Die Gerechtigkeit ist zweifellos der höchste normative Anspruch, den wir an ein politisches Gemeinwesen erheben. Allenfalls könnte das Prinzip der Moderne, die Freiheit, ihr diesen Rang streitig machen. Im einschlägigen politischen Liberalismus steht aber auch die Verteilung der Freiheit auf die Bürgerinnen und auf ihre Organisationen unter dem Anspruch der Gerechtigkeit, so dass Gerechtigkeit und Freiheit sich wechselseitig bestimmen, insofern gleichrangig sind.

Wegen des überragenden Werts der Gerechtigkeit, auch weil John Rawls sie in seine, Hauptwerk mit dem Prinzip der Freiheit unmittelbar verknüpft, ist es nicht erstaunlich, dass dieses Werk, A Theory of Justice, auf Deutsch Eine Theorie der Gerechtigkeit, weltweit eine außergewöhnliche Reputation gefunden hat. Eine Theorie der Gerechtigkeit erweist sich als der wichtigste Beitrag des englischen Sprachraums, vermutlich sogar als der überhaupt wichtigste Text zur Politischen Ethik und Politischen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts.

FormalPara Ein Paradigmenwechsel in fünf Dimensionen

Ein Thema allein schafft freilich nicht die Aufmerksamkeit, die Rawls zuteilwurde. Der weit wichtigere Grund liegt im Rang des Werkes selbst, dem nach Originalität und Monumentalität wohl einzigen Hauptwerk dieses Philosophen. Er erlaubt, was in den Wissenschaften in der Regel unstatthaft ist: Man darf mit ein wenig Pathos beginnen. An bedeutenden philosophischen Schriften ist das 20. Jahrhundert nicht arm, gewiss. Trotzdem trifft vermutlich auf kaum eine andere Schrift zu, was hier der Fall ist: John Rawls’ Theorie ist seit Erscheinen eine Sensation in vier Hinsichten: nicht bloß philosophisch, sondern auch akademisch, überdies (welt-)politisch, nicht zuletzt in Bezug auf die Wirkungsmacht.

In philosophischer Hinsicht gelingt Rawls, was man heutzutage kaum noch von einem einzigen Autor mit einem einzigen Text sagen kann. Ihm gelingt, die philosophische Debatte so grundlegend zu verändern, sodass man hinsichtlich der Geschichte des politischen Denkens von einem Paradigmenwechsel, sogar einem mehrfachen, insgesamt fünffachen Paradigmenwechsel sprechen darf:

(1) Die im englischen Sprachraum zuvor dominierende Metaethik tritt, zugunsten der bislang mit Skepsis betrachteten, normativen Ethik, ins zweite Glied. Sie spielt, so Rawls (1977, 15), in seinem Vorwort zu einer einschlägigen Aufsatzsammlung (s. u. Abschn. II.), „nur eine untergeordnete Rolle“. Diese Rollenverschiebung kommt fraglos der Philosophie substantieller Themen zugute. Sie erlaubt allerdings auch eine Rückfrage: Muss man die normative Ethik als Alternative zur (sprach-)analytischen Metaethik ansehen, oder kann sie nicht ebenso als deren sinnvolle Ergänzung verstanden werden? Durch die hier einschlägige Bedeutungsanalyse des Grundbegriffs „gerecht“ gewinnt man nämlich ein erstes Kriterium für Rawls’ Standpunkt der Gerechtigkeit, zugleich einen Einblick in jenen Vorrang vor anderen Standpunkten, den Rawls (1975, 19 f.) zwar behauptet, aber nicht hinreichend ausweist: Die Semantik würde die Gerechtigkeit als eine moralische Verbindlichkeit bestimmen, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, während eventuell weitergehende Forderungen der Moral dem verdienstlichen Mehr, in der Sprache der Tradition: einer Tugendmoral, zuzuordnen sind.

(2) Soweit im englischen Sprachraum doch normative Fragen erörtert wurden, stand jene Moraltheorie im Vordergrund, die schon von Hutcheson, Hume und Helvétius, auch von Adam Smith vertreten, aber erst von Bentham, Mill und Sidgwick so nachdrücklich entwickelt wird, dass sie zu der im englischen Sprachraum dominanten philosophischen Ethik aufsteigt (vgl. Höffe 2013, 4 f.). Danach ist jenes Tun und Lassen moralisch richtig, folglich geboten, das zum ‚größten Glück der größten Zahl‘, genauer: zum maximalen Kollektivwohl der zuständigen sozialen Einheit führt. Dieser Grundgedanke herrscht im englischen Sprachraum nicht nur in der Moralphilosophie, sondern auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften vor.

Unter den führenden deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts hat er freilich keine gute Presse. Karl Marx und Friedrich Engels werfen ihm in der Deutschen Ideologie eine „exploitation de l´homme par l´homme“ vor, eine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen (MEW III, 394). Und Nietzsche (JGB KSA 6/2, 116) zählt ihn zu den Denkweisen, „die nach Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen“ und deshalb als „Vordergrunds-Denkweisen und Naivitäten“ abgestempelt werden. Einer der Sprüche und Pfeile aus der Götzen-Dämmerung dürfte sich gegen den Utilitarismus und gegen die von ihm geprägte Lebensart richten: „Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das“ (Nietzsche GD KSA 6/3, 55).

In der normativen Ethik muss also dank Rawls der bislang dominierende Utilitarismus einer dezidiert antiutilitaristischen Ethik weichen. An die Stelle der bislang im Vordergrund stehenden Autoren, Jeremy Bentham, noch mehr John Stuart Mill, wird jetzt Immanuel Kant zum philosophischen, vor allem moralphilosophischen Vorbild. Nach der unter anglophonen Philosophen beliebten Unterscheidung der eigenen, zudem für überlegen gehaltenen analytischen Philosophie schließt sich also Rawls, ohne die Unterscheidung zu erwähnen, dem kontinentalen Denken an.

Dem Utilitarismus hält er vor allem zwei Einwände entgegen. Einerseits gehe er von der Annahme eines idealen unparteiischen Beobachters aus, was sich auf einen vollkommenen Altruismus belaufe, der den Menschen überfordere (Rawls 1975, 203 f.). Überdies sei er in sich widersprüchlich (ebd., 201–220). Denn vollkommene Altruisten blicken stets auf den anderen, der sich seinerseits nur für fremde Interessen einsetzt, womit alle Beteiligten zu interesselosen Subjekten würden. Infolgedessen könnten sie sich für nichts einsetzen, sodass ihre Kooperation in einem ewigen Leerlauf bestünde.

Nach dem zweiten Vorwurf ordnet der Utilitarismus die legitime Freiheit der Individuen dem kollektiven Wohl unter. In eklatantem Widerspruch zu Rawls’ Grundgedanken, der Gerechtigkeit als Fairness wären eine Sklaven- oder eine Feudalgesellschaft, eine Stände- oder eine Kastengesellschaft, selbst ein Polizei- und Militärstaat nicht bloß moralisch erlaubt, sondern sogar moralisch geboten, vorausgesetzt, dass sie mittels einer geschickten Selbstorganisation zwar extreme Eingriffe in den persönlichen Freiheitsraum vornehmen, trotzdem einen maximalen Gesamt- oder einen maximalen Pro-Kopf-Nutzen zustande bringe. In scharfem Gegensatz dazu besitzt laut Rawls jede einzelne Person ein Eigenrecht, das selbst im Namen des Wohlergehens der ganzen Gesellschaft nicht verletzt werden darf (ebd., 19–23, 636). In kompromissloser Ablehnung jeder Art von Sklaverei, Leibeigenschaft und Kastensystem gelten bestimmte Grund- und Menschenrechte als schlechthin gültig.

(3) Zugleich lässt Rawls einen in der Geschichte der Moralphilosophie wichtigen Gedanken, den des guten Lebens, zwar nicht verschwinden. Er tritt jedoch in den Hintergrund, was Rawls zum Vorrang des Rechten (qua Gerechten) vor dem Guten pointiert (ebd., 50, 611–614): Die Menschen dürfen ihren jeweils eigenen Lebensplänen folgen; hier darf die Politik und die Philosophie sich nicht einmischen. Sie dürfen sich lediglich mit jenen sozialen Voraussetzungen der unterschiedlichen Vorstellungen guten Lebens befassen, die Rawls die gesellschaftlichen Grundgüter nennt (ebd., 81–86, 111–115). Dieser Begriff bietet nun ebenso wie Rawls’ Überlegungen zur Moralpsychologie (ebd., 503–539) empirisch gehaltvollen Theorien einen guten Einstieg.

(4) In methodischer Hinsicht bedient sich Rawls eines in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften beliebten, vielerorts sogar vorherrschenden Argumentationsmusters, und zwar der Entscheidungs- und Spieltheorie. Vor allem auf diese Weise gelingt es Rawls, sein Thema, die Gerechtigkeit, wissenschaftlich wieder hoffähig, sogar hochrespektabel zu machen: Die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nehmen das zuvor verpönte Prinzip der Gerechtigkeit jetzt in ihre Überlegungen wieder auf.

In universitärer, überdies wirkungsgeschichtlicher Hinsicht außergewöhnlich war und ist, dass ein wahrhaft akademisches, ‚gelehrtes‘ Werk, das seinem Umfang nach sogar ein veritabler Wälzer, zudem nicht der Text eines begnadeten Schriftstellers ist, trotzdem nicht nur über die Grenzen der Fachphilosophie, sondern weit über die akademischen Grenzen hinaus gelesen, studiert und – meist zustimmend, da und dort aber auch ablehnend – kommentiert wurde. Es versteht sich, dass dieser Text, der zunächst auch auf Deutsch erschien, später nach und nach in alle wichtigen Sprachen übersetzt wurde. Nicht mehr selbstverständlich ist die Fülle der Diskussionsbeiträge, Aufsätze, Sammelbände und Monografien, die das Werk erhält: Es provoziert eine intellektuelle Debatte von industriellem Ausmaß, gleicherweise aber nicht von industrieller Gleichförmigkeit.

(5) In (welt)politischer Hinsicht schließlich wurde der damals heftige Streit zwischen liberalen und sozialistischen Standpunkte zugunsten einer mittleren Position aufgehoben. Der vor allem in den USA zuvor dominierende Liberalismus wird von John Rawls durch einen starken sozialstaatlichen Akzent – je nach Einschätzung – erweitert, verändert oder verbessert. Jedenfalls geht in den klassischen Liberalismus, in seine Verbindung von Freiheitsrechten als Abwehrrechte gegen den Staat und demokratischen Mitwirkungsrechten mit den Wohlstandserwartungen an die freie Marktwirtschaft, ein kräftiges Stück Sozialstaatlichkeit ein. Die damals wie heute vieldebattierte Frage hingegen, ob es eine kapitalistische Wirtschaftsordnung mit Privateigentum oder eine sozialistische mit Staatseigentum an den Produktionsmitteln geben sollte, hält Rawls für sekundär und für empirisch, nicht moralisch zu entscheiden (ebd., 307 f.).

Ein weiterer Vorzug von Eine Theorie der Gerechtigkeit liegt in der Fülle sowohl an klassischer und zeitgenössischer Literatur, die sie verarbeitet, als auch an der dabei zutage tretenden Fähigkeit, Autoren verschiedener Epochen und Richtungen gleichermaßen positiv einzuschätzen. Während zum Beispiel heute Aristotelikerinnen und Kantianer gern als Gegner auftreten, hält Rawls sein Theoriekonzept für Kantisch (ebd., 283–290) und führt trotzdem an wichtiger Stelle einen Aristotelischen Grundsatz ein (ebd., 463–472).

Methodisch einheitlich argumentiert Rawls nicht. Gelegentlich entwickelt er seine Gedanken in mehr intuitiven Skizzen. Der so wichtige Begriff der gesellschaftlichen Grundgüter beispielsweise wird nicht aus der zugrundeliegenden Aufgabe, den unverzichtbaren Vorbedingungen für jede Art von Lebensplan, entwickelt. An anderen Stellen argumentiert Rawls in epischer Breite (ebd., 223–229). An wieder anderen besticht er durch eine ebenso umfassende wie genaue, zwar knappe und doch anschauliche Untersuchung. Ein Kabinettstück bildet die Darstellung der drei Arten von Verfahrensgerechtigkeit.

Wer nach Lektüre der ersten Paragraphen nicht ermüdet, sondern tatsächlich das ganze Werk durcharbeitet, kann die fast enzyklopädische Erörterung der einschlägigen Probleme bewundern. Selbst das in vielen Moral- und Sozialtheorien vernachlässigte Thema des Bösen kommt zur Sprache. Dieser Gedankenreichtum erschwert allerdings den raschen Zugriff.

Auf einige thematische Grenzen sei pauschal vorab hingewiesen. Zwei davon wird Rawls später selber erörtern, den Tiefenpluralismus moderner Gesellschaften, den er im Politischen Liberalismus als Faktum eines vernünftigen Pluralismus einführt und Fragen einer internationalen Rechtsgemeinschaft, die er über den Paragraphen 58 von Eine Theorie der Gerechtigkeit hinaus in The Law of Peoples ausführlich behandeln wird. Das Thema einer Tierethik lässt er ausdrücklich beiseite, und die Theorie staatlichen Strafens kommt deshalb nur am Rande zur Sprache (ebd., 265–274, 349 f., 624 f.), weil sich eine gerechte Gesellschaft weniger auf Zwang (ebd., 540) als auf wechselseitigen Vorteil und gegenseitiges Vertrauen verlassen solle (ebd., 503–521, 532–547).

Das Werk ist in drei etwa gleich lange Teile von je drei Kapiteln gegliedert: Teil I, der Theorie der Gerechtigkeit gewidmet, stellt die inhaltlichen und methodischen Grundgedanken vor: 1. Gerechtigkeit als Fairness; 2. Die Grundsätze der Gerechtigkeit; 3. Der Urzustand. Teil II. befasst sich mit Institutionen, allerdings mit den einschlägigen Institutionen der konstitutionellen Demokratie, dem Parlament, der Regierung und der Justiz, als mit den ihnen zugrundeliegenden Prinzipien: 4. Gleiche Freiheit für alle; 5. Die Verteilung; 6. Pflicht und Verpflichtung. Der Teil III. schließlich Ziele (Ends), handelt über die Stabilität einer gerechten Gesellschaft: 7. Das Gute als das Vernünftige (als rationality, nicht etwa als reason oder reasonableness); 8. Der Gerechtigkeitssinn; 9. Das Gut der Gerechtigkeit.

FormalPara Mit langem Atem

Wer eine knappere, bündigere Darstellung von Rawls sucht, kann auf vier Aufsätze zurückgreifen, die nach Rawls einen Zusammenhang bilden und eine ziemlich einheitliche Darstellung der gesellschaftlichen Gerechtigkeit bieten. In diesem Sinn biete Gerechtigkeit als Fairness (1958) philosophische Grundlage und Der Gerechtigkeitssinn (1963) deren Moralphilosophie. Distributive Gerechtigkeit – zusätzliche Bemerkungen (1967), erörtere einige Folgerungen, während Die Rechtfertigung bürgerlichen Gehorsams (1969) sich politischen Pflichten und Verpflichtungen widmet (Rawls 1977). Diese Aufsätze, die im Laufe von mehr als zehn Jahren erscheinen, zeigen, dass Rawls seine schließliche Monographie Eine Theorie der Gerechtigkeit, mit einem ähnlichen langen Atem verfasst hat wie Kant seine Kritik der reinen Vernunft.

Zu den Unterschieden der Aufsätze zu Eine Theorie der Gerechtigkeit zählt Rawls (ebd.) das Gewicht, das er dem noch zu erläuternden Schleier des Nichtwissens zumisst, ferner dass trotz des gelegentlichen Anscheins einer individualistischen und auf Eigennutz abhebenden Theorie à la Locke oder gar Hobbes seine Auffassung der Gerechtigkeit als Fairness von Rousseau und Kant herkommt. Schließlich seien das neunte Kapitel „Das Gut der Gerechtigkeit“ neu und etwas überraschend, da er doch schon einen Aufsatz zu genau diesem Thema veröffentlicht hatte, das achte Kapitel „Der Gerechtigkeitssinn“.

FormalPara Gerechtigkeit als Fairness

Vor Rawls war die englischsprachige Ethik gegen die Möglichkeit, moralische Normen objektiv zu begründen, skeptisch. Rawls selber springt im ersten Kapitel von Eine Theorie der Gerechtigkeit, statt sich auf eine begriffsklärende Metaethik einzulassen, in lockerer Anlegung an Kants Grundlegung unmittelbar in die Szene. Nach Kant (GMS AA IV, 393, 5–7) ist „überall nichts in der Welt […] zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“. Ähnlich beginnt Rawls (1975, 19) direkt mit seiner Grundthese: „Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen“. Kant erklärt ab dem zweiten Satz der Grundlegung, dass alle zum guten Willen denkbaren Alternativen ausscheiden. Denn, um gut sein zu können, setzen sie sie, so der der dritte Argumentationsschritt, schon den guten Willen voraus. Rawls’ gegenüber der Grundlegung stärker thetische, weniger argumentative Variante lautet: Wie man eine „noch so elegante“ Theorie fallen lassen muss, „wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende […] Gesetze und Institutionen abgeändert […] werden, wenn sie ungerecht sind“ (ebd.).

Als nächster Satz folgt dann die inhaltliche, stillschweigend den Utilitarismus ablehnende Kernthese: „Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann“ (ebd.). Diese Grundintuition Rawls’ lässt an das deutsche Grundgesetz denken, das an seinen Anfang die unantastbare Menschenwürde stellt. Dieser Begriff, auch der der bloßen Würde, kommt allerdings in Eine Theorie der Gerechtigkeit nicht vor, ebenso wenig in dem folgenden Werk, dem Politischen Liberalismus. In Rawls’ (2003, 147) Neuentwurf, der Gerechtigkeit als Fairness, taucht der Begriff zwar auf, aber nur en passant und in Bezug auf Mill. Ebenso wenig prominent erscheint er in Rawls’ (2002, IV, § 2) Geschichte der Moralphilosophie und dann auch nur in Bezug auf Kants dritte Formulierung des kategorischen Imperativs.

Im ersten Kapitel von Eine Theorie der Gerechtigkeit folgen Hinweise auf (Rawls 1975, § 1): die Nichtverhandelbarkeit gleicher Bürgerrechte für alle; die Bestimmung der Gesellschaft als einem System der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil; dass es bei den dabei auftretenden Interessenkonflikte – „denn jeder möchte lieber mehr als weniger haben“ (ebd., 20) – es Grundsätze für die Güterverteilung braucht; dass eine Gesellschaft wohlgeordnet (well ordered) genannt werden kann, wenn sie von einer gemeinsamen (orig. public: öffentlicher) Gerechtigkeitsvorstellung wirksam geleitetet wird; schließlich, dass es für eine funktionsfähige (orig. viable: lebensfähige) Gesellschaft noch weitere Aufgaben wie Fragen der „Koordination, der Effizienz und der Stabilität“ (ebd., 22) gibt.

Es ist nicht leicht einsichtig, warum Rawls sein Gerechtigkeitsverständnis als Fairness bezeichnet. Denn dieser Ausdruck ist kaum klarer als der zu klärende Begriff. Im Rahmen einer Rechtsordnung ist bei Gerechtigkeit als erstes an das Gerichtswesen zu denken, denn das einschlägige Fremdwort, die Justiz, bedeutet auf Deutsch nichts anderes als Gerechtigkeit. Gerecht sind hier gewisse Verfassungsregeln, z. B. das Prinzip der Gleichheit mit dem Willkürverbot als negativem Begriff.

Bei Fairness denkt man zwar spontan an den Sport, aber ohne sagen zu können, was positiv gemeint ist. Negative Aussagen fallen leichter. So kommt es nicht auf das Beachten von Regeln an, auch nicht auf Strategien, mit denen man gewinnen will, außer dass unanständige Mittel und Wege keine Rolle spielen dürfen. Mit Fairness bezeichnet man, deutet sich hier an, ein anständiges, aber nicht schon durch einklagbare Regeln bestimmtes Verhalten. Daran kann man bei Rawls anschließen: In seiner Theorie der Gerechtigkeit wird nicht nach vorgegebenen Regeln, sondern um Regeln, die Prinzipien, gespielt, die, rangmäßig noch über den Verfassungsprinzipien stehend, auf Gerechtigkeit Anspruch erheben dürfen. Mit der Forderung, dieses Spiel unter ‚fairen‘ Bedingungen durchzuführen, bewegt sich die Theorie der Gerechtigkeit allerdings im Kreis: Um Gerechtigkeitsbedingungen herausfinden zu können, muss das Spiel selbst schon gerecht strukturiert sein. Bei der einen Methode von Rawls, dem Überlegungsgleichgewicht, wird sich zeigen, liegt eine Variante des hermeneutischen Zirkels vor.

FormalPara Zwei Grundsätze der Gerechtigkeit

Rawls kann sein Vorbild, Kant, bei diesen Grundsätzen nicht verleugnen. Wie in Kants einschlägiger rechts- und gerechtigkeitsphilosophischen Schrift, der Rechtslehre, übrigens schon lange vorher, in Aristoteles’ Politik, erkennen in einer gerechten Gesellschaft die Bürger sich als frei und gleich an. Mit Kant und in Widerspruch zum Utilitarismus ist eine gerechte Gesellschaft weder berechtigt noch fähig, dem Glück ihrer Bürger zu dienen. Rawls verpflichtet ein gerechtes Gemeinwesen nicht auf das gesellschaftliche Wohl, sondern auf dessen generell gültige Voraussetzungen, die gesellschaftlichen Grundgüter (social primary goods) genannt werden. Diese zeichnen sich durch drei Merkmale aus. Erstens sind sie im Gegensatz zu natürlichen Grundgütern wie körperliche Kraft und soziale, geistige und seelische (emotionale) Intelligenz gesellschaftlich bedingt. Zweitens sucht man für die gesellschaftlich bedingten Voraussetzungen jeder Art persönlicher Lebenspläne das Maximum. Mit diesen Gedanken bringt Rawls eine Besonderheit der modernen, wesentlich pluralistischen Gesellschaften auf den Begriff. Schließlich kommt es im Unterschied zu biologisch unverzichtbaren Gütern wie Luft, Wasser und Nahrung, auch Kleidern und Wohnen sowie das Bindungsbedürfnis von Neugeborenen auf Elemente an, die deutlicher sozial abhängig sind: Rechte und Freiheiten, ferner Chancen und Macht, nicht zuletzt Selbstachtung (Rawls 1975, §§ 15 und 63).

Aus der Verbindung der Fairness-Idee mit dem Gedanken der gesellschaftlichen Grundgüter ergeben sich Rawls’ Gerechtigkeitsgrundsätze. In ihrer endgültigen Fassung lauten sie so: „Erster Grundsatz: Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. Zweiter Grundsatz: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen“ (ebd., § 46).

Mit diesen zwei Grundsätzen rechtfertigt Rawls das im Westen vorherrschende, exemplarisch in den USA praktizierte Modell eines freiheitlichen und sozialen Rechtsstaates, einer konstitutionellen Demokratie, in die eine freie Marktwirtschaft eingebunden und von ihr zugleich in Schranken gewiesen ist. Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz, der der größten gleichen Freiheit, lehnt außer der Sklaverei und Leibeigenschaft jede religiöse, politische und andere Verfolgung, auch die rechtliche Diskriminierung von Minderheiten ab. Positiv formuliert fordert er für alle Bürgerinnen die gleichen möglichst ausgedehnten Grundfreiheiten, was jedem von ihnen einen unantastbaren Freiraum der Selbstentfaltung einräumt.

Das zweite Prinzip wendet sich sowohl gegen Marxisten und Sozialistinnen als auch gegen orthodoxe Liberale. Im Gegensatz zu einem schlichten Egalitarismus werden Ungleichheiten, die sich aus Unterschieden der natürlichen und sozialen Startbedingungen und eigenen Leistungen ergeben, nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Sozialen Neid hält Rawls für unvernünftig (ebd., §§ 80–81). Jedoch sind Ungleichheiten nicht im Bereich der Grundfreiheiten, sondern lediglich im wirtschaftlichen und sozialen Raum erlaubt. Selbst dort sind sie bloß unter zwei einschränkenden Bedingungen legitim. Einerseits muss für alle Chancengleichheit bestehen. Andererseits müssen sich die Ungleichheiten zum Vorteil aller Beteiligten auswirken. Genauer müssen gemäß dem sogenannten Differenzprinzip die Menschen, die mit den geringsten natürlichen Fähigkeiten und Begabungen sowie unter den ungünstigsten sozialen Bedingungen auf die Welt kommen, besser dastehen als in jeder anderen Gesellschaftsordnung, auch wenn die andere Ordnung geringere Ungleichheiten zulassen sollte.

Beide Prinzipien gelten nicht als gleichrangig. Dem ersten kommt vielmehr der absolute Vorrang zu: Für diese Rangfolge gilt laut Rawls der Gedanke der lexikalischen Ordnung. Danach genießt das erste Gerechtigkeitsprinzip, das der Freiheit, den absoluten Vorrang vor dem zweiten.

Zum ersten Prinzip, dem der gleichen Freiheit, gehören sowohl die liberalen Freiheitsrechte als auch die demokratischen Mitwirkungsrechte. Auf diese Weise verbindet Rawls beide abendländischen Freiheitstraditionen, die ‚Freiheiten der Moderne‘, die wesentlich Abwehrrechte gegen die Staatsgewalt sind, mit den demokratischen ‚Freiheiten der Alten‘, also mit der für eine griechische Polis charakteristischen Herrschaftsordnung freier und gleicher Bürger.

Von Rawls beiden Prinzipien sind der erste Grundsatz – er entspricht Kants Prinzip der allgemein verträglichen Freiheit aus der Rechtslehre – und der zweite Teil des zweiten Grundsatzes philosophisch und politisch seit langem anerkannt. Anders sieht es beim ersten Teil des zweiten Grundsatzes, dem Unterschiedsprinzip (difference principle), aus. Die in Rawls’ hier einschlägigem Ausgleichsprinzip (ebd., § 17, vorher schon §§ 3) liegende egalitäre Forderung, unverdiente Ungleichheiten zu kompensieren, mag politisch willkommen sein, rundum überzeugend ist sie nicht. Die letzte Grundlage der Fairness-Konzeption, die wechselseitige Anerkennung als freier und gleicher Bürgerin (vgl. ebd., § 3), ist jedenfalls auch ohne das Ausgleichsprinzip und das sich anschließende Unterschiedsprinzip vorstellbar. Infolgedessen drängt sich diese Rückfrage auf: Ist das egalisierende Ausgleichprinzip tatsächlich eine Gerechtigkeitsforderung, oder hat es nicht eine andere Rechtfertigungsgrundlage, etwa die einer christlichen Caritas, säkularisiert zu einer Brüderlichkeit bzw. Solidarität?

Zwei Defizite fallen in Rawls’ Liste der gesellschaftlichen Grundgüter auf. Es fehlen sowohl: positionelle Güter (‚wo steht man auf der Leiter des wirtschaftlichen, beruflichen, sozialen … Erfolgs?‘) und jene wahrhaft kollektiven Güter, die dem betreffenden Gemeinwesen als Ganzem zukommen, beispielsweise der Wert einer Währung oder die äußere Sicherheit eines Landes.

FormalPara Nutzenkalkulation und Überlegungsgleichgewicht

Methodisch bedient sich Rawls’ Begründung der Gerechtigkeitsgrundsätze zweier Verfahren. Zum einen greift sie auf die Argumentationsstrategie der im Schnittfeld von Philosophie, Mathematik und Ökonomie entstandenen Großfamilie von Theorien rationaler Wahl bzw. rationaler Entscheidung zurück. Zum anderen führt sie den Gedanken eines Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium) ein.

Nach dem ersten Verfahren, das politik- und wirtschaftswissenschaftlich so einflussreichen Theorien wie die Spieltheorie und die Wohlfahrtsökonomie einschließt, sollen Entscheidungen weder willkürlich noch emotional oder rein gewohnheitsmäßig, sondern in dem Sinn rational getroffen werden, dass man angesichts gegebener Ziele oder Vorlieben jene Mittel und Wege berechnet, die den maximalen Erfolg versprechen. Die Entscheidungstheorie besteht in einem Verfahren der Nutzenkalkulation.

In ihrem Rahmen wird die als Gefangenendilemma bezeichnete Rationalitätsfalle viel diskutiert. Sie besagt, dass in Konkurrenzsituationen die Grundhaltung der nutzenmaximierenden Rationalität, das aufgeklärte Selbstinteresse, so lange sich selbst behindert, wie es nicht durch äußere Faktoren wie etwa das Recht oder die Moral zu einer wechselseitigen Kooperation mit anderen motiviert wird.

Mit Hilfe der Entscheidungstheorien versucht nun Rawls ein klassisches Argumentationsmuster der politischen Philosophie, der Theorie des Gesellschaftsvertrages, bei ihm von Rousseau und Kant, gründlicher als bisher auszuarbeiten. Auf den ersten Blick scheint der Versuch zu scheitern. Denn nach dem Grundgedanken der rationalen Wahl sucht man das Gegenteil von Gerechtigkeit, eine Maximierung des Selbstinteresses. In Rawls’ Gesellschaftsvertrag werden zwar keine persönlichen Vorlieben, sondern Grundsätze einer Gesellschaft gewählt. Aus der zuständigen Liste alternativer Möglichkeiten wählt man jedoch diejenige, die den größten Nutzen für sich verspricht. Auf diese Weise wird die traditionelle Rechtfertigung von Gerechtigkeitsgrundsätzen, wie Rawls selber erklärt, durch eine Klugheitswahl ersetzt: „The aim ist to replace moral judgments by those of rational prudence“ (Rawls 1971, 94, im Deutschen freilich gestrichen). Diese findet allerdings unter einer speziellen Bedingung statt, unter dem der abendländischen Bildtradition, deren Darstellungen der Justitia, im Prinzip schon bekannten Kunstbegriff. Ihm zufolge besitzen die die Klugheitswahl vornehmenden Individuen keinerlei Kenntnisse ihrer Individualität, weder ihrer eigenen Lage und Fähigkeiten – sind sie reich oder arm, Genies oder Normalsterbliche? – noch der historisch gegebenen Gesellschaftsform: Leben sie in einer Jäger- einer Agrar- oder einer Industriegesellschaft.

Die Subjekte des Selbstinteresses sind also keine wirklichen Individuen, die ihr Selbstinteresse verfolgen können. Es sind vielmehr Selbste, denen jedes Selbstsein fehlt. Sie sind schlechthin allgemeine Subjekte, so dass man auf den Plural verzichten kann: Das streng selbstlose Selbst, dass die Wahl vornimmt, ist ein einziges. Infolgedessen entfalten all die Schwierigkeiten, die sich in der Entscheidungstheorie bei Mehrpersonenspielen auftun. Insbesondere taucht die genannte Rationalitätsfalle, das Gefangenendilemma, nicht auf. Vielmehr entscheidet man sich notgedrungen unparteiisch, insofern gerecht.

Der Fairness-Gedanke allein genügt allerdings nicht, um die genaue Entscheidungsregel festzulegen. Stattdessen taucht ein ernstes Problem auf. Für die Entscheidung unter Sicherheit gibt es ebenso wie für die unter Risiko eine einzige Entscheidungsregel. Sie lautet dort: ‚maximiere deinen Nutzen‘, hier ‚maximiere deine Nutzenerwartungen‘. Für die Entscheidung unter Unsicherheit hingegen erscheine verschiedene Kriterien als rational vertretbar. Prominent sind die risikovermeidende Maximin-Regel, nach der man selbst in der schlechtest denkbaren Situation noch möglichst gut dastehen will, die risikobereite Maximax-Regel (maximiere die maximale, also bestmögliche Situation) und die Regel des geringsten Bedauerns.

Wegen dieser Vielzahl von Entscheidungskriterien ist Rawls’ Entscheidung – sie betrifft den ersten Teil seines zweiten Prinzips – rein entscheidungstheoretisch gesehen unterbestimmt. Nach Rawls’ Votum für die Maximin-Regel soll man, als ob man gegen eine diabolische Natur spiele, sich für eine Gesellschaftsordnung entscheiden, in der man auch dann noch große Vorteile erwarten kann, wenn man von seinem Feind am Boden der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hierarchie platziert wird. Dieses Votum ist aber weder rational abgeleitet noch rundum plausibel. Zwar überzeugt beim zuständigen Gerechtigkeitsprinzip, dass jeder Mensch ein ökonomisches und soziales Existenzminimum garantiert sehen will. Dass dieses Minimum zu maximieren ist, wird aber ohne die empirische Ausnahme einer pessimistischen Welteinstellung, ohne die Befürchtung, eher am Boden als an der Spitze der Gesellschaftshierarchie zu leben, nicht einsichtig.

Rawls scheint ein weiteres Problem zu haben. Offensichtlich präjudizieren die Bedingungen der Wahlsituation die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze. Da die Bedingungen nicht ihrerseits aus einer rationalen Wahl abgeleitet werden, erscheint die Verfassungswahl zunächst als letztlich willkürlich. Solange die Prämissen der Gerechtigkeitsbegründung nicht ihrerseits begründet werden, ist die Begründung trotz aller Rationalität im Detail als ganze irrational.

Rawls entgeht diesem fatalen Dilemma aufgrund seiner zweiten Methode. Zwar erklärt er: „Man sollte nach einer Art moralischer Geometrie mit der ganzen Strenge streben, die dieser Ausdruck andeutet“ (Rawls 1975, 143). Diese Forderung löst er jedoch nur für die Wahl-Ebene, nicht auch für die Meta-Ebene ein. Sie betrifft allein die Durchführung der Wahl, nicht die Definition der Wahl-Situation und ihrer Kriterien. Rawls geht nämlich von einer normativ bestimmten Lebenswelt, genauer: von einem primären Wissen über sie, den alltäglichen, aber schon wohlüberlegten (well-considered) Vorstellungen über Gerechtigkeit, aus. Zu ihnen sucht er mittels Abstraktion jene inhaltsärmeren Grundsätze auf, die genau deshalb auf breitere Zustimmung rechnen können. Daraus werden im Rahmen des Urzustandes Gerechtigkeitsgrundsätze abgeleitet, die, methodisch dem Rang von wissenschaftlichen Hypothesen ähnlich, mit dem in der Gesellschaft zu findenden Minimalkonsens über Gerechtigkeit verglichen und gegebenenfalls nach Maßgabe dieser Wirklichkeit verändert werden. Auf dem Weg dieser Rückkoppelung gewinnt man schließlich einen widerspruchsfreien Zusammenhang, eben das Überlegungsgleichgewicht.

Rawls legt für sein Thema, die Gerechtigkeit, eine Theorie der inneren Übereinstimmung, eine Kohärenztheorie, vor. Da er hinsichtlich seines Ausgangs, den wohlüberlegten Gerechtigkeitsgrundsätzen, eine gemeinsame Schnittmenge voraussetzt, läuft seine Theorie zusätzlich auf eine Konsenstheorie hinaus. Weil schließlich die Grundsätze dann als richtig gelten, wenn sie mit gewissen wohlüberlegten Urteilen übereinstimmen, liegt dem Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit als drittes hinsichtlich der Gerechtigkeit eine Korrespondenztheorie zugrunde.

Für die Frage, mit welchen Urteilen die schließlichen Gerechtigkeitsprinzipien übereinstimmen sollen, kann Rawls allerdings keine streng rational begründete Antwort geben. Aus diesem Grund ist Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit bei aller Wissenschaftlichkeit ein persönliches Buch. Es zeigt nicht nur, welche Lernprozesse – mit der US-Verfassung im Gepäck – rational vertretbar sind, sondern darüber hinaus, dies namentlich beim Unterschiedsprinzip, in welche Richtung Rawls’ eigene Lernprozesse verlaufen sind.

FormalPara Gesellschaftsvertrag à la Kant?

In Rawls’ entscheidungstheoretisch neuformulierten Vertragstheorie gilt eine Entscheidung dann als rational, wenn sie aus einer gegebenen Liste alternativer Handlungsmöglichkeiten jene auswählt, die den größten Nutzen verspricht. Rawls schlägt nun fünf Haupt-Ansätze mit insgesamt 15 Wahlmöglichkeiten vor. Außer seinen eigenen Gerechtigkeitsprinzipien erörtert er insbesondere zwei Arten von Utilitarismus und verschiedene Varianten von intuitionistischen sowie egoistischen Ansichten (Rawls 1975, 146 f.). Weil er von einer solchen Liste keine Vollständigkeit behaupten kann, erklärt Rawls seine Prinzipien nicht für absolut, aber für eher richtig (ebd., 630 f.).

Die zweifellos außergewöhnlichen Bedingungen, unter denen die rationale Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien stattfindet, fasst Rawls unter dem Begriff des Urzustandes (original position) zusammen. Dieser Begriff lässt an den aus der Vertragstheorie bekannten Naturzustand denken. Dies trifft Rawls’ Gedanken, obwohl der Autor von Vertragstheorie spricht, nicht.

Die Vertragstheorie wird nach schon älteren, namentlich antiken Ansätzen in der Aufklärungsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts insbesondere von Althusius und Hobbes, von Pufendorf, Locke und Rousseau in Einzelheiten entwickelt und von Kant in ihrem methodischen Status geklärt. Ihr kommt es zwar wie Rawls auf politische Gerechtigkeit an, dies jedoch im Sinne einer Rechtfertigung von Recht und Staat, wobei die Legitimation von deren Zwangsbefugnis wichtig, häufig sogar entscheidend ist.

Dieser Gesellschaftsvertrag, ein Gedankenexperiment zugunsten einer zwangsbefugten politischen Gemeinschaft, setzt sich aus drei Elementen zusammen (hier in den Bestimmungen von Rawls’ Vorbild, Kant): (1) In dem als Naturzustand bezeichneten Zusammenleben ohne Recht und Staat herrscht eine latente wechselseitige Feindseligkeit, die zu „wilde[r] Gewalt“ berechtigt (MS AA VI, 307). (2) Da dieser Zustand für jeden von Nachteil ist, liegt es im aufgeklärten Selbstinteresse auf das dafür verantwortliche Recht auf unbegrenzte Freiheit zu verzichten, also den Naturzustand aufzugeben und (3) in einen Rechtszustand einzutreten (ebd.).

Rawls’ Berufung auf die Vertragstheorie vor allem nach Kants Vorbild ist nicht unproblematisch. Als erstes findet eine „ausdrückliche vertragstheoretische Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien gar nicht statt“. In seinem Urzustand (original position) spielt die Haupteigenschaft des Naturzustandes, der latente Krieg, keine Rolle. Infolgedessen muss der Urzustand auch nicht überwunden werden. Er besteht vielmehr in jener unter dem Schleicher des Nichtwissens stattfindenden Wahl von Gerechtigkeitsprinzipen, die dank des schon hier wirksamen Gerechtigkeitssinnes notwendig zu Grundsätzen der Gerechtigkeit führen. Für Rawls’ Begründung ist der im Schleier des Nichtwissens schon mitgesetzte Gerechtigkeitssinn entscheidend.

Aus diesem Grund – kein latenter Krieg, dafür ein Gerechtigkeitssinn – fehlt Rawls, worin ein zweites Bedenken gegen seine Berufung auf eine Vertragstheorie besteht, die für Kant unverzichtbare, bei ihm sogar analytische Verbindung des normativen Rechtsbegriffs bzw. der politischen Gerechtigkeit mit einer Zwangsbefugnis. Rawls legt aus zwei Gründen auf sie keinen besonderen Wert. Zum einen hält er seine Gerechtigkeitsgrundsätze für kategorische Imperative im Sinne Kants. Diese verbinden sich aber nicht mit einer Zwangsbefugnis. Zum anderen setzt er für seine Gerechtigkeit als Fairness von Anfang an schon einen Gerechtigkeitssinn voraus. Daraus folgt diese Zwischenbilanz: Statt wirklich vertragstheoretisch zu argumentieren, bedient sich die Eine Theorie der Gerechtigkeit nur der beiden genannten Methoden, der Nutzenkalkulation und des Überlegungsgleichgewichts.

FormalPara Vier-Stufen-Gang

Der zweite Teil der Theorie der Gerechtigkeit erörtert Institutionen, die sich aus ihnen ergebende Grundstruktur einer konstitutionellen Demokratie und die hier einschlägigen Pflichten und Verpflichtungen. Im Kapitel zur „gleichen Freiheit für alle“ führt er den Vier-Stufen-Gang ein (Rawls 1975, § 31). Rawls, sieht ihn „durch die Verfassung der Vereinigten Staaten und ihre Geschichte nahegelegt“ (ebd., 224 FN). Er betont allerdings, dass sein Vier-Stufen-Gang, „zur Theorie der Moral und nicht zur Analyse wirklicher Institutionen“ gehört (ebd., 225 FN; vgl. 229).

Auf Rawls’ erster Stufe werden die Gerechtigkeitsgrundsätze festgelegt. Auf der zweiten Stufe kommen die Vertragsparteien „zu einer verfassungsgebenden Versammlung“ zusammen, für die der Schleier des Nichtwissens „teilweise gelüftet wird“ (ebd., § 24). Die Einzelpersonen haben weiterhin kein Wissen über „ihre gesellschaftliche Stellung, ihre natürlichen Gaben und ihre Vorstellung von ihrem Wohl. Doch sie verstehen die Grundsätze der Sozialwissenschaft und kennen jetzt auch die wesentlichen allgemeinen Tatsachen über ihre Gesellschaft“ (ebd.). Auf dieser Grundlage wählen sie „die gangbarste gerechte Verfassung“ (ebd.), wobei das Prinzip der gleichen Freiheit für alle den Hauptgrundsatz bildet.

Auf der nächsten Stufe, der Gesetzgebung und politischen Programme, kommt Rawls’ zweiter Gerechtigkeitsgrundsatz zum Zuge. „Er verlangt von der Sozial- und Wirtschaftspolitik die Maximierung der am wenigsten Bevorzugten unter den Bedingungen der fairen Chancengleichheit, wobei die gleichen Freiheiten für alle gewahrt bleiben müssen“ (ebd., 224–228). Auf der vierten und letzten Stufe schließlich werden die Regeln durch die Verwaltung und die Justiz auf Einzelfälle angewendet und von den Bürger*innen befolgt. Hier sind die Kenntnisse nicht mehr beschränkt (ebd.).

FormalPara Staatsbürgerlicher Ungehorsam

Rawls entwirft zwar ein Strukturmuster der Anwendung seiner Gerechtigkeitsprinzipien, den skizzierten Vier-Stufen-Gang. Er begnügt sich aber hier im Wesentlichen mit einer Grundlagendiskussion und lässt sich auf konkrete Anwendungsfragen kaum ein. Man vermisst beispielsweise die Themen der Entwicklungshilfe und des Umweltschutzes sowie der humanitären Intervention. Vielleicht hatten sie in den Jahren, in denen Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, noch nicht das spätere Gewicht. In The Law of Peoples (1999; dt. Das Recht der Völker, 2002) jedenfalls wird Rawls diese Themen aufgreifen. Immerhin zählt er schon hier die seiner Ansicht nach wichtigsten Themen des politischen Lebens, die allerdings nur zu einer ‚nichtidealen Theorie‘ gehörten: „die Theorie der Strafe und der ausgleichenden Gerechtigkeit, des gerechten Krieges und der Kriegsdienstverweigerung, des zivilen Ungehorsams und des militanten Widerstands“ (Rawls 1975, 387). Hinzu kommt im zweiten Kap. 5 (Die Verteilung), recht ausführliche Überlegungen zur Gerechtigkeit gegen künftige Generationen (ebd., §§ 44–46).

Ein größeres Gewicht erhält jedoch die Frage, die der im Februar 1965 begonnene Vietnamkrieg der USA mehr und mehr dringlich machte: Müssen Bürgerinnen jeden von ihrer Legislative rechtmäßig erlassenen Gesetze gehorchen? Im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie hält er als erstes zwei einander entgegengesetzte Ansichten für falsch: Weder ist die Ungerechtigkeit eines Gesetzes „ein hinreichender Grund, sich nicht an es zu halten“, noch ein formal gültiges Gesetzgebungsverfahren „ein hinreichender Grund […] sich an das Gesetz zu halten“ (ebd., 387). Danach erklärt er zur duty of civility, zur Pflicht eines (guten) Staatsbürgers, „die Fehler der Institutionen in vernünftigen Umfang hinzunehmen und nicht ungehemmt ausnützen“ (ebd., 392). Er verbietet also erneut zwei konträre Haltungen, sowohl den leichtfertigen Ungehorsam als auch das schamlose Ausnutzen von Schlupfwinkeln.

Erst danach folgt seine achtteilige Definition des zivilen Ungehorsams, wobei der englische Ausdruck civil disobedience sachgerechter mit staatsbürgerlichem Ungehorsam zu übersetzen ist, da der Ausdruck civil nicht auf den Gegensatz zu militärisch anspielt, sondern auf die civil society, das politische Gemeinwesen, den Staat.

Laut Rawls’ Definition geht es um eine „[a] öffentliche, [b] gewaltlose, [c] gewissensbestimmte, [d] politische, [e] gesetzwidrige Handlung, die [f] gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeirufen soll“, sich damit „[g] an den Gerechtigkeitssinn der Gesellschaft“ wendet „und [h] erklärt, nach eigener wohlüberlegter Ansicht seien die Grundsätze der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zwischen freien und gleichen Bürgern nicht beachtet worden“ (ebd., 401).

Die beiden ersten Bedingungen hält Rawls für das erforderliche „Unterpfand der Aufrichtigkeit“ (ebd. 403 f.). Mit dem vorletzten Definitionselement unterscheide sich der staatsbürgerliche Ungehorsam von der „Weigerung aus Gewissensgründen“, dem der „Appell an den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit“ fehle (ebd. 406). Weil „die Verletzungen des Unterschiedsprinzips schwerer festzustellen“ sind, sind sie als Gegenstand des staatsbürgerlichen Ungehorsams weniger geeignet als „die Verletzung des Prinzips der gleichen Freiheit“ (ebd. 410).

Das letzte Element macht schließlich klar, worauf Rawls großen Wert legt: Der staatsbürgerliche Ungehorsam, den er erörtert, bezieht sich auf die konstitutionelle, also verfassungsstaatliche Demokratie. Weil es sich um einen zwar gesetzwidrigen, aber doch gewissermaßen verfassungsinternen Protest handelt (ebd. 424), sollten Gerichte „die Strafe senken und in einigen Fällen darauf verzichten“ (ebd. 425).

FormalPara Der Gerechtigkeitssinn

Mit der Theorie des staatsbürgerlichen Ungehorsams kann Rawls’ Werk nicht schließen, da noch Fragen der Stabilität zu klären und der Wert des Gutes der Gerechtigkeit noch zu analysieren sind. Diesen Aufgaben widmet er sich in Teil III (Ziele). Besonders eindrucksvoll sind die unter dem Stichwort ‚Gerechtigkeitssinn‘ (sense of justice) entwickelten Überlegungen zur Moralpsychologie (Kap. 8). Zusammen mit dem Schlusskapitel 9 (Das Gut der Gerechtigkeit) sollen sie die Stabilität eines durch Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipen bestimmten Gemeinwesens aufzeigen: Weil in einer durch Rawls’ Begriff der Fairness geprägten, zudem wohlgeordneten Gesellschaft „das Gerechte und das Gute in einem zu definierenden Sinn kongruent“ (ebd., 433) sind, also miteinander übereinstimmen, ist ein Auseinanderfallen der entsprechenden Gesellschaft nicht zu befürchten.

Diese Erwartung könnte man als hoffnungslos optimistisch abtun wollen. Wer auf die Herausforderungen schaut, mit denen die demokratischen Rechtsstaaten in den letzten Jahren und Jahrzehnten konfrontiert worden sind, darf oder muss dieses feststellen: Den Staaten ist, setzt man einmal Feinkritik beiseite, recht gut gelungen, die Herausforderungen zu bewältigen. Infolgedessen darf man Rawls’ theoretisch begründete Erwartung, einem gelegentlich aufkeimenden Pessimismus zum Trotz, für wirklichkeitsgerecht halten.

Als wohlgeordnet bezeichnet Rawls eine Gesellschaft, „die auf das Wohl ihrer Mitglieder abzielt, und in der [– in dessen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Institutionen –] eine öffentliche Gerechtigkeitsvorstellung maßgeblich wirksam ist“ (ebd., 493). Das zuständige Gemeinwesen ist für Rawls ein selbstständiger Nationalstaat (self-contained national community).

Rawls kennt nun zum objektiven Gerechtigkeitsbegriff, den er in der Eine Theorie der Gerechtigkeit vornehmlich behandelt, als subjektive Entsprechung den Gerechtigkeitssinn. Darunter darf man allerdings nicht die aus der moralphilosophischen Tradition bekannte Tugend der Gerechtigkeit verstehen. Rawls kommt es nicht auf eine durch fortgesetztes Einüben gerechten Handelns erworbene Grundhaltung, obwohl er, hier unter Berufung auf Rousseau, den Gerechtigkeitssinn als eine durch die Vernunft aufgeklärte Vorstellung des Herzens bestimmt. Er erörtert aber nicht das darin eventuell anklingende Gegenteil einer in der Wirklichkeit praktizierten Tugend, also eine in der politischen Welt folgenlosen Innerlichkeit. Den Gerechtigkeitssinn ordnet er vielmehr einer Moralpsychologie zu, die den Menschen als Rechtssubjekt einer gerechten Gesellschaft rekonstruiert.

Im Vorübergehen kritisiert Rawls einmal mehr den Utilitarismus. Im Gegensatz zu ihm kann man sich laut Rawls nicht wegen seiner Fähigkeit zu Lust und Schmerz, so vor allem Bentham, als uneingeschränktes Rechtssubjekt konstituieren, sondern nur wegen eines Gerechtigkeitssinns. Bei dessen Rekonstruktion nimmt er eine folgenreiche Korrektur an manchen zeitgenössischen Diskussionsbeiträgen zum Schuldgefühl vor, freilich ohne dies zu betonen.

In neueren Debatten dominieren häufig psychoanalytische Betrachtungsweisen. Diese neigen dazu, Schuldgefühle als infantile Residuen oder als Zeichen misslungener Sozialisation zu interpretieren. So sehr es gestörte Entwicklungsprozesse gibt und die durch sie entstehenden Schuldgefühle negativ zu bewerten sind, darf man diese Art nicht verabsolutieren und dann global alle Schuldgefühle disqualifizieren. Ohne Zweifel sind zwanghaft krankhafte, neurotische Schuldgefühle kein Ideal einer humanen Entwicklung. Denn sie verringern den Verantwortungs- und Freiheitsraum des Menschen und machen ihn anpassungsfähig an jede Art, auch an ungerechte Gesellschaften. Die Schuldgefühle, um die es Rawls geht, sind dagegen ein Zeichen von Freiheit, das Zeichen einer zurechnungsfähigen, moralischen Person.

Die Empfänglichkeit für die den entsprechenden, moralisch relevanten Schuldgefühlen entspringen, so Rawls, aus Verhältnissen der Gegenseitigkeit, des Vertrauens, der Liebe und der Freundschaft. Sie gehen also auf gelungene Kommunikationsbeziehungen zurück. Da sie auf wechselseitiger Anerkennung beruhen, stehen sie in Gegensatz zu Bindungen bloß aus Eigeninteresse und aus Gründen der Zweckdienlichkeit.

Rawls unterscheidet nun drei Arten positiver Beziehungen, die drei Stufen im Entwicklungsprozess des Menschen und zugleich drei Stufen zunehmender Abstraktion bzw. abnehmender Unmittelbarkeit entsprechen: Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen Teilnehmerinnen an Gemeinschaftsvorhaben und Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft.

Die erste, autoritätsorientierte Moralität besteht „zum großen Teil aus einer Sammlung von Vorschriften“ und aus einer „Autoritätsperson, der Liebe und Vertrauen entgegengebracht wird“ (ebd., 507). Kennzeichen der zweiten, komplizierteren gruppenorientierten Moralität sind ein Gemeinschaftsgefühl und ein gegenseitiges Vertrauen, wobei sich die Mitglieder der Gemeinschaft „einander als Gleiche, Freunde und Genossen betrachten“, die „Gerechtigkeit und Fairness, Treu und Glauben, Integrität und Unparteilichkeit“ für Tugenden, „Habgier, Unfairness, Unehrlichkeit und Betrug, Vorurteil und Parteilichkeit“ hingegen, „für Untugenden halten“ (ebd., 512 f.).

Die dritte und höchste Entwicklungsstufe, die einer grundsatzorientierten Moralität, schließlich ist von Grundsätzen bestimmt, an deren Kenntnis die mittlere Stufe „ganz natürlich“ herausführt (ebd., 514). Die hier einschlägige Haltung, der Gerechtigkeitssinn, ist, bereit, „an der Errichtung gerechter Institutionen mitzuwirken (oder sich ihr jedenfalls nicht zu widersetzen)“ (ebd., 515).

Die Schuldgefühle, auf die es nun ankommt, entstehen Rawls zufolge, wenn man Beziehungen der Gegenseitigkeit verletzt und sich der Verletzung bewusst wird. Wer den Menschen die Empfänglichkeit dafür nehmen wollte, müsste ihnen sowohl Beziehungen wahrhaft kommunikativer Natur als auch das Bewusstsein rauben, für die kommunikative Qualität solcher Beziehungen mitverantwortlich zu sein. Er würde den Menschen als genuin moralische Persönlichkeit zerstören, die an seine Sprach- und Vernunftfähigkeit zurückgebunden ist.

Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit wäre kein so überragendes Werk, wenn sie nicht immer wieder auf Grenzen hinweisen würde. So lässt sie, damit schließt Rawls das Kap. 8, „nicht nur viele Seiten der Moralität außer acht, sondern fragt auch nicht nach dem richtigen Verhalten gegenüber Tieren und der übrigen Natur. […] Sicher ist es falsch, Tiere grausam zu behandeln, und die Ausrottung einer ganzen Art kann ein großes Übel sein. Die Fähigkeit der Tiere zu Lust und Schmerz in ihren Lebensformen führen eindeutig zur Pflicht des Mitleids und der Menschlichkeit ihnen gegenüber“. Für Rawls gehören „diese wohlüberlegten Auffassungen“ aber „nicht zur Gerechtigkeitstheorie […]. Eine richtige Vorstellung von unseren Beziehungen zu den Tieren und der Natur dürfte eine Theorie der natürlichen Ordnung und unserer Stellung in ihr erfordern. Es ist eine der Aufgaben der Metaphysik, eine Weltauffassung zu entwickeln, die diese Aufgabe erfüllt. […] Wie weit die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness abgeändert werden müsste, um in diese umfassendere Theorie hineinzupassen, lässt sich nicht sagen. Doch die Hoffnung scheint nicht unberechtigt, dass sie, sofern sie als Analyse der Gerechtigkeit zwischen Menschen vernünftig ist, nicht allzu abwegig sein kann, wenn diese umfassenden Beziehungen berücksichtigt werden“ (ebd., 556).

Gegen Ende des Kap. 9 zieht Rawls eine kappe Bilanz: „Man kann erstens sagen, in einer wohlgeordneten Gesellschaft sei es tatsächlich gut für einen Menschen, ein guter Mensch zu sein (und insbesondere einen wirksamen Gerechtigkeitssinn zu haben); und zweitens ist diese Art von Gesellschaft eine gute Gesellschaft“ (ebd., 626).

Noch eine Schlussbemerkung zur Methode: Rawls nimmt an, eine wissenschaftliche, philosophische Theorie verhalte sich zu den Alltagsurteilen über Gerechtigkeit wie die Linguistik zum alltäglichen Sprechen. Eventuell hier von Sprachwissenschaftlern wie Noam Chomsky beeinflusst, glaubt er, wie man seinen vorwissenschaftlichen Sinn für grammatikalische Richtigkeit durch eine wissenschaftliche Grammatik verbessern könne, so den Sinn für Gerechtigkeit durch eine philosophische Theorie (ebd., § 3). Diese Analogie trifft aber nur begrenzt zu. Das, worüber sich einheimische Sprecher einig sind, macht tatsächlich die deutsche und die englische […] Umgangssprache aus, was als gerecht beurteilt wird, hingegen ist auch bei einem überwältigenden Konsens nicht deshalb schon wirklich gerecht:

Während es sinnlos ist, grammatische Regeln, die praktiziert werden, einen Ideologieverdacht auszusetzen und eine vom Bestehenden stark abweichende, normative Syntax zu entwerfen, kann es nämlich, wie Platon in seinem Dialog Politeia, vorführt, durchaus sinnvoll sein, gegen kollektiv gültige Gerechtigkeitsansichten einen Ideologieverdacht zu äußern, sie also nicht für ein letztgültiges Kriterium zu halten. Sie können es allerdings dann, aber auch nur dann sein, wenn zutrifft, worauf Rawls sich berufen kann, wenn man nämlich von Überzeugungen ausgeht, die im Wesentlichen schon gerecht sind. Womit aber lässt sich das begründen? Dem hermeneutischen Zirkel kann Rawls mit seiner Methode des Überlegungsgleichgewichts nicht entrinnen; sie bleibt für sie grundsätzlich unüberwindbar.