1 Begriffsbestimmung

Anliegen dieses Bandes ist es, Antworten auf die Frage zu formulieren, was Ausnahmezustand heißen mag. Da der Ausnahmezustand in seiner Anwendung ein überaus dynamisches rechtliches wie politisches Phänomen ist, können Antworten immer nur situativ, nie aber letztgültig sein. Das gilt für die theoriegeschichtlichen Reflexionen, für die konkreten Anwendungsbeispiele, wie auch für die gegenständlichen und methodischen Perspektiven gleichermaßen.

Der Ausnahmezustand, so hat Carl Schmitt einmal angemerkt, hat für die „Jurisprudenz eine analoge Bedeutung, wie das Wunder für die Theologie“ (Schmitt 1922, S. 49). Damit hat er das Schillernde, schwer Fassbare, Widersprüchliche eingefangen, das den Begriff umweht. An anderer Stelle hat Carl Joachim Friedrich die für die Anwendung des Ausnahmezustandes zentrale Frage formuliert: „Kann man die Verletzung der Rechtsordnung rechtfertigen, wenn der Fortbestand dieser Ordnung in Frage gestellt ist und begründete Aussicht besteht, daß sie durch solche Verletzung gesichert, ja gerettet wird?“ (Friedrich 1961, S. 26). In einer Zeit, in der die alltägliche Regierungspraxis repräsentativer Demokratien diese Frage eindeutig mit ‚Ja‘ beantwortet und folglich immer häufiger zum Ausnahmezustand greift, bedarf es indes weniger schillernder Begriffe, als vielmehr klarer, ebenso normativ wie empirisch-analytisch anschlussfähiger Definitionen um den Zusammenhang von Demokratie und Ausnahmezustand angemessen erfassen zu können.

Bernard Manin hat jüngst eine Definition in Erinnerung gerufen, in der er drei Elemente von Ausnahmezuständen identifiziert hat: „Die Institutionen der Ausnahme gestatten es, zeitlich beschränkt bestimmte Verfassungsnormen einzuschränken, wenn es die Umstände erfordern“ (Manin 2015). Im Ausnahmezustand werden demnach 1) grundlegende, zumeist in der Verfassung niedergelegte Rechte aufgehoben; es wird 2) damit eine, in grundrechtlicher wie institutioneller Perspektive besondere Situation des Regierens geschaffen; diese ist 3) zeitlich beschränkt. Damit, so Manin, liege ein politisch-rechtliches Modell der Krisenintervention vor, das wegen seiner Einfachheit seit der römischen Antike in unterschiedlichen Manifestationen immer wieder zu beobachten gewesen sei.

Einen leicht anderen Akzent setzt eine Definition, in der ich den Ausnahmezustand als „kriseninduzierte Expansion der Exekutivkompetenzen“ (Lemke 2017) zu fassen versucht habe. Auch hierin finden sich drei Elemente: Die Ausrufung eines Ausnahmezustandes erfolgt 1) im Falle des Vorliegens oder der Plausibilisierung des Vorliegens einer manifesten Krise, für die erfolgreich behauptet wird, dass sie im Normalbetrieb der Verfassung nicht bewältigt werden kann; zur Bewältigung einer solchen Krise bedarf es 2) der Konzentration von Machtbefugnissen in Händen der Exekutive, womit eine signifikante Verschiebung der Kompetenzen innerhalb des machtteiligen Gefüges einhergeht; diese Verschiebung ist 3) – im Unterschied zur Definition Manins – nicht notwendigerweise zeitlich beschränkt: obschon die weit überwiegende Mehrzahl der Verfassungen eine Regelung zum zeitlichen Verfall der Maßnahmen vorsieht (vgl. Bjornskov und Voigt 2016), heißt das nicht, dass Regierungen nicht versuchen würden – mitunter auch durch gezielte Umgehung der Sperrfristen – den Ausnahmezustand zeitlich maximal auszudehnen.

Somit ist der Ausnahmezustand ein in der Verfassung verankertes Instrument staatlicher Krisenintervention, das bei Vorliegen der entsprechenden Bedingungen die Kompetenzen innerhalb des Institutionengefüges der Verfassung zugunsten der Regierung verschiebt. Dies geschieht zu dem Zweck, die auslösende Krise besser bewältigen zu können und geht in der Regel mit einer Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten im Anwendungsbereich des Ausnahmezustandes einher. Zwei einschlägige, historisch gewachsene Wege der Anwendung des Instruments können unterschieden werden: Das römische Modell – benannt nach der Praxis des römischen Diktators – etabliert für eine festgelegten Zeitraum von sechs Monaten ein spezifisches, im Normalzustand nicht existierendes Amt. In der Figur des Diktators werden alle für die Abwehr der Krise erforderlichen Kompetenzen gebündelt, die ansonsten zuständigen Institutionen werden temporär suspendiert. Das Rechtsstaatsmodell, das auf die Konzeption der Prärogative bei John Locke zurückgeht, schafft keine gesonderten Institutionen für den Ausnahmefall. Vielmehr wird die Geltung der Verfassungsordnung grundsätzlich aufrecht erhalten, wobei die bestehenden Institutionen mit besonderen Rechten und Kompetenzen ausgestattet werden. Diese erstrecken sich in der Regel darauf, den Ausnahmezustand auszurufen und ihn zu beenden, sowie die Geltung bestimmter Rechte – etwa Freizügigkeit der Person, Versammlungsfreiheit, Habeas Corpus etc. – aufzuheben oder einzuschränken.

In analytischer Hinsicht geht es der vorstehenden Definition nicht um die Beantwortung der in der juristischen Debatte der Weimarer Republik so wichtigen rechtsphilosophischen Frage, wie sich die Ausnahme überhaupt in einer Norm fassen ließe, oder wie die Koexistenz von Norm und Nicht-Norm in einem positiven Rechtsgefüge zu denken wäre. Stattdessen nimmt sie eine Perspektive auf den Ausnahmezustand ein, der diesen als optional verfügbare Regierungstechnik bereift, die angewendet werden kann, wenn sich das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung plausibilisieren lässt.Footnote 1 Das bedeutet, dass sich seine Analyse nicht in der Betrachtung von rechtlichen Regelungen erschöpft, sondern konstitutiv die diskursive Praxis seiner Anwendung mit berücksichtigen muss. Erst in der Auseinandersetzung mit der Plausibilisierung, mit der Verfügbarmachung des Ausnahmezustandes durch seine Präsentation in der politischen Öffentlichkeit, lässt sich erkennen, inwiefern sich die Legitimität seiner Anwendung durch die Regierung verändert.

2 Theoriegeschichte

Das Instrument des Ausnahmezustandes war über die gesamte Geschichte westlicher, institutionalisierter Staatlichkeit seit der römischen Antike immer gegeben. Heute verfügen 76 der 86 laut Freedom House (Freedom House 2015) als qualitativ höchstwertig eingestuften DemokratienFootnote 2 über jeweils spezifisch ausgestaltete Regelungen zum Ausnahmezustand (vgl. Lemke 2017)Footnote 3. Der Ausnahmezustand gehört damit zum klassischen Repertoire institutionell ausdifferenzierter Regierung. Im Verlauf der Theoriegeschichte lassen sich vier zentrale Entwicklungsmomente beziehungsweise -phasen unterscheiden.

Der initiale Moment der Theoriegeschichte des Ausnahmezustandes liegt in der Etablierung des Instruments selbst. In der römischen Republik wird mit der Diktatur erstmalig ein einzig auf effektives Krisenmanagement zugeschnittenes Amt eingeführt. Das Kollegialitätsprinzip war in der Zeit der Diktatur abgeschafft. Vor der Perpetuierung des Amts unter Sulla und Cäsar war die Diktatur auf einen Zeitraum von maximal sechs Monaten beschränkt, in welchem der Amtsinhaber den ihm vom Senat übertragenen Auftrag – etwa den, einen Krieg zu führen oder Spiele zu veranstalten – erfüllen musste.

In der zweiten Phase erfolgt die Tradierung des Instruments der Diktatur bis hinein in die modernen, neuzeitlichen repräsentativen Massendemokratien. Vorangetrieben wurde diese Tradierung durch Niccolò Machiavelli, der in den Discorsi schrieb: „Meine Meinung ist, dass Republiken, die in äußerster Gefahr nicht zum Mittel der Diktatur Zuflucht nehmen, bei schweren Erschütterungen zugrunde gehen werden“ (Machiavelli 1990, S. 185). Während Machiavelli explizit die Begrifflichkeit aus der römischen Republik übernimmt, um sie anschließend in die sich in Italien entwickelnde, moderne Staatlichkeit zu übertragen, entwirft John Locke knappe zwei Jahrhunderte später eine alternative Konzeption: Die Prärogative suspendiert nicht das verfassungsmäßige Institutionengefüge, um die Krisenreaktionskompetenz des Rechtsstaates zu entfalten. Stattdessen erhält die regulär beauftragte Regierung die Kompetenz, nach Ermessen über das Vorhandensein einer Herausforderung zu entscheiden, der mit dem Bestandsrepertoire staatlicher Institutionen nicht beizukommen ist. Über Alexander Hamilton, James Madison und John Jay findet die Konzeption des Ausnahmezustandes schließlich Eingang in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, also in die erste repräsentative Demokratie, deren Präsident mit weitreichenden Befugnissen zur Krisenintervention ausgestattet ist.

Die dritte Entwicklungsphase des Konzepts lässt sich im frühen 20. Jahrhundert verorten. Sie ist unweigerlich mit dem Namen Carl Schmitt verbunden, der die souveräne Ausnahmekompetenz zum Wesenskern des Politischen überhöht hat. Die Fähigkeit des kommissarischen Diktators entscheiden zu können, wann Recht gilt und wann nicht, worin die Frage, für wen Recht gilt und für wen nicht, eingeschlossen ist, ist hier nicht mehr bloß von funktionaler Relevanz. Die Betonung der schieren Durchsetzungsfähigkeit der Souveränität ist bei Schmitt gleichsam Gegenentwurf zum politischen Liberalismus, den er wegen seiner Kompromissfähigkeit verachtet.

Ungeachtet dieser antiliberalen Vereinnahmung war der Ausnahmezustand – in welcher institutionellen Umsetzung auch immer – bis zu diesem Zeitpunkt durchgängig als notwendige souveräne Kompetenz der Problemlösung beschrieben und verstanden worden. In der vierten Entwicklungsphase des Konzepts artikulieren sich zum Ende des 20. und zum Beginn des 21. Jahrhunderts erstmals kritische oder gar gänzlich ablehnende Stimmen. Der Ausnahmezustand wird zum Problem. Die in diesem Zusammenhang wohl am deutlichsten vernehmbare Mahnung ist jene von Giorgio Agamben. Aus der Tradition biopolitischer Gouvernementalität von Michel Foucault her denkend, sieht er den Ausnahmezustand im (Vernichtungs-) Lager der Moderne radikal verwirklicht. Im Lager ist jegliches Recht jederzeit, wie das individuelle Leben auch, disponibel. Es ist die Logik des Ausnahmezustandes, die das Prinzip der Rechtsgeltung pervertiert, indem sie ihm rechtlich sanktionierte Rechtsaussetzungen ermöglicht, die – wie im Lager zu beobachten – schlimmstenfalls alle immer betreffen.

3 Beiträge

Die Beiträge des Bandes gliedern sich in drei Teile: Sie thematisieren 1) theoriegeschichtliche Grundlagen des Ausnahmezustandes, analysieren 2) konkrete Fälle der jüngeren Geschichte, in denen Ausnahmezustände in repräsentativen Demokratien angewendet worden sind und sie nehmen 3) die inhaltlichen wie methodologischen Perspektiven künftiger Auseinandersetzung mit dem Ausnahmezustand in den Blick.

Die theoriegeschichtlichen Reflexionen über den Ausnahmezustand im ersten Teil des Bandes fokussieren meistenteils den Zeitraum des 20. und 21. Jahrhunderts. Mit Blick auf die Weimarer Debatte über den Ausnahmezustand, wie sie zwischen Hans Kelsen, Carl Schmitt und Hermann Heller geführt worden ist, geht Liza Mattutat in Warum die Regel von der Ausnahme lebt der Frage nach, wie eine Herrschaft des Rechts zu denken ist. Heller habe hier, so ihre Einschätzung, gegen Kelsen und Schmitt die Position vertreten, dass souveräne Rechtsstaatlichkeit nur als Zusammenwirken aller Beteiligten in der Organisation des Staates denkbar sei. Unter Rückgriff auf die kritische Staatstheorie zeigt Tobias Schottdorf in Vom Normalstaat zum Ausnahmestaat, wie sich in Zeiten existenzieller Krisen die Transformation eines Rechtsstaates in eine Ausnahmeform vollzieht. Zur Illustration dieser autoritären Verwandlung zieht er das Beispiel des Algerienkrieges heran. Christian Leonhardt entfaltet in seinem Beitrag über Zwei Namen des Ausnahmezustandes zwei überaus unterschiedliche, mit den Namen Giorgio Agamben und Jacques Rancière verbundene Figuren des Ausnahmezustandes. Dieser kann so einmal als Aussetzung einer Ordnung zum Zweck ihrer Bewahrung und einmal als Ermöglichung demokratischer Gestaltung begriffen werden. Beiden Figuren ist gemeinsam, so der Beitrag, dass der Ausnahmezustand jenen Ort markiert, an dem sich entscheidet, wer sprechen darf. In Suspendierung des RechtsKontinuität der Herrschaft geht Daniel Mirbeth der Frage nach, inwieweit sich die Theorie des Ausnahmezustandes um den Faktor der Interdependenz von Recht und Gesellschaft erweitern ließe. Zwar sei auch der Rechtsstaat letztlich auf Gewalt gegründet, doch müsse er zur Aufrechterhaltung marktwirtschaftlicher Produktion Rechtsstaatlichkeit garantieren, weswegen auch der Ausnahmezustand als Zwischenform von Recht und Gewalt kein Dauerzustand werden dürfe. Um die Spezifika des demokratischen Ausnahmezustandes geht es Max Molly. Sein Beitrag über Differenz und Einheit weist, mit Blick auf die Arbeiten Otto Kirchheimers, darauf hin, dass die potenziell ausgrenzende Wirkung des Ausnahmezustandes insbesondere abweichende, nicht systemkonforme Subjekte treffe. Mareike Gebhardts Beitrag zu den Ökonomien der Un/Sichtbarkeit bildet den Abschluss des Theorieteils. Ihr geht es, ebenfalls aus demokratietheoretischer Sicht darum, die Funktionslogik der Rechtsfigur des Ausnahmezustandes zu analysieren. Insbesondere die Konstruktion von Alterität erlaube, so ihre Argumentation, die Anwendung von besonderen rechtlichen Maßnahmen gegenüber ausgeschlossenen Gruppen innerhalb von demokratischen Gesellschaften.

Der zweite Teil besteht aus zwei Gruppen von Fallstudien: Einmal aus jenen, die in nationaler Perspektive, und einmal aus jenen, die in inter- und transnationaler Perspektive der zeitgenössischen Regierungstechnik im Ausnahmezustand nachspüren.

Den Auftakt der national fokussierten Analysen (Anwendungen I) macht die Sondierung von Pascal Mbongo. Die Fünfte Französische Republik verfüge über ein sehr breites Repertoire ausnahmezustandlicher Maßnahmen. Der Beitrag zeichnet die jeweiligen rechtlichen Bestimmungen nach und untersucht, für die Zeit nach den Anschlägen vom 12.11.2015, welche gesetzlichen Verschärfungen die französische Regierung durchgesetzt hat und welche Kontrollmechanismen geeignet sein könnten, um die wachsende Exekutivmacht dennoch zu kontrollieren. Neben Frankreich ist die Türkei derzeit in den Schlagzeilen, wenn es um politisch induzierte Ausnahmezustände geht. Ece Göztepes Beitrag zum Paradigmenwechsel für den Sicherheitsstaat befasst sich theoretisch wie normativ mit den politischen Voraussetzungen und Zielsetzungen des Ausnahmezustandes in der Türkei. Im Südosten der Türkei, so Göztepe, herrsche seit Oktober 2014 ein rechtsfreier Raum, der von allen bisherigen Rechtspraktiken abweiche. Polen übt sich dagegen, wie Piotr Matczak und Grzegorz Abgarowicz konstatieren, in einer außerordentlichen Zurückhaltung in der Krise. Zwar verfüge auch Polen, ähnlich wie Frankreich, über ein breites Repertoire ausnahmezustandlicher Mittel. Allerdings sind diese seit dem demokratischen Wandel 1989/1990 nicht angewandt worden, was, wie die Autoren zeigen, nur in Teilen mit der missbräuchlichen Anwendung des Ausnahmezustandes im Zusammenhang mit der versuchten Zerschlagung der Bewegung Solidarnosc Anfang der 1980er Jahre zusammenhänge. Den Blick noch weiter nach Osten wirft Hannes Keune. Souveränität in Putins Russland, so der Beitrag, komme am Denken Carl Schmitts nicht vorbei. Indem Putin nach Jahren des transformationsbedingten Zerfalls wieder einen starken Staat mit einem ebenso starken Präsidenten an seiner Spitze aufgebaut hat, habe er gleichsam einen – wenn auch umstrittenen – Beleg dafür geliefert, dass die Kritik Schmitts an der liberalen Demokratie durchaus eine gewisse Berechtigung habe. Antonious Kouroutakis und Despoina Glarou zeigen angesichts des ökonomischen Ausnahmezustands in Griechenland auf, dass die Regierung in Athen trotz allem keine ausnahmezustandlichen Maßnahmen ergriffen hat, um den Erfordernissen der Situation effektiv zu begegnen. Das Versagen der griechischen Verfassungsordnung liege, so ihre These, in einer strukturellen Blockade begründet, die wiederum eine Debatte darüber nahelege, ob die griechischen Regelungen zum Ausnahmezustand nicht dringend einer Reform bedürfen. Mit dem Blick auf den Sondersicherheitsbeauftragten in der Terra Caliente wendet sich der Blick noch einmal außergewöhnlich starken beziehungsweise mächtigen Figuren zu. Luis Alfonso Gómez Arciniega zeigt mit Blick auf die Binnenverhältnisse in Mexiko, dass der Sondersicherheitsbeauftragte durchaus mit der Figur des kommissarischen Diktators, wie Carl Schmitt ihn beschreibt, in Einklang gebracht werden kann. Der nächste Blick in die Binnenverhältnisse eines gefährdeten Gemeinwesens führt – nach Deutschland. Maren Leifker und Nora Keller zeigen, inwiefern etwa die Hamburger Gefahrengebiete als kommunaler Ausnahmezustand interpretiert werden können. Gefahrengebiete ermöglichen es den Polizeibehörden anhand von Lageerkenntnissen Orte festzulegen, an denen Personen verdachtsunabhängig angehalten, befragt und durchsucht werden können. Der Beitrag untersucht, welche Mechanismen in Gefahrengebieten wirken und in welcher Hinsicht sich das Leben der Betroffenen als ein Leben im Ausnahmezustand charakterisieren lässt.

Am Anfang der trans- und international fokussierten Analysen (Anwendungen II) steht der Beitrag von Sebastian Wolf über die Politische Dimension der Notstandsklausel der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der Beitrag geht der Frage nach, ob bei der Anwendung der weitreichenden Menschenrechtsklausel der Europäischen Menschenrechtskonvention noch eine politisch relevante Einhegung staatlicher Ausnahmemaßnahmen gegeben sei. Selbst im Ausnahmezustand, so Wolf, akzeptiere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unverhältnismäßige Verstöße gegen Grund- und Freiheitsrechte nicht mehr. Von den Ursachen her jenseits der europäischen Grenzen angesiedelt ist der Beitrag von Jona van Laak. Der Beitrag über die Europäischen Flüchtlingslager als Ausnahmezustand diskutiert die Phänomene der undokumentierten Flüchtlinge, der Grenze und der Lager aus der Perspektive von Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Der Beitrag versucht sich damit an der Beantwortung der Frage, inwieweit die Flüchtlingslager in der Europäischen Union tatsächlich Orte sind, an denen sich der Ausnahmezustand für die Insassen als unentrinnbare Realität manifestiert. Markus Holzinger schließlich zeigt hinsichtlich des Zusammenhanges von Transnationalem Terrorismus und Ausnahmezustand, wie die in Reaktion auf den internationalen Terrorismus etablierten Ausnahmerechte auf die westlichen Gesellschaften zurückwirken und dort – mit Agamben – „Zonen der Unbestimmtheit“ etablieren, die das rechtliche Kategoriensystem westlicher Demokratien erschüttern.

Künftiges Analysepotenzial zum Ausnahmezustand und seine Perspektivierung nehmen die zwei abschließenden Beiträge des dritten Teils in den Blick. Annette Förster greift die von Holzinger angeschnittene Thematik auf und fragt, inwieweit nach 15 Jahren ‚War on terror‘ sich die Perspektive einer Normalisierung der Ausnahme abzeichne. Ihr Beitrag untersucht, inwiefern die nach dem 11.9.2001 ergriffenen Maßnahmen zu einer nachhaltigen Veränderung der politischen Kultur geführt haben. Es zeichne sich, so Förster, der sukzessive Aufbau eines außerrechtlichen Raumes ab, der seinerseits schrittweise durch das Recht und die Durchsetzung seiner Geltung zurückgewonnen werden musste und noch werden muss. Einen methodologisch innovativen Zugriff auf Ausnahmezustände und ihre Wirkung stellen schließlich Andrej Zwitter, Leonard Fister und Svenne Groeneweg in ihrem Beitrag über das State of Emergency Mapping Project (STEMP) vor. Bislang hätten sich qualitative Studien zum Staatsnotstand vornehmlich mit politischen Motiven und Eingriffen in nicht derogierbare Menschenrechte beschäftigt. Die STEMP-Datenbank erlaubt die Erweiterung dieser Einsichten durch eine systematische Analyse von Staatsnotstandserklärungen auf Grundlage von Artikel 4 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR). Die Datenbank umfasst mehr als 300 Staatsnotstände weltweit für den Zeitraum von 1995 bis 2015. Ihre Auswertung zeigt signifikante Unterschiede bei menschengemachten- und Naturkatastrophen was Dauer und Gebrauch von ausnahmezustandlichen Maßnahmen anbetrifft.

In der Summe entsteht so das Bild eines facettenreichen, problematischen sowie demokratietheoretisch höchst relevanten Themenfeldes. Angesichts einer Gegenwart, in der das Regieren im Ausnahmezustand ebenso zunimmt wie die Exekutivlastigkeit im gewaltenteiligen Gefüge, bedarf es – wie eingangs bereits angedeutet – genau genommen keiner Antworten, zumindest nicht solcher mit Finalitätsanspruch. Es bedarf vielmehr einer fortlaufenden, eingehenden Diskussion sowie einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Ausnahmezustand, seinen Ermöglichungsbedingungen und seinen Folgen für die Demokratie. Eine solche Haltung allein wäre für eine sich als ebenso gegenwartsdiagnostisch wie kritisch verstehende Politische Theorie angemessen.