Popper – eine sehr bescheidene Philosophie
Rote Fahne 19/2019

Rote Fahne 19/2019

Popper – eine sehr bescheidene Philosophie

Ein Gastbeitrag von Professor Josef Lutz, Technische Universität Chemnitz. Josef Lutz ist einer der Sprecher der Offenen Akademie – ein Forum für fortschrittliche und kritische Wissenschaft und Kultur

Von Josef Lutz
Popper – eine sehr bescheidene Philosophie
Das Handesblatt, die Zeitung für die Wirtschaft, widmete Karl Popper im November 2014 eine ganze Wochenendbeilage, Faksimile: RF

Das Hauptwerk von Karl Popper ist „Das Elend des Historizismus“. Historizismus ist nach Popper die „Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit“. Popper bezieht sich dabei auf das Werk von Karl Marx „Das Elend der Philosophie“. Er erklärt: „Mit diesem Titel versuchte ich anzudeuten, dass es sich hier um eine philosophisch-methodologische Kritik der marxistischen Geschichtsphilosophie handelt.“1

 

Zentraler Feind seiner Arbeit: „Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln – eine Hölle, wie sie nur Menschen für ihre Mitmenschen verwirklichen können. Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen wollen, müssen wir unsere Träume der Weltbeglückung aufgeben“.2

 

Hybris bedeutet: extreme Selbstüberschätzung, Hochmut, Realitätsverlust. Jegliche grundsätzliche Kritik und Änderungsabsicht wird mit diesem Titel belegt. Grundsätzliche Kritik an der bestehenden Weltordnung wird als Weg zur Hölle diffamiert. Es verbleibt, nach Popper, die Bescheidenheit. Doch die Ergebnisse werden sehr bescheiden.

 

Als Alternative einfach wegschauen? Nein, das gäbe Konflikt mit der Hilfsbereitschaft der Mehrheit der Menschen, und außerdem Ärger mit der Caritas. Natürlich hat Popper Moral. Es geht weiter: „Dennoch können und wollen wir Weltverbesserer werden – aber bescheidene Weltverbesserer.“3 Ja, es darf nicht viel getan werden.

 

„Der typische Stückwerk-Ingenieur wird folgendermaßen vorgehen. Er mag zwar einige Vorstellungen von der idealen Gesellschaft ‚als Ganzem‘ haben – sein Ideal wird vielleicht die allgemeine Wohlfahrt sein –, aber er ist nicht dafür, dass die Gesellschaft als Ganzes neu geplant wird. Was immer seine Ziele sein mögen, er sucht sie schrittweise durch kleine Eingriffe zu erreichen, die sich dauernd verbessern lassen.“ 4

 

Der „typische“ Ingenieur, den Popper hier als Beispiel nimmt, ist aber kein guter Ingenieur. Ein guter Ingenieur wird auch betrachten, ob die jeweilige technische Lösung überhaupt brauchbar ist. In einem Fall werden kleine, im andern aber auch tiefgreifende Änderungen erforderlich, und des öfteren ist eine grundsätzlich andere Lösung erforderlich. Doch hier sind wir beim Kern der Philosophie von Popper – der Politik der „kleinen Schritte“. Es wundert nicht, dass der ehemalige SPD-Bundeskanzler Schmidt sich immer wieder bemühte, Popper zu zitieren.

 

„… für das positive Glück anderer zu sorgen: Dieses Bestreben sollten wir auf den engsten Kreis unserer Familie und unserer Freunde beschränken“, so fasst Hans-Joachim Störig in der „Kleinen Weltgeschichte der Philosophie“ die Handlungsanweisungen der Philosophie Poppers zusammen.5 So wird also das philosophische Ideal des Bürgers, der den Mund hält und sich nur um seine Familie und seine Freunde kümmert. So sind wir bei einem zentralen Element angekommen, was die bürgerliche Ideologie dem dialektischen Materialismus entgegenzusetzen hat.

 

Hans-Joachim Störig kritisiert an dieser Stelle Popper und macht darauf aufmerksam, „ … daß in der heutigen Gesellschaft die engen Bande der Familie und der kleinen überschaubaren Gemeinschaften vielfach gelockert, gar zerstört sind.“

 

Tatsächlich befinden wir uns in einer tiefen Krise der bürgerlichen Familienordnung. Und die Empfehlung, sich auf die Familie zu konzentrieren, ist ein schlechter Ratschlag auch für den, der sich um die Zukunft der eigenen Familie und eigenen Kinder sorgt. Denn deren Zukunft ist angesichts der globalen Probleme der aufziehenden Umweltkatastrophe, der Kriegsgefahr nur durch grundsätzliche gesellschaftliche Revolution möglich.

 

Sichtlich enttäuscht kommt Störig nach Behandlung der verschiedenen philosophischen Strömungen im 20. Jahrhundert in seinem Schlusswort zum Ergebnis: „Ein Buch wie dieses wird jeder halbwegs kritische Leser mit einem Gefühl des Unbefriedigtseins aus der Hand legen.“ 6

 

Störig hat hier Recht. Es besteht eine schroffe Diskrepanz zwischen den Leistungen der antiken Philosophie, der klassischen deutschen Philosophie mit Kant, Hegel und schließlich Marx, und dem seichten, der herrschenden Klasse nach dem Mund redenden bescheidenden denkerischen Leistungen der bürgerlichen Philosophie.

 

Karl R. Popper

 

Kein anderer bürgerlicher Philosoph des 20. Jahrhunderts hat es zu solcher Anerkennung durch die herrschende Klasse gebracht wie der 1902 in Wien geborene Karl Raimund Popper. Weit verbreitet ist das Vorurteil, Popper habe erkenntnistheoretisch mit dem wissenschaftlichen Sozialismus abgerechnet. In der Wochenendbeilage des Handelsblatt vom 8./9. November 2014 erschien kurz nach dessen 20. Todestag eine neunseitige Laudatio, in der Popper als „der Prophet der Freiheit“ gefeiert wurde. Eine zentrale Behauptung des Popper’schen Neopositivismus ist, dass der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft keine Gesetzmäßigkeiten zu Grunde liegen würden, dass folglich keine wissenschaftlichen Prognosen über die künftige gesellschaftliche Entwicklung möglich seien. Führende Vertreter des Finanzkapitals bekannten bzw. bekennen sich zu Popper: der ehemalige Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen, der Altbundeskanzler Helmut Kohl, die Kanzlerin Angela Merkel nebst ihrem ehemaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble, Milliardär George Soros und nicht zuletzt „Queen“ Elizabeth II., die Popper den Adelstitel verlieh.