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"Lornas Schweigen" rührt uns alle sehr

Quelle: Piffl
Das Mitleid vor dem Mord: Eine junge Albanerin soll helfen, ihren jetzigen Mann zu beseitigen. Lorna will nämlich einen Russen heiraten. Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne aus Belgien inszenieren Menschen, die mit dem Mensch-sein ringen. Und immer treffen sie Herz und Verstand zugleich.

Das Brüderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne wurde in den vergangenen zehn Jahren mit Preisen für ihre Filme überhäuft. In Cannes gewannen sie Goldene Palmen für "Rosetta" (1999) und "L'enfant" (2005), zweimal wurden dort auch ihre Hauptdarsteller ausgezeichnet, dieses Jahr kam der Drehbuchpreis für "Le silence de Lorna - Lornas Schweigen" hinzu.

Ein in der Festivalgeschichte einmaliger Erfolgslauf, der sich bislang aber nicht an den Kinokassen wiederholen ließ. In Deutschland sind die Dramen der Belgier immer noch nur wenigen Cineasten bekannt. Ihr beharrlicher Blick auf die äußersten Ränder der Gesellschaft, ihr unbemäntelter Realismus, der dem Zuschauer selten ein Happy End gönnt, schreckt offenbar ab.

Scheinehe mit dem Junkie

Dabei sind die Filme der Dardennes alles andere als eintönig. In "Lornas Schweigen" zeigen sie erneut ihre Meisterschaft im Aufbau der Spannung - jenem nervenzerrüttenden Zustand, den Hitchcock zur Perfektion brachte. Wie bei den vergangenen beiden Werken der Belgier ließe sich die Geschichte ihres siebten Spielfilms mit wenigen Änderungen auch als Krimiroman erzählen - und wie bei einem Krimi dürfen leider wichtige Wendungen der Geschichte nicht verraten werden, um das Kinoerlebnis nicht zu schmälern.

Die Albanerin Lorna (Arta Dobroshi) versucht in Lüttich ein neues Leben aufzubauen. Um die belgische Staatsbürgerschaft zu erlangen, geht sie eine Scheinehe mit dem Junkie Claudy (Jérémie Renier) ein. Vermittelt hat die Verbindung der Mafiosi Fabio (Fabrizio Rongione), der aus Lornas neuem Pass Gewinn schlagen will. Nach Claudys geplantem Tod durch eine Überdosis soll die Neu-Belgierin einen reichen Russen heiraten, der für eine neue Staatsbürgerschaft viel Geld zahlen würde. Mit ihrem Anteil aus dem Geschäft könnte sich Lorna einen Traum erfüllen. Sie will mit ihrem Freund einen Imbiss eröffnen, die Räumlichkeiten haben die beiden schon ausgesucht.

Doch Claudy entscheidet sich unerwartet, der Droge abzuschwören, und klammert sich mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden an Lorna. Seine Hilflosigkeit lässt sie nicht kalt, aber Fabio drängt auf einen gewaltsamen Tod des Passlieferanten. Der Russe wartet. Lorna ist in einem Gewissenskonflikt gefangen, der zu unerwarteten Konsequenzen führen wird.

Schuld, Sühne und Erlösung

Wie in "L'enfant", dem letzten Film der Dardennes, treibt der alltägliche Kampf ums Geld Figuren und Handlungen nach vorne. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen sind auf ihre ökonomische Verwertbarkeit hin ausgerichtet - programmatisch zeigt die erste Einstellung von "Lornas Schweigen" eine Großaufnahme von Geldscheinen. Erst ein massiver innerer Druck durch Schuldgefühle erlaubt es den Figuren, ihr Verhalten zu ändern und damit zumindest die Chance zu eröffnen, ihre Einsamkeit zu überwinden. In "L'enfant" brachte der Verkauf des eigenen Babys einen jungen Vater zum Umdenken; bei Lorna ist es der tragisch endende Verrat am Ehemann, der das Leben der Protagonistin in eine neue Bahn lenken wird.

Die wiederkehrende Abarbeitung der Dardennes an den Themen Schuld, Sühne und Erlösung und die Nähe ihres Werks zu Filmen des katholisch geprägten Franzosen Robert Bresson legen christliche Interpretationen ihrer Filme nahe. Doch es gibt auch in ihrem neuen Film keine direkten religiösen Bezüge, die humanistischen Parabeln der Belgier zeigen eher, wie stark unsere Erzähltraditionen christlich geprägt sind.

Auch wenn in "Le silence de Lorna" die Kamera etwas mehr Abstand hält und ruhiger agiert als in früheren Filmen der Brüder, vermeiden die Filmemacher bewusst, ihre Bilder zu komponieren. Die Form soll sich nie vor den Inhalt stellen. Es geht um eine größtmögliche Direktheit und Konzentration auf die Figuren und ihr Schicksal. In "Le silence de Lorna" erreichen sie allerdings nicht ganz die archetypische Einfachheit und Klarheit von "L'enfant" und "Rosetta", ihren bisherigen Meisterwerken. Die im Vergleich mit anderen Filmen der Belgier geradezu komplexe Geschichte sorgt zwar für Überraschungsmomente, lenkt aber auch zu Beginn des Films etwas von der emotionalen Entwicklung Lornas ab. Erst im letzten Drittel rückt sie immer mehr in den Mittelpunkt.

Gedreht haben die Dardennes wie immer mit Laiendarstellern und professionellen Schauspielern an Originalschauplätzen und in chronologischer Reihenfolge. Ähnlich arbeitet auch der Brite Ken Loach, um den Eindruck von Realitätsnähe zu erzeugen. Doch von den Filmen des Altmeisters des sozialen Realismus unterscheidet sich "Lornas Schweigen" durch eine noch größere Ungeschütztheit der Figuren. Weder wird das hier gezeigte Lumpenproletariat durch Reste eines Milieuzusammenhalts noch durch ein rudimentäres Klassenbewusstsein getröstet - selbst Humor hilft ihnen nicht den Alltag zu bewältigen.

Das macht "Lornas Schweigen" zu einem alles andere als unbeschwerten Kinoerlebnis, der kathartische Effekt ist umso größer. Ohne ihre Zuschauer mit billigen Tricks zu manipulieren, erreichen die Dardennes mit jedem ihrer Filme eine selten so erlebte emotionale Wucht.

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