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Kultur Marcel Reich-Ranicki

Der sprechende Literaturpapst

Redakteur im Feuilleton
Marcel Reich Ranicki, deutscher Literaturkritiker. Photographie. 1966 Marcel Reich Ranicki, deutscher Literaturkritiker. Photographie. 1966
1966 träumte er noch vom Fernsehen: Marcel Reich-Ranicki
Quelle: picture-alliance / IMAGNO/Nachla
Wie sehr wird Reich-Ranicki als mündlicher Kritiker in die Geschichte eingehen? Einige Befunde zum 100. Geburtstag des Jahrhundertkritikers, der auch ein unterhaltsamer Literaturclown war.

Was bleibt? Sind es die Schriftstücke oder die Sendeminuten? Wird sich Deutschland an seinen populärsten Literaturkritiker mit Bewegtbildern oder archivierten Zeitungsartikeln erinnern? Die Frage nach dem Medium der kollektiven Erinnerung an Marcel Reich-Ranicki (2. Juni 1920 bis 18. September 2013) liegt zum Gedenken an seinen 100. Geburtstag durchaus nahe.

Prominent im Literaturbetrieb (mithin bei Schriftstellern, Verlegern und Feuilletonlesern) war der Literaturkritiker Reich-Ranicki schon durch seine Positionen bei deutschen Zeitungen gewesen, zuletzt als Literaturchef der „FAZ“ (1973 bis 1988). Populär für ein breites Publikum wurde er erst im Ruhestand beziehungsweise während seiner Fernsehkarriere als Gastgeber der ZDF-Sendung „Das literarische Quartett“ (1988 bis 2001).

77-mal hat er die 75-minütige Bücher-Talkshow, die keine Talkshow sein wollte, moderiert, an seiner Seite saßen Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler (bis zum Zerwürfnis im Jahr 2000) sowie ein wechselnder, mehr oder weniger mündig agierender Gast. Die Einschaltquote dieser sechsmal jährlich ausgestrahlten Sendung lag bei 900.000, in Spitzenwerten auch mal bei 1,5 Millionen Menschen. Gemessen an den 15, 20 oder 23 Millionen Menschen, die eine Show wie „Wetten, dass..?“ sahen, war das nie mehr als eine Nische, aber doch ein Erfolg. Vor allem eine für die Buchbranche bedeutsame Reichweite, die heute vermisst wird.

Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek (l.), Sigrid Löffler und ein wechselnder Gast formierten „Das Literarische Quartett
Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek (l.), Sigrid Löffler und ein wechselnder Gast formierten „Das Literarische Quartett"
Quelle: picture-alliance / dpa

Je länger sie lief, desto besser hatte sich die Sendung als Marke etabliert und konnte Büchern, die im „Literarischen Quartett“ besprochen wurden, eine um mehrere Zehntausend Exemplare gesteigerte Auflage, ja sogar Plätze auf der Bestsellerliste bescheren. Das notiert der Hannoveraner Medienwissenschaftler Gunter Reus in seinem klugen, konzentrierten Reich-Ranicki-Porträt „Kritik für alle“ (Theiss, 224 S., 25 €). Es ist die einzige nennenswerte Neuerscheinung zu Reich-Ranickis 100., während die erweiterten Biografien von Thomas Anz („Sein Leben“, Insel-Taschenbuch) und Uwe Wittstock (Piper-Taschenbuch) eher hagiografisch ausfallen.

Nicht nur Bücherfreunde und Bücherkäufer sahen die Kultsendung, die ohne die bühnenreife Präsenz von Marcel Reich-Ranicki nie Kult geworden wäre. (Dass sie vom ZDF wiederbelebt wurde und Nachahmer auch in anderen Sendern gefunden hat – etwa in Form des „Lesenswert“-Quartetts im SWR oder im „Literaturclub“ des Schweizer Fernsehens –, kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Unterhaltungs- und Showcharakter des Originals nie mehr erreicht wurde.)

Auch wer schieres Spektakel mochte und vielleicht nie Bücher las, sondern nur mal schauen und staunen wollte, wie leidenschaftlich sich Menschen über Bücher streiten und echauffieren konnten, kam als Zuseher des „Literarischen Quartetts“ voll auf seine Kosten. Hier fielen sich erwachsene Menschen ins Wort, hier ließen sie sich nicht ausreden, hier konterten sie schlagfertig. Alles nachzusehen bei YouTube, dort gibt es ein „Best of Verriss“.

Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“

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Man muss und darf diesen Streit durchaus als Kulturtechnik betrachten, die nicht immer selbstverständlich war. Kritik (im Sinne von: die Sache anders sehen, als Hierarchien es wollen) ist eine Errungenschaft der Aufklärung, Markenkern der im 18. Jahrhundert erfundenen literarischen Öffentlichkeit, und sie war nicht zufällig ein Gespräch. Drei oder vier Leute sehen die Dinge noch mal anders als nur zwei. Buchkritiken heißen synonomisch auch Besprechungen.

Mit die ersten Literaturkritiken überhaupt waren die „Monats-Gespräche“ des Leipziger Frühaufklärers Christian Thomasius. In dieser Zeitschrift wurden Bücher buchstäblich besprochen, in fiktiven Dialogen zwischen zwei und fünf Personen, und das alles anno 1688, genau 300 Jahre vor Start des „Literarischen Quartetts“, das Feuilletonisten in ihren Fernsehkritiken oft als Spektakel und Schwundstufe, ja als Niedergang der Literaturkritik schmähten.

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Nein, das „Literarische Quartett“ war Showroom für Literaturkritik in ihrer anarchischsten Form, und ja, der Übergang zur Literaturkritik-Karaoke war manchmal fließend, die Konstellation der Stammformation aber kongenial: Karasek als Sidekick von Reich-Ranicki und Löffler als scharfzüngiger, feministischer Widerpart. Absurderweise kann man die 77 mal 75 Minuten in toto nur nachlesen, die Gesprächsprotokolle aller Sendungen sind tatsächlich mal verschriftlicht worden und in einer dreibändigen Buchkassette (2006 verlegt bei Directmedia) antiquarisch erhältlich.

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Was für Fans und Forscher jedoch gleichermaßen fehlt, ist „Das Literarische Quartett“ in einer Videoedition. Es wäre gerade in unseren genderbewegten Zeiten sicher reizvoll, das „Literarische Quartett“ neu zu sichten. Nicht nur rollentechnisch, auch körpersprachlich, stimmlich, gestisch, mimetisch. Für all das stand Reich-Ranicki ja auch. Was immer wieder beeindruckt: Wie druckreif der Literaturpapst sprach und dachte! Man kann das an Paul Assalls Gesprächsbuch mit Reich-Ranicki wunderbar nachvollziehen. „Ich schreibe unentwegt ein Leben lang“, neben der Ausgabe bei Piper (12 €) auch als Hörbuch (Osterwold Audio, 14 €) erschienen, müsste eigentlich heißen: „Ich spreche unentwegt, und zwar druckreif“.

Marcel Reich-Ranicki war nicht nur wegen seiner gern parodierten Sprachfehler (das rollende Rrrrrr; das Lispeln) eine markante rhetorische Erscheinung, er war wegen seines Temperaments auch eine sprachmelodisches Phänomen, überhaupt ein musikalischer Mensch aller Amplituden: laut, leise, energisch, zahm. Oder auch adagio, agile, agitato. Das Meme seiner Sendung (Beethovens Rasumowsky-Streicherquartett, op. 59, No. 3) hatte Reich-Ranicki ebenso mitbestimmt wie den formalisierten Schlusssatz, ein Zitat aus Bertolt Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“: Und „sehn betroffen/ Den Vorhang zu und alle Fragen offen“.

Fast kann man sagen: Als sprechender Literaturkritiker war Reich-Ranicki in seinem eigentlichen Element. Er brauchte jedoch Widersprecher und Mitdiskutanten, weswegen die vom ZDF nach 2001 noch nachgereichten „Solo“-Auftritte des Starkritikers nicht mehr zündeten. Reich-Ranicki diskutiert mit sich allein? Das konnte es nicht sein.

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