Diese Berliner Krankenschwester ist die Pflegerin des Jahres

Diese Berliner Krankenschwester ist die Pflegerin des Jahres

Stefanie Gierth betreut am Kreuzberger Urban-Krankenhaus angeworbene Pflegekräfte aus dem Ausland. Eine etwas andere Geschichte aus dem deutschen Gesundheitswesen.

Stefanie Gierth arbeitet am Urban-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg. Am Samstag wird sie zur Pflegerin des Jahres gekürt.
Stefanie Gierth arbeitet am Urban-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg. Am Samstag wird sie zur Pflegerin des Jahres gekürt.Emmanuele Contini

Auf einmal erhob sich jemand von den Decken, die sie auf einer der Wiesen in den Gärten der Welt ausgelegt hatten. Es war einer der Tunesier, die künftig im Urban-Krankenhaus als Pflegefachkräfte anfangen sollen. Der junge Mann stimmte ein Lied an, ein traditionelles Hochzeitslied seiner Heimat. Andere sangen mit, alle standen auf, tanzten irgendwann. Passanten blieben irritiert stehen. Doch als Stefanie Gierth auf sie zuging, erklärte, was es mit der spontanen Feier auf sich hatte, wichen die versteinerten Mienen einem Lächeln.

Stefanie Gierth erzählt von jenem Nachmittag neulich in Marzahn, als alle angeworbenen künftigen Pflegekräfte des Berliner Vivantes-Konzerns zu einem Picknick zusammengekommen waren. Sie sitzt in ihrem Büro im sechsten Stock des Klinikums an ihrem Schreibtisch. Durch das Fenster ist der Osten der Stadt zu sehen, der Fernsehturm, das Zentrum. Irgendwo da draußen leben Menschen, die ein gesundheitliches Problem haben, die auf medizinische Hilfe angewiesen sind.

Guten Morgen, Berlin Newsletter
Vielen Dank für Ihre Anmeldung.
Sie erhalten eine Bestätigung per E-Mail.

Gierth schildert die Episode, weil sie zeigt, worauf es in ihren Beruf ankommt: Empathie und Mitgefühl. Die 52 Jahre alte Berlinerin ist Integrationsbeauftragte am Urban-Krankenhaus. Sie sagt: „Integration bedeutet, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.“ Das also zu tun, was die Passanten nach anfänglicher Skepsis gegenüber den Tanzenden schließlich taten.

An diesem Samstag wird Stefanie Gierth als „Pflegerin des Jahres“ geehrt. In Baden-Baden erhält sie den Preis, der mit 5000 Euro dotiert ist und seit acht Jahren von einem Pflegedienstleister ausgelobt wird. Mehr als 1000 Beschäftigte der Branche aus dem gesamten Bundesgebiet haben diesmal an dem Wettbewerb teilgenommen. Das Motto: „Herz & Mut.“ Stefanie Gierth hat die Jury überzeugt. „Bis heute begreife ich nicht so recht, was da passiert.“

Die Bedeutung der Pflege soll die Auszeichnung in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken, das haben sich die Organisatoren zum Ziel gesetzt. Insofern ist Gierth eine passende Wahl. Denn in ihrem Job an der Kreuzberger Klinik geht es um die Zukunft der Pflege – Konzepte sind gefragt. Das Statistische Bundesamt erwartet, dass bis 2049 im Vergleich zu 2019 der Bedarf an Beschäftigten in der Kranken- und Altenpflege um ein Drittel auf 2,15 Millionen steigt.

Bis zu 690.000 Vollzeitstellen könnten dann nicht besetzt sein. Es gibt etliche solcher Prognosen, je nach Grundlage der Berechnungen weichen die Zahlen voneinander ab, doch die Tendenz bleibt stets gleich: Wenn sich nichts ändert, haben es immer weniger Pflegekräfte mit immer mehr Pflegebedürftigen zu tun.

Stefanie Gierth hat 1991 ihre Ausbildung abgeschlossen, als die deutsche Krankenhauslandschaft noch anders aussah. Allerdings: „Während der meisten Zeit der 35 Jahre meiner beruflichen Karriere war die Rede vom Personalmangel.“ Es komme auf die Haltung an, sagt sie. „Für mich und meine Seele ist es nicht gut, wenn man immer nur meckert. Ich will nicht meckern, sondern etwas bewegen und besser machen.“ Derzeit, indem sie im Ausland angeworbene Fachkräfte in das deutsche System der Pflege einführt.

Um 20 Anwärter kümmert sie sich, die meisten stammen aus Tunesien. Sie haben studiert und dabei auch ärztliche Tätigkeiten erlernt. In Deutschland soll der Beruf ebenfalls durch akademische Qualifikationen aufgewertet, sollen Kompetenzen neu geordnet werden in einem bisher größtenteils hierarchisch organisierten System. Zunächst betreten die tunesischen Ankömmlinge aber pflegerisches Neuland. „Bei uns lernen sie praktische Tätigkeiten“, sagt Gierth. Dazu gehöre unter anderem, Patienten zu waschen oder Prophylaxe durchzuführen. Parallel besuchen die Aspiranten eine Pflegefachschule. Nach einem halben Jahr erwerben sie die Anerkennung. „Ein Aufenthaltstitel wird dann beantragt. Liegt der vor, können sie als Pflegefachkraft anfangen.“

Die Bundesregierung unterstützt diese Strategie. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) reiste im vergangenen Jahr nach Ghana, in die Elfenbeinküste, nach Brasilien, warb dort um Personal für das deutsche Gesundheitswesen. Allerdings mangelt es nicht nur hierzulande an Fachkräften in diesem Sektor. Die WHO geht von 18 Millionen Beschäftigten aus, die bis 2030 weltweit fehlen, vor allem in Südostasien, im Westpazifik und in Afrika. Kritiker bemängeln daher, dass Deutschland durch Abwerbung sein Problem ins Ausland verlagere, gleichsam exportiere. Außerdem gestalte sich die Eingliederung langwierig, allein schon wegen fehlender Sprachkenntnisse.

Vivantes unterhält ein eigenes Rekrutierungscenter

Sprachliche Barrieren, wie sie bei Personal aus anderen Ländern mitunter zeitaufwendig abgebaut werden müssen, gebe es bei den künftigen Kollegen aus Tunesien kaum, sagt Stefanie Gierth. In dem nordafrikanischen Land wird Arabisch und Französisch gesprochen, die meisten Bewerber am Urban-Krankenhaus beherrschen zudem Englisch – und innerhalb kurzer Zeit Deutsch, wie die Integrationsbeauftragte berichtet.

Vivantes unterhält derweil ein eigenes Rekrutierungscenter. Im vergangenen Jahr hat es knapp 120 ausländische Pflegekräfte angeworben. Sie werden an die Kliniken des landeseigenen Konzerns vermittelt; der betreibt neun Krankenhäuser, 18 Pflegeheime, zwei Seniorenhäuser, ambulante Reha- und Medizinische Versorgungszentren (MVZ). Die jeweiligen Pflegedirektionen verteilen die Neulinge auf Stationen.

An diesem Punkt des Verfahrens tritt Stefanie Gierth in Aktion. Sie holt die Anwärter an deren Wohnungen ab, die meisten kommen in Britz und Buckow unter. Sie entwickelt mit ihnen einen Fahrplan, nach dem die Schulungen laufen sollen. Gierth fragt, wo sie helfen kann, beruflich, aber auch privat. Die meisten sind Mitte 20, haben ihre Familien zurückgelassen in einer Heimat, in der die Familie eine zentrale Rolle spielt.

Stefanie Gierth hat sich intensiv mit Tunesien beschäftigt. So wie sie sich zuvor mit Vietnam beschäftigte, als sie für angeworbene Pflegekräfte aus Asien verantwortlich war. Davor wiederum machte sie hiesige Auszubildende mit der beruflichen Praxis vertraut, wobei sie auf die Erfahrung aus etlichen Jahren als Krankenschwester zurückgreifen konnte. Sie war unter anderem am Brustkrebszentrum des Urban-Klinikums tätig gewesen.

Stefanie Gierth in ihrem Büro im Urban-Krankenhaus.
Stefanie Gierth in ihrem Büro im Urban-Krankenhaus.Emmanuele Contini

Seit anderthalb Jahren steht sie nun ihrem derzeitigen Projekt vor, auf das sie sich akribisch vorbereitet hat. „Irgendwann war ich eine halbe Tunesierin“, sagt sie. „Und sollten wir irgendwann einmal Menschen aus Mexiko rekrutieren, dann bin ich eben eine halbe Mexikanerin.“ Stefanie Gierth lacht.

Das macht sie oft, wenn sie von ihrer Arbeit erzählt. Davon, dass ihre Aufgabe als Integrationsbeauftragte weit mehr ist als nur ein einziger Job: „Ich bin Krankenschwester, Organisatorin, Sozialarbeiterin, Mutter“, sagt sie. „Ich möchte, dass mich die künftigen Mitarbeiter auch anders kennenlernen, in einem anderen Umfeld. Nicht als Krankenschwester oder als Mensch, der ihnen beruflich weiterhilft, sondern auch ein bisschen privat.“ Deshalb veranstaltet sie regelmäßig ein Vielfaltcafé, bei dem alle zusammenkommen und sich austauschen können. Und deshalb waren sie neulich in den Gärten der Welt, bei sommerlichen Temperaturen, als jemand aufstand und sang und am Ende alle tanzten.

Eine solche Szenerie will nicht recht passen zu dem gängigen Bild, das in der Öffentlichkeit vom Gesundheitswesen existiert – nicht zu Unrecht eines von überfüllten Rettungsstellen und erschöpften Beschäftigten. Solche Geschichten erzählen jene, die sie als Patienten oder als Beschäftigte erlebt haben. Sie handeln von Hilflosigkeit und Verzweiflung auf der einen Seite, von Stress, Burnout und dem Ausstieg aus dem Job auf der anderen. Oft jedoch ist in diesen Geschichten auch von einem großen Arbeitsethos die Rede, das in der Branche vorherrscht, unter Ärzten, Pflegekräften, Therapeuten. Ohne diese Grundeinstellung würde das System vielleicht schon nicht mehr funktionieren.

Auf die Haltung kommt es an, das hatte Stefanie Gierth ja gesagt. Sie hat versichert, dass sie sich nach 35 Jahren immer noch keinen besseren Beruf vorstellen könne. Die Kollegin, die sie für die „Pflegerin des Jahres“ vorgeschlagen hatte, formulierte es in ihrem Brief an die Jury so: „Durch ihre positive Einstellung sorgt sie dafür, dass die Zusammenarbeit mit ihr ein kleines Highlight am Tag ist.“

An diesem Samstag erlebt sie nun selbst ein Highlight, die Preisverleihung in Baden-Baden. Eine andere Auszeichnung kommt ohne Festakt aus. Die ersten angeworbenen Pflegekräfte des aktuellen Projekts erhalten ihre Anerkennung. „Und auf eines bin ich sehr stolz“, sagt Stefanie Gierth: „Keine von ihnen will gehen, alle wollen bleiben.“

Sie ist auf dem Weg ins Foyer des Urban-Krankenhauses, zum nächsten Termin, ist in der ersten Etage angekommen, in dem Gang, dessen Fensterfront den Blick auf die Halle im Erdgeschoss freigibt. Eine Pflegekraft schiebt ein Bett vorbei, darin ein schlafender Patient. Sie bleibt stehen, lächelt. Dann umarmen sich beide Frauen, wortlos, als sei es das Normalste der Welt.