Dann liegt Berlin am Meer

Dann liegt Berlin am Meer

Schon oft wurde Brandenburg überflutet. Das zeigt die Geologie der Region. In Warmzeiten steigt das Meerwasser entlang der Elbe im Norddeutschen Becken auf. 

Abbildung aus der Holstein-Warmzeit – dazu ein Blick in die Glaskugel: Besonders spannend ist das Vordringen des Stettiner Haffs, weil dazu nur wenige Dezimeter Meeresspiegelanstieg ausreichen. 
Abbildung aus der Holstein-Warmzeit – dazu ein Blick in die Glaskugel: Besonders spannend ist das Vordringen des Stettiner Haffs, weil dazu nur wenige Dezimeter Meeresspiegelanstieg ausreichen. Werner Stackebrandt

Berlin-Was bisher geschah in der Serie „Apokalypse Brandenburg“: intensiver Vulkanismus, Überflutung durch das Zechsteinmeer, Austrocknen bis zur Buntsandsteinwüste, dann wieder Muschelkalkmeer, Jurameere, starke Tektonik, Kreidemeer, Braunkohlewälder, kilometerdicke Eisbedeckung – umwälzende Ereignisse, so geschehen, und geordnet in chronologischer Reihenfolge.

Solche Dramatik ahnt man angesichts der harmlosen, mild geformten märkischen Streusandbüchse nicht. Die heutige Oberflächengestaltung haben aus Skandinavien vordringende Gletscher geleistet, zuletzt waren sie in der Weichsel-Eiszeit am Werk, die vor rund 100.000 Jahren begann und vor etwa 10.000 Jahren endete. Wohin wir auch am Wochenende fahren, immer haben wir einen Teil der glazialen Serie vor Augen: Grundmoräne, Endmoräne, Sander, Urstromtal - mal Hügel, mal Seen und Rinnen, mal breite Flussniederungen. Alles sieht so aus, als müsse das so bleiben. 

Von wegen! Wer den Blick durch die Gletscherablagerungen in die Tiefe wirft, wie das der Geologe Werner Stackebrandt seit Jahrzehnten tut, der weiß es besser: Normal in der langen Geschichte unserer Region ist nicht der derzeitige Zustand, sondern der ewige Wandel. Wer in geologischen Zeiträumen denkt, Jahrmillionen im Zeitraffer betrachtet und dann einen Blick in die Zukunft wagt, der sieht: Veränderung. Was sonst.

Als Zukunftszenario für Brandenburg hat der langjährige Landesgeologe Stackebrandt – nur halb scherzhaft – ein Bild mit Schiffchen auf blauem Grund entworfen. Es zeigt eine schlauchartig tief ins Binnenland hineinreichende Meeresbucht (siehe Abbildung oben) mit lustigen Wellen über Hamburg hinweg bis Berlin und weiter Richtung Wroclaw. Palmen an den Stränden Mittel- und Ostdeutschlands oder weit in Polen zeigen an: Hier ist es tropisch warm. Wie kommt der Mann auf solche Prognosen?

Chance auf Palmen steigt

Erstens kennt er wie jeder Interessierte die Zahlen, die vom real stattfindenden Klimawandel künden. Die Wissenschaftler vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung haben für Brandenburg Klimatrends bis ins Jahr 2050 berechnet – nach einem Szenario, das von einem Umsteuern der Energieversorgung auf vielfältige Energiequellen ausgeht (A1B-Szenario). Demnach werden die Temperaturen im Jahresmittel um 2,0 bis 2,3 Grad steigen – also stärker als der angenommene globale Anstieg um 1,4 Grad Celsius.

Zweitens weiß Werner Stackebrandt wie jeder Informierte, dass das Abschmelzen der Eiskappen über den Polen den Meeresspiegel ansteigen lässt. Dazu kommt die Ausdehnung des gewaltigen Wasservolumens der Meere und Ozeane durch steigende Temperaturen.  Laut einer 2020 veröffentlichten Studie von Forschern am Potsdam-Institut könnte der Anstieg allein durch das Abschmelzen der Eiskappe der Antarktis bis zum Ende des Jahrhunderts bei gleichbleibendem CO2-Austoß 58 Zentimeter erreichen.

Auf längere Sicht, also in den kommenden Jahrhunderten bis Jahrtausenden, hat das Abschmelzen des antarktischen und grönländischen Eisschildes der Studie zufolge das Potenzial, den Meeresspiegel um mehrere Dezimeter anzuheben.

Ein Szenario: Der fortgesetzte Meeresanstieg und die Dynamik der Erdkrustenbewegung könnten zu drastischen Veränderungen der Küstenlandschaft führen. Die rote Linie zeigt den heutigen Küstenverlauf.
Ein Szenario: Der fortgesetzte Meeresanstieg und die Dynamik der Erdkrustenbewegung könnten zu drastischen Veränderungen der Küstenlandschaft führen. Die rote Linie zeigt den heutigen Küstenverlauf.Werner Stackebrandt

Mit unmittelbar auf die Region bezogenen Zahlen wartet der Klimareport des Deutschen Wetterdienstes von 2018 auf: Demnach könnte der Spiegel der südlichen Ostsee bis zum Ende des Jahrhunderts um 50 bis 100 Zentimeter steigen.

Obendrein erwärmt sich die Ostsee stärker als andere Weltmeere – im Laufe des 20. Jahrhunderts um etwa 0,85 Grad Celsius. Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts wird eine Erwärmung der Luft um 4 bis 6 Grad Celsius im nördlichen und um 3 bis 5 Grad Celsius im südlichen Teil der Ostsee prognostiziert. Die Voraussetzungen für Palmbewuchs verbessern sich.

Als Geologe weiß Stackebrandt aber noch viel mehr, und er hat sein Wissen für das große Publikum in dem Buch „Mehr als nur die Streusandbüchse – Zur Erdgeschichte von Brandenburg“ aufbereitet, das jetzt in zweiter, erweiterter Auflage erschienen ist: Die Erdkruste unter Berlin und Brandenburg senkt sich seit Jahrmillionen. Der Untergrund, auf dem wir leben, entstand bei der Kollision der Kontinente Gondwana und Laurasia. Lange her, 300 Millionen Jahre. Damals türmten sich Gebirge auf.

Aber dann begann ein Prozess, der bis heute andauert und weitergeht: Die Erdkruste unter unseren Füßen senkt sich fast unmerklich, aber die kleinen Beträge summieren sich. Entstanden ist das Norddeutsche Becken, das sich von der südlichen Nordsee bis nach Südwest-Polen erstreckt. Brandenburg liegt im Kern des Beckens. Dieses ist 5000 Meter tief, aber in seinen wahren Dimensionen nicht zu sehen, weil es sich Schicht um Schicht mit unterschiedlichsten Gesteinen füllte: Abtragungsschutt der alten Gebirge, Meeressedimente, Auswürfe der sechs mächtigen Vulkane, die auf märkischen Gebiet aktiv waren etc.

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Wasser flussaufwärts
Die Elbe: In der tiefsten Linie des Norddeutschen Beckens fließt die Elbe Richtung Nordsee. Entlang der historischen Flussläufe in der Elb-Niederung kann das steigende Nordseewasser vordringen.

Die Oder: Der Meeresspiegelanstieg wird sich auch auf das tiefliegende Odertal auswirken. Die mit den Weltmeeren verbundene Ostsee lässt das Wasser im Stettiner Haff ansteigen, welches sich in der Folge in das untere Odertal ausdehnt. 

Das Stettiner Haff: Der Geologe Stackebrandt hält das Vordringen des Wassers auf diesem Wege für ein unterschätztes Szenario und schließt nicht aus, dass dies wesentlich früher als bislang erwartet geschehen könnte. 

Das Buch: Mehr als nur die „Streusandbüchse“ – Zur Erdgeschichte von Brandenburg, Werner Stackebrandt, geogen (Eigen-)Verlag Potsdam, zweite, erweiterte Auflage, 139 Seiten, reich bebildert, mit vielen Grafiken und 16 Beschreibungen lokaler Spezifika wie Gipshut Sperenberg, Parabeldünen von Horstwalde oder Rambower Moor. 20 Euro.

Bestellen: Bezug über den Buchhandel; Direktversand durch den Verlag möglich: geogen (Eigen-)Verlag Potsdam, Gersthofweg 13, 14469 Potsdam oder geostacke@gmail.com

Jeder Senkung folgt eine neue Auffüllung. Stackebrandt beschreibt das Entstandene als „harmonische Sandwichstruktur“, unterbrochen nur von den Vulkanen und Salzen des Zechsteinmeeres. Die Salzablagerungen bilden besondere Formen, denn sie bleiben nicht liegen, wo sie bei der Verdunstung des Wassers entstanden, sondern gehen „eigene Wege“ und steigen in zum Teil mächtigen Säulen bis an die Oberfläche – gut zu sehen zum Beispiel in Sperenberg.

Senkt sich ein Gebiet ab, füllt es sich mit Wasser, vor allem wenn jenes nicht als Eismasse gebunden ist wie in den Kaltzeiten.

Zunächst das schon erwähnte Zechsteinmeer. Vor etwa 257 Millionen Jahren – in regenarmer, heißer Zeit – trocknete es immer wieder aus und wurde immer wieder neu gebildet: Schicht um Schicht entstanden fossilfreie Salzgesteine. Das Meer erstreckte sich in  Ost-West-Richtung 1500 Kilometer von der heutigen britischen Insel bis kurz hinter Warschau – Berlin mittenmang etwa auf halber Strecke.

In der Trias (vor 250 bis 200 Millionen Jahren) breitete sich das Muschelkalkmeer flach über unserer Region aus  und lagerte im Lauf mehrerer Millionen Jahre in Brandenburg bis zu 450 Meter dicke fossilreiche Kalkschichten ab, die heute zum Beispiel im Tagebau Rüdersdorf zu sehen sind. Dort freigelegte Formen von Meeresboden sprechen dafür, dass im Flachmeer starker Wellengang herrschte.

In der Jura- und Kreidezeit (vor 200 Millionen bis 66 Millionen Jahren) wechselten Land und Meer in relativ kurzer Folge, aber an einer Stelle taucht aus dem Untergrund ein Buckel auf: Eine tektonische Hebung bildet den Prignitz-Lausitz-Wall, eine von Nordwest nach Südost verlaufende Halbinsel, die sich ungefähr von Perleberg bis Cottbus erstreckte – heute an der Oberfläche nicht mehr erkennbar.

Im steten Wechsel ging es im Tertiär weiter: Immer wieder überfluteten flache Meere die Einsenkung des Norddeutschen Beckens – die Urnordsee dehnte sich vor 66 bis 24 Millionen Jahren mehrfach über Brandenburg hinweg aus.

Sogar in der jüngsten Vergangenheit vor 320.000 Jahren – und das ist geologisch gesehen gestern - rückte die Küstenlinie bis Mittelbrandenburg vor: In der sogenannten Holstein-Warmzeit waren die Eiskappen der Pole weitgehend abgeschmolzen. „Wie eine gierige Zunge drang die Nordsee mehrfach nach Südosten sogar bis in den Berliner Raum vor“, schreibt Stackebrandt. Wärmeliebende, heute im Mittelmeer verbreitete Pflanzenarten wie der Buchsbaum, Wein und die Flügelnuss fühlten sich am Holsteinmeer wohl. Zwischen der Oder bei Eisenhüttenstadt und Guben im Osten, weiterreichend über den Großraum Berlin, das Havelland und die Prignitz im Westen dehnte sich eine inselreiche Seenlandschaft. Die Sedimente der Holstein-Warmzeit haben heute als Grundwasserspender Bedeutung.

Berlin am Meer ist also möglich, eher früher als später. Die auslösenden Faktoren – Meeresspiegelanstieg plus Erdabsenkung – wirken beständig. Das Wasser bedrängt die Küsten von Nord- und Ostsee, die Skizze oben zeigt, wie das aussehen kann. Das Berliner Stadtgebiet liegt gegenwärtig 34 bis 115 Meter über dem Meeresspiegel der Nordsee. Das sieht nach geringem Risiko aus. Noch.