Luis Buñuel: Der völlig indiskrete Charme der Filterblase
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Luis Buñuel: Der völlig indiskrete Charme der Filterblase

Im und auf dem Container: eine fidele Runde mit Frankfurter Skyline.
Im und auf dem Container: eine fidele Runde mit Frankfurter Skyline. © Birgit Hupfeld

Das Schauspiel Frankfurt bietet mit Verve und Witz eine Überschreibung des Buñuel-Films „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“.

Nun ist einer der berühmtesten Titel der Filmgeschichte zwar die pure Ironie. Andererseits liegt das Vernichtende von Luis Buñuels „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ auch darin, dass man die Figuren tatsächlich auf unangenehmste Weise wiedererkennt. Bürgerliche Pärchen, liberal, entspannt, gesellig, friedfertig beziehungsweise in ihren Aggressionen recht subtil. Übel wird es, wenn das Thema auf Faschismus oder die unteren Schichten kommt, aber Verbrechertum und Borniertheit sind elegant, nein, wahrlich diskret integriert. Nur wer diesen Leuten für die Dauer von 90 Minuten zuhört, wird fassungslos sein, erstens, und zweitens natürlich verunsichert von ihren surrealistischen Träumen.

Auf der Theaterbühne geht es rustikaler, alberner und eindeutiger zu. Obwohl PeterLicht und Se Struck Buñuels Text in ihrer Bühnenfassung sehr schlau an unsere Tage anpassen – an unsere Tage vor dem Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine –, muss sich niemand (müssen wir uns nicht) fürchten, in einen allzu klaren Spiegel zu schauen. Zwar geht es vom pfeilschnellen Lastenfahrrad über Achtsamkeit im Allgemeinen und Ernährung im Besonderen – in dieser gegenwärtigen Mixtur aus Hedonismus, Schlaffheit und der Suche nach ewigem Leben – bis hin zu fröhlich ventilierten rassistischen und sozialen Stereotypen um die bürgerlichen Standards der modernen westlichen Welt. Aber die Szene ist so grell, dass man dieses Zerrbild ganz schön von sich abstrahieren kann. Die Regisseurin Claudia Bauer (die in Frankfurt 2020 den „Mephisto“ inszeniert hat) gestaltet einen prächtigen Abend mit einem hervorragend aufgelegten Ensemble. Bei allem Gequietsche und Getue ist das ein handwerklich blitzsauberer Spaß.

Erneut macht sich das Schauspiel die Riesenbühne keineswegs hilflos zunutze. Andreas Auerbach hat einen riesigen Container mit Türen und Luken platziert, auf dem Jan Isaak Voges’ Livebilder aus dem Containerinneren bizarr vergrößert sind. Bizarr auch die Kostüme von Vanessa Rust, munterer Mustermix mit nagelneuen, todschicken schneeweißen Turnschuhen. Dazu passt die ausgeklügelte, wie choreografierte Bewegungssprache, in der nichts dem Zufall überlassen wird. Und auch in Frankfurt ist es ein aufdringlich einiges „Wir“, das zunächst (mit den imaginären Urban E-Bikes) um den Container saust, um sich dann zum beifallheischenden Tableau aufzustellen und chorisch das Glück in der eigenen Blase zu deklarieren.

Während es bei Buñuel herkömmliche Abendessenseinladungen sind, die immer wieder irgendwie schiefgehen, trifft man sich auf der Frankfurter Bühne zum gemeinsamen Kochen. Macht unheimlich Spaß, das gemeinsame Schnippeln und Quatschen. Zwar misslingt das auch hier, und selbst die Pizzabestellung – unter anderem mit einer Hildegard-von-Bingen-Calzone, denn die Pizzabäckerei von heute weiß, was das achtsame Publikum will – scheitert am Zusammenbruch des armen, blutüberströmten Boten. Was die fidele Blase wenig bekümmert, bloß die Pizzen, wie traurig, könnten kalt und ungenießbar sein.

Von nichts jedoch lassen sich die fidelen sechs ernstlich entmutigen: Anna Kubin (deren metallische Stimme besonders lange nachklingt), Katharina Linder, Lotte Schubert, Andreas Vögler, Sebastian Kuschmann und Mark Tumba halten hoppelnd, plappernd und gickelnd die Stimmung in überkandidelter Lage. Es ist ein großes Heiteitei, unterhaltsam, etwas anstrengend, schön weit weg, so lange man nicht zu sehr auf den Text achtet. Zur unbemerkten Ödnis dieses Lebens gehören zelebrierte Wiederholungen wie das pompös gestaltete Drücken einer Türklingel. Fridolin Sandmeyer, Philipp Alexej Voigtländer und eine Statistenschar flankieren die eingeschworene Gruppe als ziemlich gemütliche Eindringlinge. Benjamin Lüdtke und Rebekka Waitz führen die Kameras.

Die Übertragung der Film-Handlung ist clever, der Botschafter der lateinamerikanischen Bananen-Republik stammt jetzt aus einem fiktiven arabischen Land, Kuschmann bleibt eine windige Figur, zugleich ist er mit den Plattitüden über die islamische Welt konfrontiert, derer sich auch das aufgeklärte Bürgertum nicht schämt. Die „Terroristinnen“ sind engelspuppenhafte Kinder-Reporter:innen, denn korrekt ist man auch, vielleicht gerade weil man so intensiv und ausschließlich um sich selbst kreist. Vieles aus dem Film lässt sich wiedererkennen und wird dadurch noch wertiger, um in der Sprache der Figuren zu bleiben. Eine perfekte Überschreibung, dabei von ebensolcher Kälte wie das Original.

Der Übergang zu den surrealen Alpträumen ist naturgemäß nicht ganz so wirkungsvoll, wenn alles schon so unwahrscheinlich und durchgeknallt ist. Dafür gelingt im Theater der Theateralpdruck besonders gut – man ist ohne Text auf der Bühne, die Souffleuse (Christine Schneider) muss einem jedes Wort zurufen, wer kennt es nicht. Vögler versinkt aber nicht im Boden, sondern muss irgendwie weitermachen. Eine grandiose Szene, das Publikum für einen Moment selbst ein Teil des Stücks.

Dass Buñuel mit anderthalb Stunden auskam, ermuntert zur Feststellung, dass 120 (pausenlose) Minuten ungefähr eine halbe Stunde zu lang sind. Trotzdem richtig gute Stimmung in einem Haus, in dem man erstmals seit Monaten eine direkte fremde Sitznachbarin hatte. Aufregend.

Schauspiel Frankfurt: 21., 28. März, 8., 9., 16., 22., 23. April. www.schauspielfrankfurt.de

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