Berlinale-Star Emily Atef: „Es gibt so viele verschiedene Arten von Begehren!“

Berlinale-Star Emily Atef: „Es gibt so viele verschiedene Arten von Begehren!“

Emily Atef hat Daniela Kriens Roman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ verfilmt. Die Freundinnen im Gespräch über Liebe, Herkunft und Literatur.

Daniela Krien und Emily Atef, die Bestsellerautorin und die mehrfach prämierte Regisseurin
Daniela Krien und Emily Atef, die Bestsellerautorin und die mehrfach prämierte RegisseurinTheresa Lou

Beide haben schon andere Termine auf der Berlinale hinter sich, als sie sich in einem Hotel am Anhalter Bahnhof für unser Interview treffen. Daniela Krien geht aus der Tür eines Konferenzraums, Emily Atef kommt eine Treppe herunter, sie laufen sich freudig entgegen. Das Gespräch wird sich um ihre erste gemeinsame Arbeit drehen, um das Drehbuch zu „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ nach Daniela Kriens gleichnamigen Roman im Wettbewerb der Berlinale. Atef, die auch Regie geführt hat, gehört zu den erfolgreichsten Filmemacherinnen Deutschlands, Krien ist eine von der Kritik gelobte Bestsellerautorin, doch ihre Biografien unterscheiden sich sehr.

Frau Atef, Frau Krien, Sie wirken so vertraut miteinander, wie enge Freundinnen. Was ist das für eine Arbeitsbeziehung?

Daniela Krien: Wir sind Freundinnen geworden, bevor wir überhaupt zusammen gearbeitet haben. Obwohl die Arbeit der Auslöser war. Emily hat mich 2014 kontaktiert, dann haben wir uns getroffen – und für mich war diese erste Begegnung ein bisschen so, wie sich zu verlieben.

Emily Atef: Es war dieser Moment, ja. Und das Wort, das du eben gesagt hast, stimmt auch: kontaktiert. Ich hatte den Roman 2012 gelesen und wusste, die Filmrechte waren schon an jemand anderen vergeben. Aber da passierte nichts. Und dann habe ich ihre E-Mail-Adresse herausgefunden und ganz höflich gefragt: „Sehr geehrte Frau Krien...“ So schreibe ich sonst nie.

Warum?

Atef: Mir hatte es diese Welt des Romans so angetan, ich war so berührt davon, dass ich diese Schichten selbst erkunden wollte. Ich habe ihr meine Filme geschickt und Daniela hat nach einer Dreiviertelstunde schon geantwortet. Wir haben uns ziemlich bald getroffen und uns auf Anhieb verstanden – obwohl wir von so verschiedenen Orten kommen. Ich glaube, wir teilen das gleiche Interesse an Menschen und die Sensibilität.

Krien: Das ist es, diese Sensibilität im künstlerischen Schaffensprozess. Auch wenn sie Filme macht und ich Bücher schreibe, ähnelt sich unsere Herangehensweise an Kunst, unsere Wahrnehmung.

Die Wahrnehmung der Welt durch Kunst zeigt sich in dem Film selbst auch, zum Beispiel durch die Begeisterung von Johannes fürs Fotografieren. Und man erlebt es anders als beim Lesen des Buches, weil man nun auch sehen kann, was Johannes sieht. Ist das für Sie wie eine Antwort auf den Roman?

Krien: Eine Antwort nicht. Es ist Prosa übersetzt in ein anderes Medium. Es ist etwas völlig Neues entstanden und trotzdem etwas Gleiches. Fast alles, was ich gewollt habe mit dem Buch, finde ich jetzt im Film wieder. Nicht jedes Thema, wir mussten ja reduzieren, aber die wirklich wichtigen Dinge sind übersetzt worden.

Im Zentrum des Buches steht die Beziehung zwischen der Abiturientin Maria und dem doppelt so alten Bauern Henner. Wenn ich mir vorstelle, das wäre meine Tochter ...

Atef: Dann würde es trotzdem passieren. Das ist die Liebe!

Wie geht es Ihnen als erwachsenen Frauen damit, wie diese ganz Junge sich an einen alten Typen wegwirft?

Krien: Sie wirft sich doch nicht weg, um Gottes willen! Ich habe eine Figur geschrieben, die sich extrem emanzipiert von Vorstellungen, was man als Mädchen oder als Frau wollen und sein soll. Maria hat den gleichaltrigen Freund Johannes, mit dem sie auch Sexualität erlebt, aber sie merkt, dass sich da irgendetwas nicht erfüllt. Als sie Henner trifft, weiß sie vom ersten Augenblick der Begegnung an, dass sie sich mit ihm etwas erfüllen kann, das mit ihrem Freund nicht möglich wäre. Mit diesem Mann kann sie an Grenzen gehen, das spürt sie. Sie erfüllt sich ihre Wünsche, nicht seine.

Atef: Und wir wissen doch auch, dass die überkommenen Vorstellungen davon, wen und wann Mädchen oder Frauen begehren sollen, falsch sind. Es gibt so viele verschiedene Arten von Begehren! Henner ist ein Mann, mit dem sich etwas Dunkles verbindet, etwas Aggressives, aber er hat auch etwas hoch Sensibles und Zartes. Wir suchen nicht immer nur das Einfache, was uns nicht wehtun wird. Maria spürt, sie muss dahin.

Krien: Der Satz, der von Leserinnen nach den vielen Lesungen, die ich mit diesem Roman hatte, am häufigsten fiel, war: So einen Henner wünsche ich mir auch.

Atef: Und das dürfen sie. Die Vorstellung, dass meine jetzt zwölfjährige Tochter in ein paar Jahren einen doppelt so alten Mann lieben würde, gefällt mir auch nicht – aber wenn es so wäre, hätte ich kein Recht, das zu verurteilen. Wenn Sie mit der Frage uns als Feministinnen herausfordern wollten, kann ich Ihnen sagen: Der Fortschritt ist, dass wir heute als Frauen solche Geschichten erzählen, ihre Perspektive einnehmen können.

Infobox image
Theresa Lou
Zu den Personen
Daniela Krien wuchs in Thüringen auf, studierte in Leipzig, wo sie heute noch lebt. Seit 2010 ist sie freie Autorin. Ihre bei Diogenes erschienenen Romane „Die Liebe im Ernstfall“ und „Der Brand“ standen monatelang auf der Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Emily Atef, geboren in West-Berlin, wuchs in den USA und Frankreich auf, arbeitet als Regisseurin und Drehbuchautorin. Sei ihrem Film „Das Fremde in mir“ (2008) wurden ihre Arbeiten vielfach ausgezeichnet; ihr größter Triumph war „3 Tage in Quiberon“.

Ist das ein Punkt, über den Sie viel gesprochen haben bei der Entwicklung des Drehbuchs?

Atef: Da waren wir uns vollkommen einig. Ich war fasziniert davon, weil dieses Mädchen solch eine physische Lust spürt. Es kann sein, dass sie sich verrennt. Aber sie will es wagen. Wir haben über andere Dinge gesprochen, zum Beispiel über die politische Situation damals.

Krien: Ja, das war das häufigste Thema: der gesellschaftliche Hintergrund. Auch wenn das im Film nicht so dominant ist, musste ja stimmen, was im Hintergrund passiert, und da wir nicht ausführlich davon erzählen konnten, mussten wir sehr genau überlegen, wie wir mit kleinen Details einen gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch darstellen. Und dann ging es uns darum, wie wir die Figur der Maria im Verhältnis zum Roman noch stärken können.

Der Film erzählt die Situation im Sommer 1990 nebenbei mit wichtigen Details, etwa dass es auf einmal Kiwis zu kaufen gibt, dass der in den Westen ausgereiste Bruder zu Besuch kommen kann. Das finde ich sehr überzeugend. Vor allem hat mich für den Film eingenommen, dass die Personen ein bisschen Dialekt sprechen. Ich als Berlinerin höre es nicht richtig: Ist das Sächsisch oder Thüringisch?

Krien: Es ist so eine Mischung aus beidem.

Wie kamen Sie dazu? Sonst wird doch immer hochdeutsch gesprochen oder berlinert.

Atef: Das war meine Entscheidung. Ich habe meine Jugend in einer Kleinstadt im Jura in Ostfrankreich verbracht. Niemals würde ich dort einen Film platzieren und die Leute ein perfektes Französisch sprechen lassen. Dort redet man Dialekt! Oder schauen Sie sich etwas an, das in Newcastle in Nordengland produziert wird. Da käme niemand auf die Idee, das in The Queens’s English zu drehen. Und hier, bei diesem Film, hätte es überhaupt keinen Sinn, die Leute Hochdeutsch sprechen zu lassen. Die leben da schon ewig. Vielleicht wollen sich die Jungen Maria und Johannes ein bisschen abgrenzen von der Sprache der Erwachsenen, aber auch sie haben den Klang der Gegend.

Und wie haben Sie das den Schauspielern beigebracht?

Atef: Es war nicht so einfach. Ein paar haben sich gesträubt, weil sie fanden, es werde Klamauk, Provinztheater.

Krien: Die meisten entstammen ja nicht der Gegend und mussten den Dialekt lernen.

Atef: Das gehört eben auch zur Arbeit von Schauspielern. Wir hatten einen Coach bei den Dreharbeiten, und bei der Postproduktion war eine tolle Dokumentarfilmerin dabei, die aufgepasst hat, dass wir die Stimmfarbe treffen.

Emily Atef und Daniela Krien im Gespräch.
Emily Atef und Daniela Krien im Gespräch.Theresa Lou

Gerade Sachsen wird ja öffentlich oft so abgetan, als wäre das ein anderer Planet. Da leben die AfD-Wähler, die so komisch sprechen. Ich glaube, dass der Film wegen seiner Genauigkeit in diesen Dingen helfen könnte, sich aufmerksamer mit dem Osten zu beschäftigen.

Atef: Ich fand im Roman auch diese Familie so fantastisch, so lebendig. Was soll immer dieses Graue, Traurige, was wir sonst zu sehen bekommen? Diese Bilder stimmen nicht.

Krien: Ich komme ja daher. Mich ärgert diese Arroganz gegenüber Mitteldeutschland und seinen Dialekten. Das ist eine Kulturregion, viele der deutschen Geistesgrößen kamen von dort oder lebten dort, die haben auch Sächsisch oder Thüringisch gesprochen.

Waren Sie eigentlich mit dem Drehort zufrieden?

Krien: Ich war frappiert geradezu. Emilys Team hat ganz in der Nähe von dem Ort gedreht, an den ich beim Schreiben dachte. Sie haben den Platz gefunden, ohne dass ich es gesagt hätte. Es ist sogar der Fluss, den ich meinte, den ich aber nicht benannt habe, die Weiße Elster.

Wenn ich an den Film denke, fällt mir zuerst das wechselnde Licht ein. Das ist wie ein erzählerisches Element.

Atef: Das wird meinen Kameramann Armin Dierolf freuen. Wir haben uns intensiv damit auseinandergesetzt. Der Roman ist sehr sinnlich. Die Natur wird sinnlich beschrieben, es ist ein heißer Sommer, man spürt den Schweiß der Figuren. Das war natürlich eine tolle Vorlage. Und dann habe ich mit dem Kontrast von Licht und Dunkel gearbeitet. Es gibt diese dunklen Orte bei Henner, wo die Sonnenstrahlen sich ihren Weg suchen auf die Wand, auf die Haut. Bei den Brendels dagegen ist es viel offener, heller, wärmer.

Wir sprachen darüber, dass Maria ihre eigenen Entscheidungen trifft. Der Roman- und Filmtitel „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ bezieht sich auf das Buch, in dem Maria liest, man sieht sie kaum einmal ohne „Die Brüder Karamasow“. Ist das Lesen ein Symbol für ihre Freiheit, für ihren eigenen Raum?

Krien: Auch. Es zeigt zugleich ihren Anspruch an sich selbst, sie liest nicht irgendetwas, sie liest Dostojewski. Wir sehen also eine junge Frau, die versucht, dieses komplexe Werk zu verstehen, und wir wissen dadurch schon: Die wird sich entwickeln. Sie bleibt nicht hängen in dem Ort. Und das Lesen verbindet sie mit Henner. Sie lesen sich sogar gegenseitig vor. Sie begegnen sich also nicht nur auf sexueller Ebene, sondern auch auf intellektueller.

Atef: Das ist so ein stilles, natürliches Zusammen-Lesen, -Denken, eine tiefe Gemeinsamkeit. Dagegen steht eigentlich Henners Vergangenheit mit dem Hof, von der man nicht viel erfährt. Es ist klar, dass er nicht gut in die alten Verhältnisse passte, aber auch nicht in die neue Zeit. Das spürt Maria. Sie erlebt Henner wie eine Figur aus den großen russischen Romanen.

Es ist ein Aufbruch in mehrfacher Hinsicht: Maria erkennt, was sie will, aber auch die Gesellschaft beginnt neu, der Hof wird sich verändern. Wollten Sie damit Verständnis für diese Entwicklung wecken?

Krien: Das war nicht unser vordergründiges Ziel, aber sollte der Film dazu beitragen: umso besser. Der gesellschaftliche und politische Umbruch gibt Maria die Möglichkeit, derart frei zu agieren. Die Menschen um sie herum sind alle beschäftigt. Deren Leben wird umgekrempelt, die haben nicht die Zeit, um zu schauen, wo sie hingeht und was sie macht.

Atef: Auf jeden Fall ist es nicht schwarz-weiß. So oft werden die Menschen im Osten nur als Verlierer gezeigt. Und ja, Marias Mutter hat auf einen Schlag ihre Arbeit verloren, das greift ihre Würde an. Es sind viele Menschen auf der Strecke geblieben. Es ging zu schnell. Auf dem Hof sehen wir andere Veränderungen: Die Leute bekommen Land zurück, sie können etwas Neues anfangen, sie können reisen.

Haben Sie, Daniela Krien, sich am Anfang mal gefragt, ob die in West-Berlin geborene und in Frankreich aufgewachsene Emily Atef, eine Westlerin durch und durch, diese Geschichte überhaupt erzählen kann?

Krien: Daran habe ich nicht gezweifelt.

Atef: Weil sie meine Filme gesehen hat.

Krien: Ja, weil sie diese extreme Sensibilität für Menschen, für Schicksale hat. Um das mangelnde Ostwissen auszugleichen, war ich ja da, als Co-Drehbuchautorin.

Daniela Krien sagt im Vorwort zur Neuausgabe des Buches, dass sie am Anfang einen Satz hatte und sich dann der Film in ihrem Kopf entwickelte, dem sie nur folgen musste beim Schreiben. Wie ist es, als Regisseurin mit einer Autorin zusammenzuarbeiten, die selbst einen Film im Kopf hat?

Atef: Oh, sehr gut. Sie wusste gar nicht von ihrem Talent als Drehbuchautorin, aber sie schreibt tatsächlich filmisch. Aus ihren Beschreibungen und der Kargheit der Dialoge habe ich im Roman schon den Film gesehen. Und obwohl es ihr Werk ist, hatte sie ein großes Vertrauen in meine Arbeit.

Krien: Es hat großen Spaß gemacht. Aber alleine würde ich wahrscheinlich kein Drehbuch schreiben.

Atef: Das wollen wir mal sehen.


Irgendwann werden wir uns alles erzählen. Wettbewerb, Deutschland 2023. Regie: Emily Atef, Drehbuch: Emily Atef und Daniela Krien. 18.2. 10 Uhr Verti Music Hall, 15 Uhr Haus der Berliner Festspiele, 19.2., 21.30 Uhr Cubix, 26.2., 16 Uhr Verti Music Hall.