Schlüsselwörter

1 Einleitung

„You never want a serious crisis to go to waste“ (Rahm Emanuel)

Das Zitat im Motto wird gemeinhin Rahm Emanuel zugeschrieben, der damit das Gestaltungspotenzial umrissen hat, das Krisen in sich tragen können: „The crisis provides the opportunity for us to do things that you could not do before“ (Emanuel zitiert in Wall Street Journal online 21.11.2008). Es waren die turbulenten Wochen nach dem Ausbruch der Finanzkrise infolge des Zusammenbruchs der Lehmann Brothers Bank; eine bis dahin wirtschaftsliberal agierende Bush-Administration hatte gerade eine Reihe von großen Investmentbanken zwangsverstaatlicht. Vor dem Hintergrund dieses eher ungewöhnlichen Vorgangs ist auch Emanuels Kriseninterpretation zu verstehen: Mit dem Ausnahmezustand eröffneten sich völlig neue politische Handlungsspielräume. Doch im Rückblick ist festzustellen, dass sich diese Einschätzung nicht als zutreffend erwiesen hat. Jedenfalls ließen sich keine fundamentalen Veränderungen in der Gesamtausrichtung der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik verzeichnen und selbst mit Blick auf den Finanzsektor, dessen Fehlentwicklungen als wichtiger Ausgangspunkt der Krise gelten, hielten sich die Reformen in überschaubaren Grenzen. Überwogen also nach der Zeit der akuten Krisenpolitik die wirtschaftspolitischen Kontinuitäten in den USA, so wirft das die zugrunde liegende Frage auf, welche wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Praktiken das US-amerikanische Wirtschaftsmodell prägen und inwiefern sich diese als neoliberal charakterisieren lassen.

In einem ersten Schritt werde ich daher die Ursprünge des neoliberalen Denkens um die Mitte des vorigen Jahrhunderts skizzieren und herausarbeiten, welche Ideen bzw. Denker aus diesem Entstehungszusammenhang für den US-amerikanischen Kontext besondere Bedeutung erlangten. Im zweiten Schritt werden die Neoliberalisierungsprozesse in den USA seit Beginn der 1980er-Jahre nachgezeichnet, um hier die Akteure und Dynamiken zu identifizieren, aber auch um die Inkongruenzen darzustellen, die trotz aller bestehender Übereinstimmungen das Verhältnis zwischen neoliberalem Denken und dem Neoliberalismus als realpolitischem Projekt kennzeichnen. Auf dieser Grundlage werden im dritten Abschnitt die Finanzkrise sowie ihre (ausgebliebenen) Auswirkungen analysiert, wobei auch die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Obama-Administration thematisiert wird. Im abschließenden Teil werden die wirtschaftspolitischen Maßnahmen und Reformen der Administrationen von Donald Trump und Joe Biden beleuchtet, um zu klären, ob hier eine Neuausrichtung des amerikanischen Wirtschaftsmodells zu verzeichnen ist und inwiefern es sich hierbei um eine Abkehr von den neoliberalen Grundparametern handelt.

2 Was ist Neoliberalismus?

Das neoliberale Denken entstand Mitte des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die Krise des ‚klassischen‘ Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts. Es gibt keinen ‚Ursprung‘ des Neoliberalismus, sondern diverse, zunächst weitgehend unverbundene Entstehungskontexte von Wien, über Freiburg und London bis nach Chicago, wobei die Chicago School mit ihren Repräsentanten Gary Becker, Milton Friedman und Eugene Fama im Folgenden im Mittelpunkt stehen wird.Footnote 1

Der Begriff des Neoliberalismus findet sich erstmals in den Protokollen des sogenannten Colloque Walter Lippmann, das anlässlich der Veröffentlichung von Lippmanns Buch The Good Society 1938 in Paris stattfand (Vgl. Audier und Reinhoudt 2019). Für die Teilnehmer, zu denen auch die Vertreter der österreichischen Schule F.A. Hayek und Ludwig von Mises sowie die deutschen Ordoliberalen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow gehörten, ist der Neoliberalismus ein Projekt, das auf die offenkundige Krise des Liberalismus im Zeichen von Weltwirtschaftskrise, aufkommendem Keynesianismus, Kommunismus und Faschismus mit einer Doppelbewegung zu reagieren versucht: Das Ziel ist die Revitalisierung liberaler Ideen gegen den illiberalen Zeitgeist. Doch dies setzt nach Meinung der Teilnehmer den vorbereitenden Schritt einer kritischen Revision der liberalen Agenda voraus: Will sich der (Neo-)liberalismus behaupten, so erfordere dies eine tatsächliche Erneuerung und nicht nur eine restaurative Rückkehr zu den Grundsätzen Adam Smiths – inklusive der Abkehr von schädlichen Vereinfachungen wie der Formel vom ‚Laissez-Faire‘ (vgl. Hayek 1992, S. 237–238). Doch die Kombination von Revitalisierung und Revision lieferte dem neoliberalen Denken nie eine eindeutige Doktrin, sondern allenfalls eine einheitliche Problematik, die sich auf die Bedingungen der Möglichkeit funktionierender Märkte bezieht (vgl. Biebricher 2019, S. 25–28). Die sich daraus ergebenden internen Heterogenitäten durchziehen bis heute den Diskurs des Neoliberalismus.

Für den vorliegenden Fragekontext ist allerdings weniger eine spezifische inhaltliche Strömung dieser heterogenen Variationen des Neoliberalismus relevant, als vielmehr der US-amerikanische Neoliberalismus-Diskurs insgesamt, der hier mit Verweis auf die vier wichtigsten Protagonisten skizziert werden soll, nämlich Milton Friedman, Gary Becker, Eugene Fama und James Buchanan.

Der gemeinsame Ausgangspunkt von Buchanan und Becker liegt in der Figur des Homo Oeconomicus, d. h. der Modellierung von Akteuren als rational und eigeninteressiert. Das Innovationspotenzial in Buchanans Ansatz liegt in der Übertragung dieses Modells von der Ökonomie auf die Politik. Demnach trifft auch auf Politiker und Verwaltungsbeamte die Annahme des rationalen Selbstinteresses zu, was für Public Choice Theoretiker zumeist als Präferenz für Machterhalt bzw. – zuwachs gedeutet wird und für Politiker unter demokratischen Bedingungen ein zentrales Interesse an der eigenen (Wieder)Wahl impliziert. Buchanan ist zudem der Meinung, dass sich nicht nur Akteure, sondern auch Prozesse in der Politik nach wirtschaftlichem Muster analysieren lassen, nämlich als Tauschprozesse, die in Form von Kompromissen strategische Allianzen zwischen Politikern ermöglichen. Dies geschieht allerdings zu Lasten der (steuerpflichtigen) Gesamtbevölkerung, da diese die Kosten tragen müsse. Daher fordert der Buchanansche Ansatz die Einführung juridischer Normen, um das politische Handeln dieser nutzenmaximierenden Akteure in effiziente und damit letztlich auch gemeinwohlfördernde Bahnen zu lenken (Buchanan 1984). Prominentestes Beispiel einer solchen Norm ist die Schuldenbremse oder ‚Balanced-Budget-Amendments‘, die verhindern sollen, dass die aktuellen Kosten, die möglicherweise auch bestimmten Wiederwahlinteressen förderlich sind, zukünftigen Generationen aufgebürdet werden (Buchanan und Wagner 1977).

In gewisser Weise radikalisiert Gary Becker in seinem Humankapital-Ansatz diese Annahmen der rationalen Nutzenmaximierung: nicht nur das Handeln in Wirtschaft oder Politik, sondern in allen gesellschaftlichen Sphären und Kontexten ist nach den Maßgaben des Homo Oeconomicus interpretierbar (Becker 1982). Folgt man dieser These, so ergeben sich daraus vielfältige Schlussfolgerungen, wie mit derart modellierten Akteuren von politischer Seite umzugehen ist. Wie bringt man Humankapitaleigner – also die arbeitsfähige Bevölkerung – dazu, durch Schul- und Hochschulbildung oder auch berufliche Weiterbildungsmaßnahmen optimal in ihre ‚Kapitalausstattung‘ an Wissen und Fertigkeiten zu investieren (Becker 1993)? Wie steuert man dem demografischen Wandel entgegen und erhöht die Geburtenquote? Und wie reduziert man Kriminalitätsraten in sozialen Brennpunkten? Folgt man Becker, so lautet die Antwort in all diesen und vielen anderen Fällen, die Akteure als rational nutzenmaximierend zu betrachten, d. h. sie sind im Prinzip durch ein geschickt kalibriertes Instrumentarium an Anreizen und Abschreckungen steuerbar. Beckers Ansatz legt zwei Schlussfolgerungen nahe. Erstens gibt es zumindest auf der Seite des Beobachters keinerlei Differenzierung zwischen ökonomischen und nicht-ökonomischen Kontexten, und in dem Maß, in dem Individuen auch in letzteren auf ihr ökonomisches Kalkül hin adressiert werden, verallgemeinern sich Markt, Ökonomie und Homo Oeconomicus zu Elementen eines allumfassenden Vergesellschaftungsmodus. Zweitens ist die Kehrseite des aus allen kollektiven Verantwortlichkeiten in die Freiheit entlassenen Homo Oeconomicus die uneingeschränkte individuelle Verantwortung, die sich auf die eigenen Leistungen aber ebenso auf das eigene Scheitern erstreckt.

Mit den Ideengebern Friedman und Fama lässt sich der intellektuelle Diskurs des Neoliberalismus nun zeithistorisch in die Entwicklung des real existierenden Neoliberalismus in den USA einbetten. Insbesondere das Denken Milton Friedmans ist untrennbar mit Beginn dieses realpolitischen Projekts verbunden. Friedman wurde bekannt durch seine Kritik am Keynesianismus und dessen Interpretation der Weltwirtschaftskrise. Keynes hatte die Krise als Nachfragekrise interpretiert und gefolgert, dass der Staat in bestimmten Situationen durch öffentliche Investitionen, Geld- und Fiskalpolitik die Konjunktur ankurbeln müsse, da ansonsten die Wirtschaft zu kontinuierlicher Stagnation tendiere. Friedman versuchte dagegen nachzuweisen, dass staatliche Nachfragepolitik allenfalls kurzfristig Beschäftigungseffekte zeitigt, mittel- und langfristig jedoch verpufft und darüber hinaus durch sogenannte Lohn-Preis-Spiralen zu Inflation führe. In der Folge baute Friedman diese Kritik zu einem umfassenden Gegenentwurf zum Keynesianismus aus, der zu einem zentralen Baustein neoliberaler Politik wurde, dem Monetarismus. Monetaristische Wirtschaftspolitik bedeutet in erster Linie, dass der Staat von konjunkturpolitischen Aktivitäten abzusehen hat und sich dadurch de facto aus weiten Teilen der Wirtschaftspolitik zurückziehen muss. Als policy-Instrument verbleibt allein die Geldpolitik, die selbst entpolitisiert ist, da die Kernforderung des Monetarismus darin besteht, die Geldmenge moderat und stetig wachsen zu lassen: Im Idealfall verbleibt so keinerlei diskretionärer Handlungsspielraum, weder für Politiker noch für Zentralbanker: „To paraphrase Clemenceau, money is much too serious a matter to be left to Central Bankers“ (Friedman 1962, S. 51).

Mit Famas Ansatz verbindet sich zuletzt die jüngste Entwicklungsphase des Neoliberalismus vor dem Ausbrechen der Krise. Famas Forschungen beziehen sich vor allem auf Kapitalmärkte und kreisen schon seit den frühen 1970er-Jahren um die sogenannte Efficient Market Hypothesis (EMH): „I take the market efficiency hypothesis to be the simple statement that security prices fully reflect all available information“ (Fama 1991, S. 1575). Zwar ist zwischen Fama und seinen Kritikern umstritten, ob es sich bei dieser Aussage um eine oder mehrere miteinander verknüpfte Thesen handelt, doch zumindest bis zum Ausbrechen der Finanzkrise wurde eine der Hauptimplikationen selten in Frage gestellt: Wenn Kapitalmärkte, d. h. Finanzmärkte derart leistungsfähige Informationsprozessoren sind, die jede verfügbare und relevante Information in den Preisverhältnissen abzubilden vermögen, dann sind sie eher als staatliche Behörden oder private Agenturen in der Lage, als Regulationsinstanz für alle anderen Märkte – und gewissermaßen auch für sich selbst zu fungieren. Und auch wenn diese Maximalvision deregulierter Märkte unter Aufsicht der Finanzmärkte oftmals mehr Ideologie als Realität geblieben sind – nicht zuletzt weil Deregulierung in vielen Fällen Formen der Reregulierung durch alternative Instrumente oder auf anderen Ebenen nach sich zieht – liefert Fama mit seiner These die normativ-funktionale Rechtfertigung für die zunehmende Dominanz der Finanzmärkte seit den 1990er-Jahren.

3 Politische Neoliberalisierungsprozesse von Reagan bis Bush II

Obwohl schon die Carter-Administration mit Austeritäts- und Deregulierungsmaßnahmen experimentiert hatte, begann der Versuch einer realpolitischen Umsetzung neoliberaler Ideen mit der Präsidentschaft Ronald Reagans. Im Rahmen seiner acht Amtsjahre zeigt sich sehr deutlich, wie selektiv auf das neoliberale Ideenrepertoire zurückgegriffen wurde, und welche Spannungen das Verhältnis zwischen neoliberaler Theorie und Praxis durchziehen. Die wichtigsten Maßnahmen fallen in die erste Amtszeit Reagans 1980–1984. Die USA litten zu jener Zeit unter dem Problem der Stagflation, also dem aus keynesianischer Perspektive nur schwer zu erklärenden Zusammentreffen von wirtschaftlicher Stagnation bei gleichzeitiger Inflation. Die Strategie der Regierung bei der Bekämpfung des Phänomens der Stagflation beinhaltete zunächst zwei weitreichende Maßnahmen, die mit einem Paukenschlag die ‚Reagan Revolution‘ ins Rollen brachten: massive Einsparungen im Staatshaushalt, vor allem im sozialstaatlichen Bereich wie etwa dem staatlichen Wohnungsbau oder Essensmarkenprogrammen für Bedürftige einerseits (Pierson 1994; Borchert 1995) und massive Steuersenkungen im Rahmen des Economic Recovery Tax Act (ERTA) andererseits, die der Stimulierung der Wirtschaft dienen sollten. Hier zeigt sich, wie eng der US-amerikanische Neoliberalismus verknüpft ist mit den sogenannten supply side economics, die in der Konjunkturpolitik vor allem auf Investitionsanreize setzen, welche von Steuererleichterungen und Deregulierungsmaßnahmen ausgehen. Berühmt-berüchtigt ist die sogenannte Laffer-Kurve, benannt nach dem Ökonomen Arthur Laffer, wonach sich Steuersenkungen durch die zusätzlichen wirtschaftlichen Aktivitäten letztendlich selbst finanzierten. Nun ist schon diese These äußerst umstritten – Reagans damaliger Vorwahl-Kontrahent und späterer Vize-Präsident Bush sprach von ‚Voodoo Economics‘. Von daher besteht zumindest eine gewisse Spannung zwischen einer konsequenten Angebotspolitik und dem neoliberalen Gebot der Haushaltsdisziplin wie es von Buchanan und vielen anderen vertreten wird, denn Steuersenkungen reißen durch Einnahmeausfälle zunächst einmal Löcher in das Budget. In massivem Widerspruch zu allen neoliberalen Geboten stand aber ohne Zweifel das dritte Kernelement der Reaganschen Wirtschaftspolitik: die beispiellose Ausweitung der Rüstungsausgaben, die amerikanischen Rüstungskonzernen gewaltige Profite bescherte und entgegen aller neoliberalen Prinzipien auch als steuerfinanzierte Subvention oder gar als Staatsnachfrage nach keynesianischem Vorbild verstanden werden konnte. Kommentatoren vermerkten entsprechend sarkastisch, dass der welfare Keynesianism früherer Jahre durch einen warfare Keynesianism ersetzt worden sei (Whiteley 1989, S. 62).

Flankiert wurden diese Maßnahmen von einer Geldpolitik der Federal Reserve Bank unter Paul Volcker, die zumindest bis 1982 die monetaristischen Ideen Friedmans beinahe buchstabengetreu umsetzte. Mit dem sogenannten ‚Volcker-Schock‘ wurde die Geldmenge rigoros verknappt. Über entsprechend hohe Zinsen wurde einerseits die Inflation erfolgreich gesenkt, andererseits zog die monetaristische Rosskur aber eine massive Rezession 1981/1982 nach sich, von der sich der Industriestandort USA (außerhalb des Rüstungssektors) nie wieder erholen sollte. Damit einher ging ein weiterer Bedeutungsverlust der ohnehin im internationalen Vergleich eher schwachen Gewerkschaften. Diese Reformen führten zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der allerdings zu einem hohen Preis erkauft wurde: der massiven Ausweitung sozialer und ökonomischer Ungleichheit sowie dramatisch steigenden Armutsraten bei gleichzeitiger massiver Erhöhung der Staatsschulden.

Die zweite Welle neoliberaler Reformen fällt in die Amtszeit Bill Clintons. Begünstigt vom Boom der Internetbranche aber auch getragen von einer konsequenten Sparpolitik gelang der Clinton-Administration der Abbau der Reaganschen Erblast an Staatsschulden um über 500 Milliarden US-Dollar (USD) innerhalb von nur fünf Jahren. Für 1998 konnte Clinton sogar einen ausgeglichenen Haushalt verkünden. Im Wahlkampf hatte er noch umfassende Investitionen in die Sozialsysteme und Infrastruktur in Aussicht gestellt, doch nach seiner Wahl verwiesen seine Wirtschaftsberater wie auch der damalige Notenbankchef Alan Greenspan nachdrücklich auf den schon Anfang der 1990er-Jahre beträchtlichen Einfluss der Finanzmärkte. Bei unveränderter Haushaltslage würden die Risikoaufschläge auf Staatsanleihen innerhalb kurzer Zeit rapide ansteigen, was auch negative Auswirkungen auf die Privatwirtschaft haben würde.Footnote 2 Der Sparkurs wurde also eingeschlagen, um die Finanzmärkte zu beruhigen – ein Zusammenhang, der aus der aktuellen europäischen Schuldenkrise nur zu vertraut ist.

Im Gegensatz zu dieser fiskalischen Konsolidierung, die sich innerhalb weniger Jahre unter Präsident George W. Bush in ein abermals dramatisches Defizit verwandeln sollte, hatten zwei andere neoliberale Reformpakete weitaus nachhaltigere Auswirkungen: Zunächst die Transformation des bundesstaatlichen Armenfürsorgeprogramms Aid for Families with Dependent Children (AFDC) in ein einzelstaatlich verwaltetes Programm. Der sogenannte Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act (PRWORA) diente in der Folge als Vorbild aller ‚Welfare to Work‘-Maßnahmen bis hin zu den deutschen Hartz-Gesetzen. Allerdings ist die Reform bis heute umstritten. Zwar reduzierte sich die Zahl von Sozialhilfeempfängern unter guten ökonomischen Bedingungen je nach Bundesstaat teils beträchtlich, doch bedeutete dies in vielen Fällen nur, dass Arbeitslose – darunter auch viele alleinerziehende Mütter – von staatlicher Seite in den beständig wachsenden Niedriglohnsektor des Arbeitsmarktes gedrängt wurden, in dem sie teilweise so wenig verdienten, dass sie letztendlich doch wieder staatliche Hilfe in Anspruch nehmen mussten (Biebricher 2018, S. 128–130).

Die zweite hier zu erwähnende Reforminitiative gilt retrospektiv sogar manchen neoliberalen Beobachtern als eine Ursache für die Finanzkrise von 2008 (z. B. Posner 2009, S. 243). Es handelt sich um den Financial Services Act von 1999 der – neben diversen weiteren Deregulierungsmaßnahmen im Finanzsektor – die Aufhebung des im Glass-Steagall Act von 1933 festgeschriebenen Trennbankensystems beinhaltete. Galt für die vom Börsencrash 1929 und der darauffolgenden Weltwirtschaftskrise geprägten Sponsoren des damaligen Gesetzes noch der Grundsatz „Banking should be boring“, so verkehrte sich diese Maxime in den USA spätestens mit der Reform von 1999 in ihr Gegenteil. Der damalige Berater Clintons und spätere Weltbankchef Joe Stiglitz beschreibt die Stimmung folgendermaßen: „Die Deregulierung im Telekommunikationssektor [Mitte der 1990er-Jahre, T.B.] entfesselte einen Goldrausch; und die Deregulierung im Bankenwesen sorgte dafür, dass der Goldrausch außer Kontrolle geriet“ (Stiglitz 2003, S. 115).

Die Präsidentschaft George W. Bushs war von Beginn an von Krisen geprägt. Schon seine Wahl zum Präsidenten selbst schwor eine wochenlange Verfassungskrise herauf, die letztlich zugunsten Bushs beendet wurde. Das Land kämpfte bereits bei seinem Amtsantritt mit einer wirtschaftlichen Rezession als Folge der geplatzten New Economy-Blase und wurde nur kurze Zeit später durch die Anschläge des 11. September 2001 in eine massive politische und ökonomische Krise gestürzt, die auch weitere Puzzlestücke zur Rekonstruktion der Ursachen der aktuellen Finanzkrise enthält. Denn eine entscheidende wirtschaftspolitische Reaktion bestand in einer konsequenten Notenbankenpolitik des billigen Geldes, die eine drohende Rezession verhindern sollte. Das von der Notenbank beinahe zinslos bereitgestellte Kapital floss jedoch zusehends auch in die riskanten Immobilien- und Wertpapiergeschäfte, die letztlich Jahre später die Finanzkrise auslösten.

Darüber hinaus reagierte die Bush-Regierung auf die Terrorakte bekanntlich zunächst mit einem Vergeltungsschlag gegen Afghanistan, auf den eine militärische Intervention folgte, deren Ende sich erst in allerjüngster Vergangenheit abzuzeichnen beginnt. 2003 wurde unter Vorspiegelung falscher Tatsachen gegenüber der internationalen Gemeinschaft und der US-amerikanischen Bevölkerung der Irak angegriffen und besetzt. Die auf mehrere Billionen US-Dollar geschätzten Kosten, die allein der Irak-Krieg verursachte (Stiglitz und Bilmes 2010), wurden nicht durch höhere Einnahmen finanziert. Ganz im Gegenteil: Um einer drohenden Rezession nach 9/11 entgegenzuwirken, verabschiedete die Regierung 2001 und 2003 umfassende Steuersenkungen und griff damit abermals zum Allheilmittel der Angebotspolitik, was wie schon unter der Reagan Administration zu explodierenden Haushaltsdefiziten führte. Ohne diesen über ein Jahrzehnt angehäuften Schuldensockel hätten selbst die direkten und indirekten Kosten der Krise seit 2008 wohl kaum zu einer Herabstufung der Kreditwürdigkeit der USA geführt, wie sie erstmals 2011 von einigen Ratingagenturen vorgenommen wurde. Auch Forderungen nach einer rigorosen Ausgabensenkung hätten leichter abgeschmettert werden können.

4 Finanzkrise und ‚Obamanomics‘

Wenn auch zu Beginn der Finanzkrise vor allem bei seinen Kritikern die Einschätzung überwog, dass mit den Banken auch der Neoliberalismus in eine Krise geraten sei, so muss man aus heutiger Sicht feststellen, dass dies eine vorschnelle Einschätzung war – zumindest scheint der Neoliberalismus die Krise weitgehend unbeschadet überstanden zu haben, obwohl durchaus manche seiner zentralen Elemente durch die Krise in Frage gestellt zu sein schienen. Dabei lassen sich drei miteinander verknüpfte Elemente hervorheben, von denen anzunehmen wäre, dass die Finanzkrise auch ihre Plausibilität in Frage stellen würde. Auf der theoretischen Ebene sind es die Ideen von Fama und Becker, deren Erklärungskraft zumindest zu Beginn der Krise massiv angezweifelt wurde. Wie oben skizziert, suggeriert Famas EMH zumindest, dass es so etwas wie ‚self-regulating markets‘ im Finanzsektor geben könne. Wie viele andere Elemente des zeitgenössischen neoliberalen Denkens beruht auch diese These auf den Annahmen der Rationalität von Akteuren und steht damit in einer internen Verbindung zu den Vorstellungen, die insbesondere von Gary Becker vertreten werden. Für viele Kommentatoren der ersten Stunde waren damit die intellektuell Hauptverantwortlichen für die Krise schnell identifiziert. Märkte waren entgegen der optimistischen Annahmen über ihre Selbstregulierung außer Kontrolle geraten, die drohende Krise hatte sich weder für Laien noch für die allermeisten Ökonomen an irgendwelchen Preissignalen dieser Märkte ablesen lassen und von rationalen Akteuren konnte im Rückblick keine Rede sein. Vielmehr dominierten Herdeninstinkte, die mit dem Modell des hochindividualisierten Homo Oeconomicus inkompatibel zu sein schienen. Mit dieser Desavouierung der scheinbar überlegenen Logik von Finanzmärkten und dem Nachweis der nur bedingten Rationalität ihrer Akteure musste aber eigentlich mit Blick auf die neoliberale Praxis auch das spätestens seit Anfang der 1990er-Jahre dominante Akkumulationsregime eines auf die Finanzmärkte ausgerichteten Kapitalismus auf den Prüfstand gestellt werden. Schließlich vollzog sich der Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus als Bestandteil eines zeitgenössischen Neoliberalismus nicht nur aufgrund bestimmter Interessenkonstellationen, sondern auch gestützt auf entsprechende Vorstellungen, die von Ökonomen wie Fama oder Becker im Brustton wissenschaftlich verbriefter Überzeugung vertreten wurden.

Doch im Hinblick auf Famas EMH muss festgestellt werden, dass ihr wissenschaftlicher Status von der Krise weitgehend unerschüttert blieb. Jedenfalls ist sie heute nicht umstrittener als sie es auch schon vorher unter Experten war (vgl. Mirowski 2013). Ein ernüchternder Befund, der durch die bemerkenswerte Entscheidung illustriert wurde, Eugene Fama 2013 den Nobel-Gedächtnispreis der Wirtschaftswissenschaften zu verleihen.

Zwar wurde hinsichtlich des Verhaltensmodells des Homo Oeconomicus eingeräumt, dass die damit verbundenen Rationalitätsannahmen überzogen waren und stattdessen stärker auf die Forschungen der Behavioral Economics verwiesen (vgl. Shiller und Akerlof 2010), doch wurde nicht in Frage gestellt, dass Individuen durch klug gesetzte Anreize effizient regiert werden können, worin die eigentliche Kernaussage von Beckers Forschung zum Homo Oeconomicus besteht. Es ging letztlich nur um eine Verfeinerung der Regierungstechnologien, um einen Begriff Michel Foucaults zu verwenden, die die systematischen Verhaltensirrationalitäten der Akteure mit einkalkulierten.

Es bleibt der Blick auf die Finanzmarktreformen in Reaktion auf die Krise. Zwar wurde 2010 nach langem Ringen der sogenannte Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act vom Kongress verabschiedet. Doch obwohl er einige ernstzunehmende Reregulierungsmaßnahmen wie etwa die sogenannte Volcker-Rule (Rückkehr zum Trennbankensytem) beinhaltet, wurde der Wirkungsgrad des Reformpaketes insgesamt von vielen Kommentatoren als eher niedrig veranschlagt (Skeel 2010), was an seinen moderaten Reformambitionen lag, aber auch der Unterfinanzierung vieler der im Gesetz erhaltenen Maßnahmen, für die ein republikanisch dominierter Kongress verantwortlich war.

Gab es abgesehen von der Politik des Krisenmanagements und den Finanzmarktreformen unter der Obama-Administration Anzeichen für eine grundsätzliche Kurskorrektur des amerikanischen Wachstumsmodells? Von einer solchen Neuorientierung konnte allenfalls sehr bedingt die Rede sein, denkt man etwa an den Fracking-Boom, der in den Obama-Jahren begann und durchaus als Beitrag zur Stärkung des Industriestandorts USA verstanden werden konnte. Doch ein wichtiger Teil der Obama-Koalition, die seine Wiederwahl 2012 ermöglichte, war nach wie vor die Wall-Street und Silicon-Valley Lobby. Vor diesem Hintergrund war nicht zu erwarten, dass es in der zweiten Amtszeit zum Versuch kommen würde, das Verhältnis von Industrie-, Finanz- und Digitalkapitalismus neu auszutarieren.

Diese war stattdessen geprägt von einer Kehrtwende gegenüber den Konjunkturprogrammen, die noch in der ersten Amtszeit in quasi-keynesianischer Art und Weise gegen die negativen Auswirkungen der ‚Großen Rezession‘ in Stellung gebracht worden waren. Auch unter dem Druck einer Republikanischen Partei, die 2010 die Mehrheit Repräsentantenhaus erobert hatte und, angetrieben vom Radikalismus der Tea Party, sich der Fundamentalopposition verschrieben hatte, schwenkte die Obama-Regierung auf einen Kurs der finanzpolitischen Austerität um – nachdem es 2013 zu einem Showdown über die Anhebung der Schuldenobergrenze gekommen war, der in einem kurzzeitigen Shutdown der Administration mündete. Das Resultat war eine Sparpolitik der öffentlichen Hand, die besonders die substaatlichen Regierungsstellen belastete (vgl. Peck 2013), die sich aber auch zur Freude der haushaltspolitischen Hardliner im Geiste eines James Buchanan an Defiziten ablesen ließ, die immerhin in den letzten beiden Jahren der Obama-Regierung nur noch bei vergleichsweise niedrigen 3 Prozent lagen.

Wie fällt also die abschließende Bilanz dessen aus, was in der Literatur bisweilen als ‚Obamanomics‘ bezeichnet wird? Zu Beginn seiner ersten Amtszeit wurde damit noch die Hoffnung auf eine kategoriale Abkehr von der (neo-)liberalen Vorstellung der ‚Trickle-Down-Economics‘ und einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik verstanden. Doch auch wenn die Obama-Regierung im Zuge des Krisenmanagement zu keynesianisch anmutenden Konjunkturspritzen griff und die daraus und der Krise selbst resultierenden Mehrausgaben und Mindereinnahmen von mancher Seite genutzt wurden, um die ‚Obamanomics‘ angesichts der weiter andauernden Wirtschaftsmisere für tot zu erklären, kann diese Kritik an einer vermeintlich zu freigiebigen Finanzpolitik nicht wirklich überzeugen, wie die Austeritätswende im Anschluss an die akute Krise belegt. Was sich abzeichnet, ist vielmehr eine Wirtschaftspolitik, die womöglich nicht zuletzt aufgrund von Krisen und republikanischer Fundamentalopposition zwar am Ende einige Erfolge wie etwa eine spektakuläre Halbierung der Arbeitslosenquote seit 2010 auf knapp 5 Prozent, aber keine sonderlich klare Handschrift aufwies. Jedenfalls vollzog sich hier keine quasi-sozialistische Abkehr von den bisherigen wirtschaftspolitischen Grundparametern, wie es die konservativen Kritiker bisweilen suggerierten; vielmehr überwogen insbesondere in der zweiten Amtszeit die Kontinuitäten eines neoliberal ausgerichteten Wirtschaftsmodells.

5 Trump, Biden und das vermeintliche Ende des Neoliberalismus

Als sich bewahrheitete, was nur wenige politische Beobachter erwartet hatten, und Donald Trump die Präsidentschaftswahlen 2016 für sich entschied, dauerte es nicht lange, bis Intellektuelle wie etwa Cornel West – ein weiteres Mal – das Ende des Neoliberalismus verkündeten. Doch an dessen Stelle würde kein wie auch immer geartetes sozialdemokratisches Projekt treten, sondern Nationalismus, Rassismus und eine Art Proto-Faschismus für die Trump und seine Wahlkampf-Losung ‚America First‘ ständen (West 2016). Die These einer hegemonialen Wachablösung des Neoliberalismus durch einen zumeist eher vage definierten ‚Rechtspopulismus‘ – in den USA und anderswo – hat in der Folge eine Vielzahl von Anhängern gefunden. Von daher ist in diesem letzten Abschnitt zunächst zu klären, inwieweit die ökonomische Politik der Trump-Administration diese Einschätzung tatsächlich gerechtfertigt erscheinen lässt.

Das Hauptargument der Befürworter einer solchen Sichtweise bezieht sich auf die vermeintliche Abkehr vom ökonomischen Multilateralismus und der Hinwendung zu einem entsprechenden Nationalismus der Trump-Regierung, der sich dementsprechend als Ausgangspunkt der Erörterung anbietet. Tatsächlich hatte sich Trump im Wahlkampf gegen die ‚unfairen Deals‘ ausgesprochen, auf die sich die USA im Rahmen der WTO insgesamt, aber auch speziellen Freihandelsabkommen wie insbesondere NAFTA eingelassen hätten: Handelspartner wie China mit seiner vermeintlich gezielt unterbewerteten Währung, aber auch etwa Deutschland mit seinen exorbitanten Handelsüberschüssen bereicherten sich gleichwie auf Kosten der USA, denen zudem auch noch Arbeitsplätze gerade im Bereich der industriellen Fertigung verloren gingen, die Trump mit einer Neuausrichtung der Handelspolitik zurückzuholen versprach.

Und tatsächlich stiegen die USA umgehend nach Trumps Amtsantritt aus dem pazifischen Freihandelsabkommen TPP aus und die Neuverhandlungen über das ohnehin klinisch tote TTIP wurden auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Auch das nordatlantische Freihandelsabkommen NAFTA wurde auf Druck der USA neu verhandelt und Druck wurde auch auf andere Handelspartner ausgeübt: Denn nicht nur Mexiko und Kanada wurden mit einem Strafzoll auf Stahl- und Aluminiumexporte in die USA belegt, diese wurden ebenfalls auf entsprechende Einfuhren aus der EU erhoben, und auch mit China begab sich die Trump-Regierung in eine Eskalationsspirale der gegenseitig erhobenen Strafzölle. In dieser Hinsicht lässt sich daher zumindest bedingt von einer Divergenz gegenüber der reinen Lehre des freien Welthandels sprechen, die zum festen Bestandteil weiter Teile des neoliberalen Denkens gehört. Andererseits darf hier die Differenz zum handelsfreundlichen Grundtenor des Neoliberalismus auch nicht überzeichnet werden, handelte es sich doch nicht etwa um ein Programm der ökonomischen Autarkie, sondern eher um eine Art Neo-Merkantilismus, in dem Handel tendenziell als Nullsummenspiel verstanden wird, dieser aber nicht im Sinne eines Isolationalismus per se abgelehnt wird. Schließlich war es nicht das Ziel der Administration, NAFTA ersatzlos aufzukündigen, sondern bessere Bedingungen für die USA im Nachfolgeabkommen United States-Mexico-Canada Agreement heraus zu verhandeln. Richtig ist aber, dass es eine klare Präferenz für handelspolitischen Bilateralismus gab, was aus einer machtpolitischen Perspektive der USA insofern rational erscheint, als sie zwar einerseits nach wie vor polit-ökonomisch in den meisten bilateralen Verhandlungen am längeren Hebel sitzen, andererseits aber nicht mehr die Ausnahmeposition als ökonomischer Hegemon innehaben, in dessen wohlverstandenen Eigeninteresse es läge, den freien Welthandel in Form eines institutionalisierten Multilateralismus zu befördern und zu garantieren. Doch am Ziel des ‚freien Handels‘ auf der Grundlage bilateraler Vereinbarungen ließ beispielsweise auch der Handelsbeauftragte der Trump-Regierung nie einen Zweifel: „The basic philosophy that we have is that we want free trade without barriers“, gab Robert Lighthizer in einer Anhörung vor dem Kongress im Juli 2018 zu Protokoll. Insgesamt ging es der Trump-Regierung also weniger um eine Abkehr von Globalisierung und Freihandel, sondern eher um verbesserte Handelsbedingungen für die USA (vgl. Slobodian 2018b). Dass diese Vorgehensweise nicht so unerhört und neu ist, zeigt der Vergleich mit der Handelspolitik der Reagan-Ära, die ja als Hochzeit des Neoliberalismus gilt, aber in der Handelspolitik eben auch von einem „aggressive unilateralism“ geprägt war (Bhawgati und Hugh 1991) – der sich seinerzeit eben nur nicht in erster Linie gegen China, sondern Japan richtete. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Trump-Lighthizer-Strategie trotz aller aufgebauten Drohkulissen und tatsächlichen Maßnahmen weitgehend erfolglos blieb: Das Handelsbilanzdefizit der USA stieg im letzten Jahr der Amtszeit Trumps auf den Rekordwert von beinahe einer Billion US Dollar.

Doch wenn auch die Handelspolitik die Einschätzung einer Abkehr von neoliberalen Vorstellungen in der Wirtschaftspolitik wenigstens in Teilen bestätigte, so liefern viele andere Bereiche der Wirtschaftspolitik recht eindeutige Belege für das Gegenteil: So verhängte Trump in der öffentlichen Bundesverwaltung sowohl formelle wie de facto Einstellungsstopps, was zumindest in der Tendenz der immer wieder mit dem Neoliberalismus assoziierten Forderung nach einem ‚schlanken Staat‘ entspricht – wenn die Staatsvorstellungen im neoliberalen Denken sich darin auch keineswegs erschöpfen (vgl. Biebricher 2016, 2019). Zudem belebte er die Deregulierungs-Maxime der Reagan-Regierungen wieder, der gemäß für jede neue bundesrechtliche Regulierung zwei andere gestrichen werden sollen. Von massiven Deregulierungsmaßnahmen verbunden mit einer gezielten Unterfinanzierung ist beispielsweise die Umweltbehörde EPA betroffen: Eine Vielzahl von Regulierungen zum Ziel des Umweltschutzes wurden nicht zuletzt auch durch den Ausstieg aus dem Pariser Klimaschutzabkommen abgeschafft, um so eine bestimmte Form der ‚Angebotspolitik‘ zu betreiben, indem Unternehmen weniger stark an bestimmte Auflagen gebunden sind. Zudem wurde das oben erläuterte Dodd-Frank-Gesetz ausgehöhlt, das in Reaktion auf die Finanzkrise verabschiedet worden war. Vor diesem Hintergrund von einer Abkehr von neoliberalen Politikrezepten zu sprechen, erscheint also eher fragwürdig.

Dies gilt a fortiori im Hinblick auf die wohl weitreichendste wirtschaftspolitische Reform der Trump-Regierung, die in diesem Bereich auch als ihr größter Erfolg galt: die 2018 vom Kongress beschlossene Steuerreform. An dieser Stelle ist nun noch einmal auf den schon mehrfach erwähnten Laffer zurückzukommen, der nämlich gemeinsam dem ebenfalls schon erwähnten Stephen Moore im Herbst 2018 eine Art Agenda für die Wirtschaftspolitik der Regierung Trump in Form eines Buches veröffentlichte, das den vielsagenden Titel ‚Trumponomics‘ trägt (Moore und Laffer 2018). Und tatsächlich lesen sich die Begründungen der Steuersenkungen von 2018, die vor allem Einkommens- und Körperschaftssteuer betrafen, bisweilen als stammten sie noch aus dem Jahr 1980, als Reagans oben erwähntes ERTA-Gesetz verabschiedet wurde, das den Geist der Laffer-Kurve atmete: Durch Steuersenkungen würde die wirtschaftliche Aktivität von Unternehmen und Individuen angereizt, sodass sie sich letztlich selbst durch ein gesteigertes Wirtschaftswachstum finanzierten.

Die Parallelen mit der Angebotspolitik der Reaganomics enden hier nicht, sondern erstrecken sich auch auf die keineswegs neoliberal gedeckten Auswirkungen. Wie erwähnt, führte Reagans Haushaltspolitik in Verbindung mit den Rüstungsausgaben zu einer Explosion von Defiziten und Staatsschulden, die schon einst Buchanan harsch kritisiert hatte. Das überparteiliche Congressional Budget Office prognostizierte bereits vor ihrer Verabschiedung, dass die Steuerreform von 2018 aufgrund von Mindereinnahmen ein gigantisches Loch in den staatlichen Haushalt reißen werde. In der Tat war die Staatsverschuldung am Ende von Trumps Amtszeit auf rund 28 Billionen Dollar angewachsen und soll laut offizieller Prognosen über die nächsten Jahre weiter rasant ansteigen.

Wie dieser kursorische Überblick über die wirtschaftspolitische Bilanz der Trump-Administration zeigt, gibt es keine konklusive Evidenz – weder für noch gegen die These einer Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell der USA. Wenn überhaupt, dann gibt es eine Tendenz in Richtung neoliberaler Kontinuitäten.

Noch ist es zu früh, für eine fundierte Einschätzung der wirtschaftspolitischen Bilanz der (ersten) Amtszeit von Joe Biden. Festhalten lässt sich aber sicherlich, dass seine Administration erheblich weitreichendere Akzentverschiebungen im Bereich der Wirtschaftspolitik im weitesten Sinn unternommen hat als dies unter seinem Vorgänger – aber auch seinem Vor-Vorgänger der Fall war. Insbesondere ist hier auf die beiden wichtigsten Gesetzpakete der Administration zu verweisen. Da ist zunächst das Infrastruktur-Gesetz, das nach zähen Verhandlungen auch mit Stimmen der Republikaner im Kongress verabschiedet wurde. Ursprünglich gehörten zu Bidens ‚Build Back Better‘-Agenda auch ambitionierte Pläne zu einem Ausbau sozialstaatlicher Strukturen, was die weitreichendste Sozialreform seit den Clinton-Reformen Mitte der 90er-Jahre bezeichnet hätte – allerdings unter entgegengesetzten Vorzeichen. Doch dieser Teil der Initiative scheiterte an einer kleinen Gruppe zentristischer Demokraten, die de facto über eine Sperrminorität im Senat verfügten. Nichtsdestotrotz stellten die immensen staatlichen Investitionen in Straßen, Brücken und Schienen bis hin zur Internetversorgung mit dem Ziel einer ökologisch-digitalen Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur eine klare Trendwende dar. Jahre und Jahrzehnte lang hatte sich der Staat im Geiste neoliberaler Vorstellungen kontinuierlich aus diesen Aufgabengebieten zurückgezogen und stattdessen Privatisierungsstrategien oder doch zumindest Public-Private-Partnerships den Vorzug gegeben.

Auch das zweite Gesetzespaket, der Inflation Reduction Act aus dem Jahr 2022 setzt Akzente, die nicht unbedingt den vorherrschen Vorstellungen im neoliberalen Denken entsprechen. Abgesehen von Unterstützungsleistungen, um die Effekte der hohen Inflation abzumildern, enthält das Gesetz vor allem eine Reihe von gut finanzierten Förderinstrumenten für grüne Technologien und Energieträger. Damit sind starke Anreize für Unternehmen in den entsprechenden Sektoren, sich in den USA anzusiedeln, beziehungsweise die Produktion dorthin zu verlagern. Kritiker werfen der Administration vor, damit einen Konfrontationskurs nicht nur gegenüber China, sondern auch der Europäischen Union zu verfolgen und warnen vor einem Subventionswettlauf. Zu dieser Renationalisierung der Wirtschaftspolitik, die sich auf die vermeintlich überholten Vorstellungen einer Industriepolitik zurückbesinnt, passt im Übrigen auch der 2022 verabschiedete CHIPS-Act, mit dem die Halbleiterproduktion in den USA massiv ausgeweitet werden soll, um strategische Abhängigkeiten – in diesem Fall von Taiwan – zu reduzieren. Dass diese Gesetze und Reformen Teil einer umfassenderen Agenda sind, legte zumindest der nationale Sicherheitsberater der Administration Jake Sullivan kürzlich nahe, als er das Bild eines global gewendeten Bidenism entwarf und im Hinblick auf die globalen ökonomischen Governance-Strukturen sogar, wenn auch nur indirekt, von einem „neuen Washington Consensus“ sprach (Sullivan 2023): eine aktivere Rolle des Staates bei der Innovationsförderung, Stärkung von Arbeitnehmerrechten, Klimaneutralität als übergeordnetes Ziel und die selektive Renationalisierung bestimmter Produktionsketten vor dem Hintergrund strategischer Rivalitäten. Ob diese etwas vollmundige Rahmung tatsächlich auch der Realität gerecht wird, wird sich noch erweisen müssen – und auch, ob derartige Umorientierungen gegebenenfalls auch noch unter einem möglichen Nachfolger Bidens nach den nächsten Wahlen Bestand haben. Sollte allerdings beides der Fall sein, dann wäre es angebracht, ernsthaft darüber zu diskutieren, ob wir womöglich tatsächlich den Anbruch einer Phase des Post-Neoliberalismus in den USA erleben.

6 Fazit

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Vorigen ableiten gerade auch im Hinblick auf die gegenwärtige wirtschaftspolitische Lage ableiten?

Vor allem stechen hier die Kontinuitäten des neoliberalen Wirtschaftsmodells von Reagan bis Trump ins Auge. Zwar geriet dieses Modell im Gefolge der Finanzkrise zumindest kurzfristig in eine Rechtfertigungskrise, doch der kurzen Episode außergewöhnlicher Bankenrettungs- und Konjunkturmaßnahmen, die unter George W. Bush begannen und vor allem die erste Amtszeit Obamas prägten, folgte keine nachhaltige Neuausrichtung des Akkumulationsmodells. Vielmehr kehrte die Wirtschaftspolitik abgesehen von wichtigen Ausnahmen wie der Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung unter Obama zurück auf den Pfad des Neoliberalismus, wie er seit der Amtszeit Reagans in unterschiedlichen Varianten und Schwerpunkten verfolgt wird. Wer aber daraus die uneingeschränkte Hegemonie jenes Pfades ableiten wollte, der sieht sich seit dem Amtsantritt Joe Bidens eines Besseren belehrt. Eine abschließende Bewertung der Auswirkungen von Bidens ökologischer Modernisierung und der entsprechenden Industriepolitik kann hier natürlich noch nicht vorgenommen werden, aber der Bidenism bezeichnet zumindest bis dato die weitreichendste Abkehr von neoliberalen Rezepten, die im ökonomisch-politischen Feld in den USA über die letzten vierzig Jahre zirkulierten und dieses auch tendenziell dominierten. Ob hier allerdings tatsächlich ein neuer Washington Consensus im Entstehen ist, wie es aus den Reihen der Administration gelegentlich zu hören ist, wird sich zeigen müssen, und eine grundsätzliche Skepsis ist hier sicherlich angezeigt. Andererseits wäre es aber auch politisch geradezu fatal, alle Ansätze einer Politik, die über den Neoliberalismus hinausweist, als nur eine weitere Volte in dessen ewigem Mutationsprozess zu interpretieren. Soll eine Überwindung des Neoliberalismus möglich werden, dann muss auch sein Ende zumindest denkbar sein.