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Warum Heiner Müller seinen Tod gut überlebt hat

Feuilletonredakteur
Heiner Müller Heiner Müller
Dramaturg Heiner Müller wie man ihn kannte: Vor 80 Jahren wurde er geboren
Quelle: DPA
Er war der größte Dramatiker der DDR. 80 Jahre alt wäre Heiner Müller heute geworden, wenn der Dichter nicht am 30. Dezember 1995 an Krebs gestorben wäre. Doch auf Deutschlands Bühnen sind seine Dramen heute noch sehr lebendig

Als die Zeitschrift "Theater heute" 1996 nach dem größten Ärgernis der vergangenen Bühnensaison fragte, antwortete Deutschlands bedeutendster Theaterkritiker Benjamin Henrichs: "Das absurde Trauertheater nach Heiner Müllers Tod - als seien Brecht, Shakespeare und Aischylos auf einmal dahingegangen."

Mit dieser kalt ausgesprochenen Wahrheit wurde der am 30. Dezember 1995 gestorbene Dichter angemessener geehrt als mit allen Marathonlesungen, der Medienhysterie und dem Prominentenbegräbnis unter Massenbeteiligung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.

Heute wäre Heiner Müller 80 Jahre alt geworden. Und man kann feststellen, dass die Zahl der Besucher, die seine Stücke auf deutschen Bühnen sehen, immer noch größer ist als die derjenigen, die damals zu seiner Beerdigung kamen: 13.818 Menschen sahen in der Saison 2006/2007 (neuere Statistiken liegen noch nicht vor) Stücke von Heiner Müller in 19 Produktionen.

Wenn man seine Übersetzung der "Perser" des Aischylos dazu nimmt, die Dimiter Gotscheff im Deutschen Theater inszeniert hat, dann steht er sogar noch besser da. Denn allein diese Erfolgsaufführung sahen im genannten Zeitraum 15.718 Zuschauer.

Damit übertrifft Müller locker Botho Strauß (7916 Besucher), und er behauptet sich auch gut gegen Peter Handke (26 107) - zwei Dramatiker, die wie er ihre große Zeit in den Siebziger- und Achtzigerjahren hatten. Und das, obwohl von Müller keine neuen Stücke mehr geschrieben werden und der Löwenanteil der Zuschauer bei seinen West-Konkurrenten auf ihre jeweils frischsten Werke entfiel. Nur mit dem ebenso toten Thomas Bernhard kann Müller nicht annähernd mithalten: In dessen Stücke kamen 2006/2007 sogar 73.874 Menschen.

Es ist also nichts dran an dem häufig artikulierten Gefühl, Müllers Zeit sei vorbei, weil seine Sprache ebenso ranzig geworden sei wie seine Gesinnung. Vor allem das Deutsche Theater in Berlin ist zum Müller-Festspielhaus geworden, obwohl dessen Intendant Oliver Reese gesteht: "Wir hatten mal gedacht, das DT würde ein paar Jahre lang Heiner-Müller-freie Zone sein."

Durch diese Rechnung hat Dimiter Gotscheff einen Strich gemacht. Reese hält ihn für "Den Müller-Regisseur", denn "so wie Gotscheff Müller liest, denkt, tanzt und spielt, fällt viel Putz ab. Und darunter kommt ein antimodischer Zeitgenosse zum Vorschein."

Gotscheff, der zu Lebzeiten mit Müller befreundet war, hat dafür gesorgt, dass mit "Anatomie Titus Fall of Rome", "Germania" und "Hamletmaschine" sowie den "Persern" gleich vier Stücke des teuren Toten auf dem DT-Spielplan stehen. Und das ist gut so.

Denn obwohl man vor allem bei den späten Stücken oft ermüdet wird von den ewigen Sexualmetaphern, so würden doch ohne Müller auf deutschen Bühnen zwei wesentliche Elemente fehlen: Zum einen war er der letzte hiesige Bühnenautor, der sich traute, die Geschichte nicht nur zum Thema zu machen, sondern sie darzustellen.

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Unter dem Deckmantel des Fragmentarischen und des modischen Begriffs-Geweses (Stücke sind immer "Maschinen", "Kommentare", "Material" oder "Bildbeschreibungen"), das ihm den Ruf einbrachte, der Urvater der Postdramatik zu sein, verbirgt sich ein altmodischer Historiendramatiker.

Kommunismus, Zweiter Weltkrieg, Perückenpreußen

Als solcher schrieb er nicht nur über so zeitnahe Geschichte wie die des Kommunismus (in "Zement" oder "Mauser" beispielsweise) oder des 2. Weltkrieges (in "Wolokamsker Chaussee"), sondern auch über die französische Revolutionszeit (in "Der Auftrag") und sogar übers Perückenpreußen.

"Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei" war 1979 für lange Zeit das letzte Stück, das den 200 Jahre lang von unzähligen deutschnationalen Erbauungsdramen vereinnahmten König Friedrich II. als Bühnenfigur zeigte (erst 2006 hat es Thorsten Becker mit "Katte" noch einmal versucht).

Eine gewisse Preußennähe des am 9. Januar 1929 in Sachsen geborenen, in Mecklenburg aufgewachsenen Müller hat auch der niederländische Regisseur Johan Simons verspürt. Als er 2007 (vier Jahre nach seiner viel gelobten Inszenierung von "Anatomie Titus") an den Münchner Kammerspielen Kleists "Prinz von Homburg" inszenierte, sei ihm manches "wie von Heiner Müller" vorgekommen, sagt der Holländer.

Verse als Alleinstellungsmerkmal

Das mag auch mit dem zweiten Alleinstellungsmerkmal Müllers in der Gegenwartsdramatik zu tun haben. Er war der letzte große Dramatiker, der (oft) in Versen schrieb. Nicht nur seine Nachdichtungen von Aischylos, Sophokles oder Shakespeare, sondern auch noch sein Abschiedsstück "Germania 3. Gespenster am Toten Mann". Und er ging mit dem Metrum ähnlich frei um wie Kleist.

In der DDR blieb der fünfhebige jambische Blankvers, das klassische deutsche Bühnenmetrum von Lessing bis Hebbel, ja viel länger dramatischer Standard als in der BRD, wo dieses Versmaß durch allzu viele pseudoklassische Nazi-Dramen diskreditiert erschien.

Im Gebrauch des jambischen Pentameters ähnelt Müller seinem großen ostdeutschen Antipoden Peter Hacks. Auch dieser hat ja noch gewagt, Preußenstücke zu schreiben. Posthum erscheinen die beiden, die von den Zeitgenossen als Erz-Gegensätze empfunden wurden, wieder ganz ähnlich.

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Um Historiendramen zu schreiben, braucht man offenbar ein festes Weltbild, wie es die bürgerlichen Klassiker hatten, oder wenigstens eine Ideologie wie Müller und Hacks. Das erklärt die Schwierigkeiten der jüngeren deutschen Autoren mit der Geschichte.

Dabei kann der Standpunkt eines Autors ein Anker für Interpreten und Zuschauer sein, wie Simons meint. Der Regisseur und seine Lavinia-Darstellerin Nina Kunzendorf fanden 2003 bei den "Anatomie"-Proben Müllers Behauptung, die Gewalt sei eine Form von Schönheit, "einfach nur lächerlich".

Doch Simons will das nicht als Kritik am Autor verstanden wissen. Stattdessen glaubt er, dass der Zynismus des Dichters nicht nur dessen Poesie befreit, sondern auch den Leser: "Müller fordert, dass man sich ihm gegenüberstellt."

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