Psychiatrienetz: Meyerhoff: Wann wird es
Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war

Joachim Meyerhoff ist ein sehr erfolgreicher Theaterschauspieler. 2007 wurde er zum Schauspieler des Jahres gewählt. Während seines Engagements am Wiener Burgtheater hat Meyerhoff Soloabende erarbeitet, in denen er in einer Art Erzählperformance über seine Biografie und Familie berichtete. Vor einigen Jahren wurde Meyerhoff zum Theatertreffen in Berlin eingeladen. Zu erleben war ein magischer Abend, an dem dieser hagere und jungenhafte Mime sechs Stunden lang Geschichten aus seinem Leben zelebrierte und ein ganzer Saal an seinen Lippen hing.

In einer psychiatrischen Anstalt aufgewachsen

Besonders in Erinnerung blieb mir, wie Meyerhoff auf einem großen Papier den Lageplan der psychiatrischen Anstalt skizzierte, in der er aufgewachsen ist. Er schilderte, dass die Anstaltsgebäude durchbuchstabiert waren. In den dreistöckigen Häusern befanden sich jeweils in der unteren Etage die leichten und nach oben ansteigend die schwereren und schließlich die hoffnungslosen Fälle.

Dieses Prinzip habe er übernommen, als er in der Schule schreiben lernte. Durch die Stellung des Anfangsbuchstabens konnte er den Worten eine zusätzliche Bedeutung verleihen. Ein hochgestellter Buchstabe "K" signalisierte Gefährlichkeit, denn im Haus "K oben" war die berüchtigte geschlossene Station untergebracht.

Wahnsinn war Alltag

Dieser Teil von Meyerhoffs Bühnenprogrammen ist nun unter dem wunderbar wehmütigen Titel "Wann wird es endlich wieder, so wie es nie war" erschienen. Und die Psychiatrie spielt in diesem autobiografischen Roman eine prägende Rolle. "Ist das normal? Zwischen Hunderten von körperlich und geistig Behinderten als jüngster Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aufzuwachsen?",wirbt der Verlag in großen Anzeigen für das Buch.

Meyerhoffs Vater war Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hesterberg in Schleswig, und das Wohnhaus der Familie, die Direktorenvilla, befand sich im Zentrum der Anstalt. Und so war der Wahnsinn für den Sohn Alltag, in gewisser Weise Normalität. Zum Einschlafen gehörte das nächtliche Brüllkonzert der Anstaltsinsassen. Auf dem Weg durch die Anstalt begegnete Josse, wie der Vater ihn nannte, den Patienten mit ihren ritualisierten Verhaltensauffälligkeiten.

Darunter waren die obsessiv rauchenden jugendlichen Patienten, die dem Jungen den Eindruck vermittelten, sie wären Mitglieder einer Sekte. Ein besonderes Verhältnis hatte er zu dem Glöckner, einem Patienten in Angst einflößender Montur, der zwei große Glocken mit sich herumtrug. Irgendwann hatte sich der Glöckner den Jungen geschnappt, auf seine Schultern gesetzt und war mit ihm glockenschwingend über das Gelände getrabt. Als der Glöckner plötzlich verschwand, wollte keiner der Erwachsenen mit dem Jungen über die Hintergründe reden. Nur dessen Glocken fand er später im Anstaltsteich.

Der Höhepunkt des Jahres sei die weihnachtliche Bescherung gewesen. Josse durfte den Vater auf dessen Rundgang über die Stationen begleiten und erlebte "martialische Geschenkorgien". Beim traditionellen Krippenspiel der Patienten in der Psychiatrie-Turnhalle sei auch einmal eine Jungfrau Maria in der Zwangsjacke aufgetreten. Für den jungen Meyerhoff ist die Psychiatrie eine fremde und doch sehr nahe Welt, die er mit einem unverstellten Blick wahrnimmt.

Atmosphärische Dichte

Der Roman schöpft seine Kraft aus dieser atmosphärisch dichten, gern auch einmal politisch unkorrekten Schilderung des Lebens in einem weitgehend geschlossenen System, in der Komik und Tragik oft eng beieinanderliegen. Eine der schönsten Geschichten ist dem denkwürdigen Anstaltsbesuch des Ministerpräsidenten Stoltenberg gewidmet. Als der Gast nach der Besichtigung wieder in seine Limousine steigen will, schreit ein Patient "Hände hoch oder ich schieße", worauf Stoltenberg von seinen Leibwächtern auf den vom Regen matschigen Boden geworfen wird.

"Dr. Gerhard Stoltenberg hob langsam den Kopf. Mit einem schlürfenden Sauggeräusch zog er ihn aus dem Schlamm … der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein stand da, tropfend, und sah aus wie ein Schwein. Ein riesiges, aufrecht stehendes Schwein, das sich zusammen mit seinen beiden besten Freunden ein ausgiebiges Schlammbad genehmigt hat." Während sein Anzug in der Anstaltswäscherei gereinigt wird, sorgt sich Stoltenberg, mit einem vom Direktor geliehenen Arztkittel bekleidet, um seine politische Zukunft, wenn Fotos seines Besuches in die Zeitung geraten sollten.

Erinnern ist Erfinden

Meyerhoff ist ein großartiger Erzähler, der es versteht, Pointen zu setzen. Das Motto des Autors, "Erinnern ist Erfinden", ist ein Hinweis darauf, dass dieses Buch bei allen biografischen Parallelen eine Fiktion ist. Und in vielen der kleinen Episoden geht es auch nicht nur um Psychiatrie, sondern um einen Jugendlichen und seine ganz normal-verrückte Familie in der westdeutschen Provinz der 70er-Jahre.

Der gesamte Zyklus trägt den Titel "Alle Toten fliegen hoch". Die Toten sind, so Meyerhoff, die Spuren der Vergangenheit, denen man sich stellen müsse, um eine offene Zukunft haben zu können. Und die Zukunft der Psychiatrie? In den 90er-Jahren kehrt der Erzähler nach dem Tod seines Vaters noch einmal in die Anstalt zurück. In der ehemaligen Direktorenvilla befindet sich nun ein betreutes Wohnen. Und aus seinem früheren Kinderzimmer schaut ein Junge heraus.

Thomas R. Müller in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 17.04.2024