden. Sie sind personhaft bewirkt. […] Der apersonal erfahrende Mystiker weiß sich in einem Wirkgefüge stehend, er erlebt das Ankommen und auch den Einbruch desselben, er wird von ihm betroffen. Der personal erfahrende Mystiker, in einem erweiterten Wirkgefüge stehend, weiß sich von jedem Einzelbezuge nicht nur betroffen, sondern ›gemeint‹.«42 Hier scheiden sich beispielsweise christliche und buddhistische Mystologie und Mystagogie. Während ein Zenmeister die mystischen Wirkungen – sofern sie überhaupt vorkommen – grundsätzlich als Täuschungen abtun muss, können diese von einem personalen Gottesverständnis her positiv gedeutet werden, wenn sie auch einer kritischen Prüfung bedürfen. Die dritte Offenbarungsstufe des Albrechtschen Modells besteht in einer personalen »Überschichtung« der zweiten. Unter dem Einfluss personalen Erlebens bekommen auch an sich apersonale Erlebnisweisen eine personale Färbung. »Das Überbauungs- und Überschichtungsverhältnis drückt sich nun darin aus, dass alle diese von Haus aus apersonalen Wirkelemente personale Qualität erhalten, wenn das Ganze des Wirkgefüges unter die Kategorie der Personhaftigkeit gerät.«43 Die apersonale Mystik sieht nach Albrecht in der Präsenzerfahrung eines »Es« und manchmal auch in einer Lichtschau den Kern der mystischen Erfahrung, während sie personale Erlebnisweisen »als ein Vermischungsgefüge« deutet, »welches aus dem apersonalen Erfahrungsgefüge einerseits und den eingefallenen personalen Ausdeutungsbegriffen andererseits gebildet ist.«44 Die personale Mystik gebe demgegenüber zweierlei zu bedenken: »1. Der Bereich, welcher als unecht ausgeschieden werden soll, ist derartig umfangreich und in seinen Einzelelementen derart ›eigenständig‹ und reichhaltig, daß es als willkürlich erscheint, ihn insgesamt in das Gebiet subjektiver Produktionen und Projektionen zu verdammen. […] 2. Das mystische Wirkgefüge und ebenso das mystische Erfahrungsgefüge ist ein Gesamt, dessen sinnvolle Einheit unverkennbar ist. Das Ineinander von nur personal zu verstehenden Momenten mit den auch apersonal zu deutenden ist nicht summenhaft zusammengebracht. Die Einheit ist widerspruchsfrei, ihre Glieder sind lückenlos aufeinander bezogen und tragen sich gegenseitig. Diese Sinnhaftigkeit erschüttert den Erfahrenden.«45 Deshalb ist hier nach Albrecht jede Unterteilung in personale und apersonale Elemente willkürlich und widerspricht dem einheitlichen Erleben. Von der personalen Mystik her gesehen heiße deshalb die Alternative: »Entweder ist das gesamte Wirkgefüge unecht, oder es ist echt.«46 Albrechts Interpretation versucht zwei Deutungsmodelle mystischen Erlebens zu verbinden, die in einer gewissen Spannung zueinander stehen. Das Schichtenmodell legt ein quasi-empiristisches Verständnis nahe, wonach (primäre) Empfindung (nämlich das apersonale Präsenzerleben) und (sekundäre) Interpretation (die personale ›Überschichtung‹) 42 ME 243. 43 ME 241. 44 ME 244. 45 ME 244f. 46 ME 245. 47 Die »mystische Relation« ist in Albrechts Terminologie »ein ontischer Bezug zwischen Mensch und ›mystischem Es‹«, Vgl. ME 357. 48 ME 341. 49 ME 363. Damit steht das Bewusstsein des Versunkenen in einer gewissen Analogie zu Heideggers Charakterisierung der »reinen« Theorie, vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 182001, 138: »Theoretisches Hinsehen hat immer schon die Welt auf die Einförmigkeit des puren Vorhandenen abgeblendet, innerhalb welcher Einförmigkeit freilich ein neuer Reichtum des im reinen Bestimmen Entdeckbaren beschlossen liegt. Aber auch die reinste θεωρια hat nicht alle Stimmung hinter sich gelassen; auch ihrem Hinsehen zeigt sich das nur noch Vorhandene in seinem puren Aussehen lediglich dann, wenn sie es im ruhigen Verweilen bei … […] auf sich zukommen lassen kann.« 50 ME 360 (Kursivierungen getilgt). 51 ME 364. 52 ME 366. 53 ME 370. 54 ME 360. Präsenzschau in Versunkenheit und Ekstase 97 deutlich unterscheidbare Prozesse darstellen. Andererseits betont Albrecht, wenn er im Anschluss daran apersonale und personale Mystik gegeneinander abwägt, dass es sich bei der personal-mystischen Erfahrung um eine in sich sinnvolle Ganzheit handelt, die »nicht summenhaft zusammengebracht« sei. Für den, der das »Umfassende« als einen »Wirkenden« erlebt, ist die Rede von einer ersten, apersonalen Offenbarungsstufe eine Abstraktion, die seine Erfahrung verzerrt. Welchem der beiden Deutungsmodelle man den Vorzug gibt, hängt nicht zuletzt von erkenntnistheoretischen und ontologischen Annahmen ab. Albrecht selber ist diesen philosophischen Implikationen seiner Mystologie im letzten Teil von Das mystische Erkennen nachgegangen. Bevor ich die Spannung zwischen verschiedenen mystologischen Deutungsmodellen weiter diskutiere, werfe ich deshalb kurz einen Blick auf Albrechts Versuch, Heideggers Ontologie des Daseins für seine Theorie der Mystik fruchtbar zu machen. 8 Ein mystisches Existenzial? Albrechts Phänomenologie der Mystik mündet in die Frage nach der »Relevanz der mystischen Relation47 für eine Hermeneutik des Daseins«.48 Wie schon in der Psychologie des mystischen Bewußtseins nimmt Albrecht den Weg über das vormystische Versunkenheitsbewusstsein, das durch die »Grundbefindlichkeit« bzw. »Grundgestimmtheit« Ruhe gekennzeichnet ist. In der Versunkenheit überformt das »Dasein als Ruhe […] das Dasein als Sorge.«49 Die Ruhe ist jedoch nach Albrecht »im Gegensatz zur Angst kein Strukturmoment der Erschlossenheit des Daseins. […] Die Ruhe ist kein befindliches Verstehen. […] Angst ist ein Sich-befinden im Erschließen; Ruhe ist ein Sich-befinden im Offensein. […] Herausgestellt aus dem Horizont des innerweltlich Seienden ist das In-sich-Sein als Sein der Ruhe nicht Erschlossenheit des In-der-Welt-Seins und auch nicht Erschlossenheit des In-sich-Seins, sondern Offenheit schlechthin und zwar Offenheit als Möglichkeit der Empfängnis.«50 Als »Zeitlichkeit ohne ekstatische Zeitigung« bildet die von Ruhe geprägte Versunkenheit den Verstehenshorizont für »die ontischen Phänomene der ›stehenden Zeit‹ und auch das mystische Phänomen des ›ewigen Nun‹«.51 Doch betont Albrecht auch hier, dass die entscheidende Erlebnisqualität, die nicht schon mit der Versunkenheit und der Grundgestimmtheit Ruhe gegeben sei, im »Ankommen eines Umfassenden« bestehe: »Das mystische Ankommen hat einen Quellpunkt, der nicht nur als außerhalb der Selbstsphäre liegend, sondern auch als außerhalb des Horizontes aller überhaupt erkennbaren und vorstellbaren ›Quell‹-phänomene liegend gemeint ist. Das ankommende Umfassende hat die Erlebnisqualität, aus fremder Sphäre herzukommen und ein Ganz-Anderes, ein schlechthin ›Letztes‹ und Unerkennbares zu sein.«52 In diesem Zusammenhang spricht Albrecht vom »Offenstand« als einem »mystischen Existential«, das die Möglichkeitsbedingung für mystisches Betroffenwerden darstelle: »Offenstand ist nicht so etwas wie ein Tor, durch das man hinausgehen, oder so etwas wie eine Mauerlücke, durch die man hinaussehen könnte, sondern Offenstand ist die ontologischexistentiale Bedingung für die ontische Möglichkeit, daß der Mensch innerhalb der Welt mystisch betroffen wird.«53 Das Existenzial »Offenstand« ist vom ontischen Phänomen der »Offenheit« zu unterscheiden, dessen Möglichkeitsbedingung es darstellt. Das Versunkenheitsbewusstsein, das als ontisches Phänomen nicht mit dem mystischen Existential zu verwechseln ist, kann nach Albrecht eine Weise des »Sich-befinden(s) im Offensein«54 darstellen. In welchem Maße die Versunkenheit (oder eine andere Form der ecstasis) selber eine Bedingung für mystisches Erleben darstellt, bleibt in Albrechts Schriften jedoch un- 98 Simon Peng-Keller klar. Obwohl manche Zeugnisse, die Albrecht in seinem zweiten Buch anführt, gegen eine notwendige Verknüpfung von Versunkenheit und mystischer Präsenzerfahrung sprechen, hat Albrecht seine frühere Aussage nicht revidiert, dass mystisches Erleben als »das Ankommen eines Umfassenden im Versunkenheitsbewußtsein« oder als »ekstatisches Erleben eines Umfassenden« zu verstehen sei.55 9 Ergreifen des Glaubens in gläubiger Ergriffenheit In seinem Bemühen, einen »Denkraum zu finden, in dem trotz der tiefen Verflochtenheit jeder ›Lehre‹ über die Mystik mit Metaphysik, Theologie und Ethik die Reinheit beschreibender, ordnender und verstehender Psychologie gewahrt bleibt«,56 sucht Albrecht wie viele andere vor und nach ihm nach einer mystischen Kernerfahrung, die den Interpretationen des Glaubens noch vorausliegt. Er betont aber zugleich, dass diese methodische Unterscheidung, die das Phänomen auseinander reiße, nicht die »Fülle des Gesamtereignisses ›Mystik‹«57 verdunkeln dürfe. Christliche Mystik lasse sich nicht auf analytisch unterscheidbare Momente reduzieren, sondern bestehe in einer »Verschmelzung des mystischen Erfahrungswissens mit dem Glaubenswissen, das aus der Offenbarung stammt. […] Mystik ist also, von der Sicht einer Erfahrungsrelation aus gesehen, immer ein doppelter Vollzug: Zu einem kleineren Teile ihres Phänomenbestandes ist sie ein echter Erkenntnisakt, in dem das Umfassende als präsent begegnet. In ihrem größeren Teil aber ist sie ein ›Ergreifen im Glauben‹, also ein Geschehen, das aus dem Glaubensvollzug gespeist wird.«58 Wie schon bei seinem Modell von drei Offenbarungsstufen mag es befremden, dass Albrecht in einer eigentümlichen Mischung von empiristischem und platonischem Denken meint, mystische Erfahrung sei aufgebaut aus inneren Erlebnissen (»Präsenzgewahren«) bzw. intuitiven Erfassungsakten (»Präsenzschau«) einerseits und sekundären Interpretationen andererseits.59 55 PmB 254 (im Original kursiv). Man muss sich jedoch davor hüten, von Albrechts Mystologie vorschnell auf eine bestimmte Mystagogie zu schließen. Wenige Jahre vor seinem Tod schreibt er an Hans A. Fischer Barnicol, der ihn drängt, sich über seine Versenkungsmethode noch genauer zu äußern: »lassen Sie uns das Versunkenheitserleben bitte […] nicht überbewerten! Gewiß, der Hindu und der Buddhist sehen die Versunkenheit als den ›Königsweg‹ an, aber ich bestehe darauf, daß im Abendlande jeder Gottesbezug den gleichen Rang hat, das heißt: das gleiche Heil in sich birgt und damit auch die gleiche Heilung« (MW 228f, ohne Angabe eines Datums). 56 PmB 5. 57 ME 326. 58 ME 326 (Kursivierungen getilgt). 59 Hier wäre zu betonen, dass alles Erleben »ein gegliedertes Ganzes ist, das keine vorgängigen Teile kennt: ›Erleben -cum -Interpretationsspraxis‹.« Vgl. Matthias Jung, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch -pragmatischen Religionsphilosophie, Freiburg i.Br./München 1999, 392. 60 ME 303. 6 1 ME 306. 62 McGinn, Mystik (wie Anm. 2), 17. 63 Ruhs Formel lässt es offen, ob die ecstasis Folge oder Ursache der visio darstellt. Während bei Albrecht selber die ecstasis in Form der Versunkenheit dem mystischen Erleben in der Versunkenheit zeitlich vorausliegt, entsteht sie nach Bonaventura »gelegentlich aus einem Übermass von Andacht, andere Male aus einem übergrossen Staunen, wieder andere Male aus übermässiger Freude« (De perfectione vitae ad sorores 5,6, zit. in: Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit. Eine Theologische Ästhetik, Bd. II: Fächer der Stile, Teil 1: Klerikale Stile, Einsiedeln 31984, 275; Vgl. auch Bonaventura, De triplici via/Über den dreifachen Weg. Übers. v. M. Schlosser, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1993, 124f). 64 Vgl. auch die Deutung Karl Rahners im Vorwort zum posthum erschienenen letzten Buch von Carl Albrecht: MW Xf (wiederabgedruckt unter dem Titel Mystische Erfahrung und mystische Theologie in: Ders., Schriften zur Theologie, Bd. XII, Zürich /Einsiedeln/Köln 1975, 428 -438): »Wenn die mystische Erfahrung nicht aufgefasst werden darf als ein Geschehen, das die übernatürliche Geisterfahrung im Glauben grundsätzlich als ein Höheres überbietet und überholt, dann muß die ›spezifische Differenz‹ dieser Erfahrung im Unterschied zur ›normalen‹ Geisterfahrung des Christen im ›naturalen‹ Bereich des Menschen gegeben sein, also eine besondere Art einer in sich selbst natürlichen Transzendenzerfahrung und ›Rückkehr‹ zu sich selbst sein. […] Das psychologische Wesen mystischer Erfahrung unterscheidet sich vom ›normalen‹ Wesen alltäglicher Bewußtseinsvorgänge nur in der Dimension der ›Natur‹«. 65 ME 306 (Kursivierungen getilgt). Präsenzschau in Versunkenheit und Ekstase 99 Es fällt zwar auf, dass das größere Gewicht, das Albrecht dem »Ergreifen im Glauben« zubilligt, die Frage nach der Wahrheit dieses Erfassens und Begreifens offen hält. Doch ist nicht ersichtlich, wie Albrecht die Spannung auflöst zwischen der Aussage, der »Reihe einer zunehmenden Erfassung personaler Gehalte« entspreche eine »Reihe zunehmender Truggefährdung«,60 und der Formulierung, »die Reihe einer zunehmenden Komplexität des mystischen Erfahrungsgefüges« habe eine »Reihe zunehmender Trugfestigkeit« zur Entsprechung.61 Erhöht oder vermindert nun die »Zunahme« an gläubigem Ergreifen die Truggefährdung? Albrechts Unterscheidung zwischen gläubigem Ergreifen und einer diesem noch vorausliegenden mystischen Ergriffenheit, die er als trugfreie Erkenntnis der Präsenz eines Umfassenden bestimmt, führt uns zurück an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen, nämlich zu McGinns Unterscheidung zwischen »gewöhnlicher« Glaubenserfahrung, in der die Gegenwart Gottes indirekt und in vielfältiger Vermittlung wahrgenommen wird, und der mystischen Erfahrung der unmittelbaren Gegenwart Gottes. Aufgrund dieser Festlegung betrachtet McGinn »Visionen, herausgehobene Redeweisen, Verzückungen und dergleichen«62 als sekundäre Phänomene. Nach Kurt Ruh hingegen zeichnen sich mystische Erfahrungen gerade durch eine komplexe Vermittlungsform aus, die sich auf die Formel bringen lässt: In der ecstasis die visio, in der visio die revelatio. Was die mystische Glaubenserfahrung von anderen Glaubenserfahrungen unterscheidet, ist eine spezielle Form introvertierten Erlebens (visio), dessen Intensität bewirkt, dass einem Hören und Sehen vergeht (ecstasis).63 Im Hinblick auf solche Erlebnisse, die im Ganzen eines Glaubenslebens Ausnahmecharakter haben, mag man von Unmittelbarkeit reden, wenn man dabei nicht vergisst, dass das, was als unmittelbar erlebt wird, sich komplexen Vermittlungsvollzügen verdankt. Davon zu unterscheiden wäre dann die Gottunmittelbarkeit, die nach christlichem Verständnis dem Glaubensbewusstsein überhaupt eignet, und zwar nicht als unmittelbares Bewusstsein der Gegenwart Gottes, sondern als Bewusstsein der unmittelbaren, d. h. nur durch sich selbst vermittelten Gegenwart Gottes. Wenn Gottunmittelbarkeit als die sich selbst mitteilende Gegenwart Gottes verstanden wird, als Gottes Kopräsenz in allem weltlichen Geschehen, dann ist der basale Vollzug das geistgewirkte »Ergreifen im Glauben«. Die mystische Erfahrung ist als ein besonderer Intensitätsgrad dieses Ergreifens zu verstehen, als ein Ergreifen in gläubiger Ergriffenheit.64 Carl Albrechts besonderer Beitrag zu einem tieferen Verständnis solcher Ergriffenheit liegt darin, dass er ihre komplexe Struktur in nüchterner Sympathie und mit phänomenologischer Geduld psychologisch erhellt und auf diese Weise denjenigen, die in der mystischen Erfahrung nichts anderes als erhitzte und pathologieverdächtige Frömmigkeit sehen wollen, Widerstand bietet. Ihnen obliegt nach Albrecht »die Pflicht, nachzuweisen, wie denn ein so reich gegliedertes und so sinnvolles Ganzes in seiner restlosen Widerspruchsfreiheit und seiner wechselseitig sich tragenden Bezogenheit aus der Selbstsphäre des Erfahrenden entquollen sein könnte. Es besteht die Möglichkeit, diese Frage in die Richtung irrationaler Bereiche abzuschieben und etwa dem großen Unbekannten, dem ›Unbewußten‹, eine solche erstaunliche Schöpfung zuzuordnen. Wer unbefangen auf die Schönheit, auf die Klarheit und auch auf die existentielle Relevanz solcher ›von außen‹ einbrechenden mystischen Gebilde hinblickt, wird sich nur schwer entschließen können, im Unbewußten der Selbstsphäre die Quelle zu suchen.«65 Solche Argumente können allerdings diejenigen nicht überzeugen, für die religiöse Vollzüge a priori nichts anderes sein können als raffinierte und mindestens in einigen Fällen lebensdienliche Einbildungen. Mystiker sind in dieser Sicht Meister der religiösen Imagination, über deren Erlebnisse man ebenso staunen kann wie über die aszetischen Kunststücke, die sich in verschiedenen religiösen Traditionen finden lassen. Doch muss Imaginiertes 100 Simon Peng-Keller nicht in jedem Fall ein Trug sein, und wenn es wahr ist, was sich auf diese Weise offenbart, wird es nicht dadurch falsch, dass es sich imaginativ vermittelt und zu selbstvergessener Ergriffenheit führt. Wenn wahr ist, was das gläubige Ergreifen erahnt, dann ist die ecstasis eine angemessene Reaktion: »›Die göttliche Liebe bewirkt Verzückung‹, sofern sie nämlich das menschliche Strebevermögen zu den geliebten Dingen hinstreben lässt.«66 Zusammenfassung In Blick auf Carl Albrechts Phänomenologie der Mystik und die divergierenden Mystikbegriffe von Bernard McGinn und Kurt Ruh fragt der Artikel nach dem Spezifikum mystischer Erfahrung. Es wird vorgeschlagen, mystische Erfahrungen mit Albrecht und McGinn als Erfahrungen von Gottes Gegenwart zu charakterisieren. Die komplexe Struktur solcher Erfahrung kann mit K. Ruh auf die folgende Formel gebracht werden: in der ecstasis die visio, in der visio die revelatio. Albrechts Forschung leistet insbesondere eine Klärung der vielfältigen Formen der ecstasis und der visio. Summary In view of Carl Albrecht’s Phenomenology of Mysticism and the diverging concepts of mysticism found in Bernard McGinn and Kurt Ruh, the article inquires about the specific characteristic of mystical experience. Along with Albrecht and McGinn, it suggests that one should characterize mystical experiences as experiencing God’s presence. Following K. Ruh, the complex structure of such experience can be reduced to the following formula: in the ecstasis the visio, in the visio the revelatio. Albrecht’s research in particular achieves a clarification of the varied forms of the ecstasis and the visio. Sumario Partiendo de la fenomenología de la mística de Carl Albrecht y comparándola con los divergentes conceptos de Bernard McGinn y Kurt Ruh, el articulo se pregunta por lo específico de la experiencia mística. Con Albrecht y McGinn, el artículo propone caracterizar las experiencias místicas como experiencias de la presencia de Dios. La compleja estructura de tales experiencias puede formularse con K. Ruh como: en el ecstasis la visio, en la visio la revelatio. Las investigaciones hechas por Albrecht aclaran sobre todo las diferentes formas de ecstasis en la visio. 66 Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II -II 175,2 zu 1 (Übersetzung: Hans Urs von Balthasar, Thomas und die Charismatik. Kommentar zu Thomas von Aquin, Summa Theologica Quaestiones II II 171 -182. Besondere Gnadengaben und die zwei Wege menschlichen Lebens, Einsiedeln/Freiburg i. Br. 1996, 112).