Als wesentliche Ursache des in diesem Beitrag elaborierten dritten, digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit werden nicht Prozesse der Digitalisierung per se gesehen, sondern eine spezifische Facette derselben, nämlich die sogenannte Plattformisierung. Unter dem Begriff wird der gesellschaftliche Bedeutungsaufstieg digitaler Tech-Plattformen (u. a. Google, Apple, Facebook) seit den 2010er Jahren verstanden sowie der damit verbundene Prozess des fortschreitenden Eindringens infrastruktureller und regelsetzender Plattform-Elemente in die Internet-Ökosysteme, was nicht nur die Medienöffentlichkeiten einem fundamentalen Transformationsprozess aussetzt, sondern die Gesellschaft insgesamt.

Der Beitrag folgt einer institutionentheoretischen Perspektive: Tech-Plattformen werden als regelbasierte Institutionen gefasst, von denen selbst weitreichende Institutionalisierungsprozesse ausgehen. Sogenannte Plattform-Logiken (u. a. Datafizierung, Algorithmisierung) avancieren zu gesellschaftlich etablierten Standards, an denen sich vielfältige Akteure der Gesellschaft orientieren, um ihre eigene gesellschaftliche Legitimation abzusichern. Prinzipiell beliebige Akteure und Organisationen sind diesem Anpassungsdruck ausgesetzt, speziell auch traditionelle Informationsanbieter und journalistische Organisationen. Daraus resultieren eine grundlegende Transformation der medienöffentlichen Sphäre und die Etablierung sogenannter Plattform-Öffentlichkeiten.

Der Beitrag ist wie folgt gegliedert: Zuerst wird der dritte Strukturwandel der Öffentlichkeit vom zweiten abgesetzt (1). Danach werden die Begriffe (Tech-) Plattform (2) und Plattformisierung (3) unter Bezugnahme auf den einschlägigen Fachdiskurs eingeführt und die Eigenheiten sogenannter Plattform-Logiken diskutiert (4). Dies bildet die Voraussetzung, um den digitalen Strukturwandel auf den Prozess der Plattformisierung zurückzuführen und die Plattform-Öffentlichkeit einzuführen (5). Die Erträge werden im abschließenden Fazit zusammengefasst (6).

1 Dritter Strukturwandel der Öffentlichkeit

Im Fachdiskurs wurden für westliche Zentrumsnationen bis dato zwei fundamentale historische Brüche in der Entwicklung moderner Öffentlichkeiten ausgemacht (Habermas 1990; Imhof 2000; Münch 1995; Eisenegger 2017): Ein erster Strukturwandel der Öffentlichkeit führte im 18./19. Jahrhundert von frühbürgerlichen Versammlungsöffentlichkeiten und Debattierklubs zur ersten massenmedial hergestellten Öffentlichkeit. Das Leitmedium in dieser ersten Phase moderner Öffentlichkeiten war die Zeitung, die bis weit ins 20. Jahrhundert vor allem politisch-ideologische Positionen der jeweiligen Trägerorganisationen (Parteien, Kirchen, Gewerkschaften etc.) vertrat. Ein zweiter Strukturwandel der Öffentlichkeit beendete diese Ära der Partei- und Gesinnungspresse. Das Mediensystem entledigte sich sukzessive seines gesinnungsethischen Mandats und richtete sich – in der Schweiz vergleichsweise spät, d. h. ab den 1960er Jahren – an ökonomischen Grundsätzen aus. Publiziert wurde nun prinzipiell alles, was mit dem (massenhaften) Interesse des Publikums rechnen konnte und damit gleichzeitig im Hinblick auf den Werbemarkt lukrativ erschien. Dieser zweite Strukturwandel der Öffentlichkeit führte zur Institutionalisierung privatwirtschaftlicher Medienkonzerne mit Fokus auf der Informations- und Unterhaltungspublizistik. Er begründete – trotz Kommerzialisierung des Medienwesens und damit auch verbundenen Dysfunktionen für die demokratische Gesellschaft – v. a. in den 1980er/1990er Jahren eine Ära, in der die Allianz zwischen Publizistik und Werbung noch funktionierte, ein Großteil der Nutzerinnen und Nutzer noch bereit war, für News zu bezahlen, die Medien über ausreichend Ressourcen verfügten, Informationsmedien Statusgüter darstellten und Journalismus einen respektierten und nachgefragten Berufsstand darstellte. Der zweite Strukturwandel förderte die Ausweitung des Medienangebots zu einem breit gefächerten Medienkiosk unter Einschluss von Boulevard- und Forumszeitungen sowie vielfältigen Special-Interest-Medien. Zum Leitmedium in dieser Phase entwickelte sich das Fernsehen, das auch ins Zentrum der Medienpolitik rückte. So ermöglichte die teilweise Deregulierung der Rundfunkordnung den Marktzutritt privater TV-Anbieter.

Seit den 2000er Jahren sind wir nun Zeitzeugen eines dritten, digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit (Eisenegger 2017). Prozesse der Digitalisierung begleiten uns seit vielen Jahrzehnten, ausgeprägt seit den 1990er Jahren. Die Digitalisierung kann deshalb nicht die Erklärung sein für die Transformation moderner Öffentlichkeiten, sondern die Plattformisierung d. h. der markant vergrößerte Einfluss der globalen Tech-Plattformen auf die Struktur und die Inhalte öffentlicher Kommunikation. Diese Plattformisierung zieht eine Transformation moderner Öffentlichkeit nach sich, die sich als plattformisierte Longtail-Öffentlichkeit charakterisieren lässt und von einem Wandel der kommunikativen Prägekräfte in Form sogenannter Plattform-Logiken begleitet ist (vgl. Kap. 4).

Die Jahrtausendwende, insbesondere aber die Phase nach der Weltwirtschaftskrise 2008 ff. brachte ein zuvor nicht gekanntes Ausmaß an technischer, sozialer und ökonomischer Konzentration auf wenige global tätige Tech-Plattformen mit sich (Dolata 2015). Apple, Amazon und Microsoft, – im Sektor der Information, der Wissens- und Meinungsbildung vor allem Google und Facebook sind die heute klar dominierenden Akteure des Internets. Diese Tech-Konzerne regeln als Betreiber der zentralen Internet-Infrastrukturen die Zugänge zum Netz. Sie strukturieren mittels Algorithmen und Datafizierung die Kommunikationsspielräume der Nutzer, sie dominieren das kommerzielle Internet und sind Trendsetter eines technologischen Innovationsprozesses, der auch auf das System der traditionellen Medien- und Informationsanbieter einen enormen Anpassungsdruck ausübt. Dieser Anpassungsdruck ist nicht zuletzt die Folge einer diskursiven, gesellschaftlichen Institutionalisierung (Schmidt 2010): Die verbreitete und intensive Rede über Digitalisierung, Algorithmisierung, Big Data oder Targeting im öffentlichen Diskurs hat diese Plattform-Leitbilder als Erwartungsstrukturen etabliert, an denen sich mittlerweile sämtliche Handlungsfelder der Gesellschaft unter Einschluss des Journalismus, des Staates oder der Wissenschaft orientieren.

Der Aufstieg der Tech-Plattformen und ihrer Leitbilder und Konzepte muss im Kontext des digital-solutionistischen Gesellschaftsmodells gesehen werden, das sich als Antwort auf die Verwerfungen der globalen Finanzkrise 2008/2009 durchzusetzen beginnt und in dessen Horizont die globalen Tech-Plattformen in sozialer, technologischer und ökonomischer Hinsicht zu Leit-Institutionen aufrücken (Eisenegger und Udris 2019). Charakteristisch für das Gesellschaftsmodell ist ein weitreichender Technologie-Glauben in die beinahe unbeschränkten Transformations-, Lösungs- und Heilungskräfte digitaler Technologien (Nachtwey und Seidl 2017, 2020). Gesellschaftlich leitend wird die Vorstellung, dass es für jedes soziale Problem auch eine digital-technologische Lösung (Solution) gibt und dass beinahe alle gesellschaftlichen Probleme als technologische Probleme definierbar sind. Digital-solutionistische Leitbilder werden auch ausgesprochen reputationswirksam. Digitale Kompetenz wird zum entscheidenden Reputationstreiber in der Medienbranche, nicht zuletzt aber auch in der Wissenschaft. Wie aber sind Tech-Plattformen zu charakterisieren und was kennzeichnet den Prozess der Plattformisierung?

2 Tech-Plattformen

(Tech-)Plattformen lassen sich als algorithmisch gesteuerte Digital-Infrastrukturen beschreiben, über die Daten ausgetauscht, private wie öffentliche Kommunikation strukturiert, Arbeit und Märkte organisiert, ein sich fortlaufend ausdifferenzierendes Spektrum an Dienstleistungen angeboten und digitale wie nichtdigitale Produkte vertrieben werden (Dolata 2015). Als re-programmierbare Digitalinfrastrukturen ermöglichen und begrenzen digitale Tech-Plattformen soziale Interaktionen zwischen Endbenutzern, Plattformbetreibern und Dritten durch die systematische Sammlung, algorithmische Verarbeitung, Monetarisierung und Zirkulation von Daten (Poell et al. 2019, S. 3; Dolata 2020). Plattformen mitsamt ihren Apps und Plug-Ins ermöglichen es Plattformbetreibern, prinzipiell jede Ausprägung menschlicher Interaktion in Daten umzuwandeln: Bewerten, Bezahlen, Suchen, Verweilen, Zuschauen, Zuhören, Sprechen, Gehen, Autofahren etc. Durch diese algorithmische Datenerfassung und -verarbeitung entstehen in wachsendem Ausmaß datenbasierte, soziale Parallelwelten (Nassehi 2019), die durch die Plattform-Betreiber monetarisiert werden, unter anderem mit dem Mittel des werblichen Targetings.

Digitale Tech-Plattformen lassen sich nicht auf singuläre Websites (Facebook.com, Youtube.com, Twitter.com, Tiktok.com, Google.com etc.) reduzieren. Es ist ein Defizit der bestehenden Forschung, dass sie sich bislang zu stark auf die Schauseite einzelner Plattform-Instanzen (Facebook, Instagram, YouTube oder WhatsApp etc.) konzentriert. In der Theoriesprache des soziologischen Neo-Institutionalismus wird zumeist nur die nach außen sichtbare Formalstruktur singulärer Websites oder Apps in den Blick genommen, kaum jedoch die tieferliegenden Aktivitätsstrukturen, die unterschiedliche Plattform-Elemente, Apps und Plug-Ins zu datenverarbeitenden Plattform-Konglomeraten vernetzen. Um dies am Beispiel von Facebook zu illustrieren: Das Facebook-Plattform-Konglomerat setzt sich zusammen aus der Facebook-Website einschließlich der mobilen Facebook-App sowie dem Browser in der App. Sodann Messenger und WhatsApp, Instagram (einschließlich der Apps wie Direct und Boomerang), Facebook Portal, Bonfire, Mentions, Facebook-Pixel oder Shops, Spark AR oder Facebook Audience Network. Die Facebook-Plattform-Elemente umfassen weiter verschiedene Facebook-Business-Tools und soziale Plugins (u. a. die „Gefällt mir“- und „Teilen“-Buttons), Facebook-Software-Development-Kits (SDKs) und Application-Programming-Interfaces (APIs), die von Dritten, z. B. App-Entwicklern oder Unternehmen (einschließlich Werbetreibenden), dazu genutzt werden, die Plattform-Infrastruktur um weitere Plattform-Elemente zu ergänzen und Daten mit den Plattform-Betreibern auszutauschen.

Digitale Tech-Plattformen bestehen somit aus diversen Plattform-Elementen, die unterschiedliche Zielgruppen ansprechen, jedoch untereinander vernetzt sind und alle dem Ziel dienen, eine gemeinsame unterliegende Datenbasis zu bewirtschaften und kommerziell verwertbar zu machen. Sie sind in erster Linie als programmierbare Dateninfrastrukturen zu sehen, die eine Vielzahl unterschiedlicher Plattform-Instanzen „hosten“, die die digitale Dateninfrastruktur mit Daten alimentieren. Was westliche Tech-Plattformen somit im Kern ausmacht und konstituiert, ist ihre Algorithmen-gesteuerte Hinterbühnen-Datenarbeit und das Verfolgen datengestützter Geschäftsziele. Plattformen lassen sich damit auch mit der Theoriefigur des Decoupling beschreiben (Meyer und Rowan 1977): Ihre legitimierende Selbstdarstellung beschränkt sich auf die Formalstruktur einzelner, nach außen sichtbarer Plattform-Elemente (z. B. Facebook, Messenger, WhatsApp, Instagram etc.), während die unterliegende datenbasierte Aktivitätsstruktur, die diverse Plattform-Instanzen mit unterschiedlichem Zielgruppen-Fokus verbindet, verdeckt gehalten wird.Footnote 1

Die Tech-Plattformen greifen mit Plug-Ins und Apps weit über ihre unmittelbaren technischen Infrastrukturen hinaus: Facebook-Pixel beispielsweise, mit dem Nutzeraktivitäten auf prinzipiell beliebigen Websites und Apps „getrackt“ werden können, ist auf nahezu allen journalistischen Newssites installiert (Wyl und Eberl 2019). Die erfassten Nutzerdaten werden von den journalistischen Anbietern dazu verwendet, journalistische Inhalte anhand der Nutzungsdaten besser auf die Zielgruppen abzustimmen. Im Gegenzug geben die journalistischen Anbieter die URLs jedes gelesenen Artikels mit einer personenbezogenen Identifikationsnummer an Facebook weiter. Journalistische Anbieter werden damit wie andere Dienstleister zu Zulieferern von Daten an die Tech-Plattformen. Das heißt, sie werden zu Plattform-Komplementeuren (Nieborg und Poell 2018). Es ist damit eine wichtige Eigenschaft digitaler Tech-Plattformen, dass sie neue Online-Rollen ausdifferenzieren und gesellschaftliche Organisationen und Rollenträger in den Rang von Komplementeuren versetzen, welche Plattform-Funktionen in den Kern ihrer Aktivitätsstruktur integrieren und den Plattformen dadurch Legitimität verschaffen oder aber selbst am Ausbau der Plattform beteiligt sind, indem sie auf der Basis vordefinierter Regeln und über vorgegebene Schnittstellen Plattform-Elemente ergänzen (Poell et al. 2019, S. 2). Bei solchen Komplementeuren handelt es sich also um professionelle Rollenträger und Organisationen aus mittlerweile sämtlichen Handlungsfeldern (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik etc.), die zur Erreichung ihrer Ziele an die Plattformen andocken, ihre Dienste integrieren bzw. intensiv nutzen oder die Plattformen um eigene Anwendungen (Apps, Plug-Ins) erweitern.

Plattformen geben dabei strikt die Regeln vor, gemäß denen Dritte an die Plattform anschließen, ihre Funktionalitäten und Datenbestände nutzen oder sie mit eigenen, Plattform-kompatiblen Anwendungen erweitern können. Mittels Application-Programming-Interfaces (API) wird der Datenbezug reguliert und mittels Software Development Kits (SDKs) gesteuert, gemäß welchen Regeln Dienste (z. B. Apps) hinzuprogrammiert werden können (Nieborg und Helmond 2019). Solche Schnittstellen und Regelwerke regulieren den Datenzugriff, sie stellen sicher, dass hinzuprogrammierte Dienste stets der Plattform-Architektur entsprechen und dass die Kontrolle der Plattform-Betreiber über die unterliegende Datenbasis gewahrt bleibt. Gleichzeitig ist die Kommunikation der Plattformen mit Dritten auf der Grundlage von Schnittstellen ein Mittel, die grundlegende Funktionslogik der Plattformen verborgen zu halten. So geht die Transparenz der Informations-, Rating- und Rankingsysteme der Plattformen einher mit einer systematischen Opazität ihrer algorithmischen Grundlagen, die für Nutzer wie für die Komplementeure eine Blackbox bleiben müssen, um die Vormachtstellung der Plattformen in ökonomischer Hinsicht nicht zu gefährden (Dolata 2020).

3 Plattformisierung

Die Plattformisierung dynamisiert den Begriff der Tech-Plattformen. In einem zunächst mehr technischen Sinn kann unter dem Begriff das kontinuierliche Eindringen von Plattform-Elementen (z. B. Plugins, Apps) in das Web verstanden werden (Helmond 2015). Plattformisierung beschreibt in dieser Hinsicht den Prozess der Entgrenzung der technischen Architekturen und damit die Zunahme der sozialen Bedeutung und Reichweite der Plattformen im Internet.Footnote 2 In einer stärker gesellschafts- bzw. institutionentheoretischen Perspektive bedeutet Plattformisierung den Vorgang, wonach Tech-Plattformen an gesellschaftlicher Macht gewinnen und gesamtgesellschaftlich zunehmend steuerungswirksam werden. Sie kontrollieren die zentralen Zugänge zum Internet, strukturieren und überwachen die Bewegungsmöglichkeiten der Nutzerinnen und Nutzer, sie kuratieren, kontrollieren und selektionieren in großem Stil Inhalte, Informationsflüsse und Diskussionen (Dolata 2020). Sie segmentieren Nutzerinnen und Nutzer in Communitys, sie strukturieren Beziehungen und Öffentlichkeiten, und dies in viel weitreichenderer Weise, als dies großen Medienunternehmen in der Vergangenheit möglich war. Als Wirtschaftsakteure verfolgen sie die lückenlose Erfassung, Verarbeitung und Monetarisierung der Datenspuren und haben damit einen großflächigen Prozess der ökonomischen Vermessung und Kommodifizierung sozialer Aktivitäten und Beziehungen im Internet in Gang gesetzt (Dolata 2015). Sie definieren Ein- und Ausschlusskriterien für Marktteilnehmer, legen Marktregeln sowie Distributions- und Vergütungsstrukturen fest, sie unterhalten Produktinformations-, Rating- und Rankingsysteme und nehmen über die entsprechenden Formen der Reputationskonstitution Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit der Marktteilnehmer.

Plattformen erlangen damit den Charakter quasihoheitlicher Akteure, von denen institutionalisierende, d. h. handlungsregulierende Wirkungen auf die Gesellschaft, die Öffentlichkeit, Organisationen und ihre Rollenträger ausgehen.Footnote 3 Sie setzen Regeln, Leitideen und Standards, an denen sich Dritte orientieren. Dieser Anpassungsdruck entsteht nicht nur durch die verbreitete und häufig nicht weiter hinterfragte Nutzung der verschiedenen Plattform-Dienste, sondern auch durch die fortwährende Rede über die Leitideen digitaler Plattformen in der Öffentlichkeit. Ein umfassender Zugang zu (Nutzer-)Daten und ihre algorithmische Steuerung und Nutzbarmachung, d. h. Datafizierung und Algorithmisierung, sind längst zu etablierten Leitwerten geworden, die in verbreiteter Wahrnehmung erfolgversprechendes Handeln in unterschiedlichsten Handlungsfeldern definieren.Footnote 4 Solche Anpassungsprozesse zeigen sich nicht zuletzt bei staatlichen Organisationen. Diese nutzen Plattformdienste für die algorithmisierte Strafzumessung oder für das predictive policing (Caplan und Boyd 2018, S. 4). Die Eintretenswahrscheinlichkeit von Strafdaten wird datenbasiert prognostiziert und Ordnungshüter werden so in die Lage versetzt, bereits im Vorfeld Maßnahmen zur Verhinderung der vorhergesagten Ereignisse zu ergreifen (Leese 2018). Dadurch geht die Verwaltungsgewalt partiell vom Staat an die (im Westen) privatwirtschaftlich organisierten Plattformen über, die die Daten für den Staat nutzbar machen.

Auch im journalistischen Feld zeigen sich ausgeprägte Anpassungseffekte. Diese Anpassung ist in der Theoriesprache des Institutionalismus die Folge eines koerziven, mimetischen und normativen Drucks (d. h. die Folge von Zwang, Imitation und Professionalisierung), der dazu führt, dass sich journalistische Organisationen strukturähnlich werden. Koerziven, zwanghaften Anpassungsdruck üben Plattformen auf journalistische Organisationen aus, indem sie in erheblichem Maß bestimmen, inwieweit das Publikum mittels sogenannter Referrals überhaupt den Weg zu den journalistischen Websites findet. Journalistische Angebote sind deshalb zwingend darauf angewiesen, in Suchmaschinen und in den Feeds der sozialen Plattformen prominent angezeigt zu werden, um Resonanz auszulösen. Entsprechend betreiben sie Suchmaschinenoptimierung und sie optimieren auch das Nutzer-Engagement und die Viralität in sozialen Netzwerken. Mimetischen Anpassungsdruck in Form von Nachahmung und Imitation üben Plattformen aus, indem sie metrische Indikatoren vorgeben (Likes, Shares, Retweets, Comments etc.), an denen journalistische Organisationen ihren Erfolg festmachen. Auch im journalistischen Feld wird heute Legitimität am innovativen, automatisierten Umgang mit „Big data“ festgemacht (Stichworte: Daten- oder Roboterjournalismus). Plattform-Leitwerte haben also auch unter journalistischen Organisationen verbreitete Imitationsprozesse ausgelöst. Und schließlich üben Plattformen auch normativen Druck aus, der sich in institutionalistischer Perspektive an spezifischen Professionalisierungsprozessen festmacht. „Computational skills“ werden im Hinblick auf Datenjournalismus und automatisierten Journalismus für unverzichtbar erachtet und beeinflussen Status und Legitimität im journalistischen Feld zunehmend mit.

4 Plattform-Logiken

Prinzipiell zeigt sich auf den Tech-Plattformen eine Komplexität des Sozialen, die annähernd mit der Komplexität der Gesellschaft korrespondiert. Das ergibt sich aus der außerordentlich hohen gesellschaftlichen Durchdringung der Tech-Plattformen. Die weltweit rund 4 Mrd. Internetnutzer werden allein durch Facebook und Google fast vollständig erreicht. Die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen auf den Plattformen macht es nötig, mit vorschnellen Verallgemeinerungen und Trendaussagen zu gleichförmigen Mustern der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit vorsichtig zu sein. Dennoch gibt es gute Gründe, die Plattformen anhand von Tech-Plattform-Logiken – wie sie hier genannt werden – zu charakterisieren.Footnote 5

Die Annahme entsprechender Logiken rechtfertigt sich bereits aufgrund ihrer algorithmischen Steuerung. Algorithmen sind nichts anderes als Programmcodes, die Plattform-Prozesse in regelgeleiteter Weise anleiten. Gleiche Daten-Inputs führen aufgrund algorithmischer Verarbeitung zu analogen Ergebnissen. Dabei sind Algorithmen keineswegs neutral. In die Programmcodes gehen Werte einer ökonomischen Logik wie einer bestimmten Weltauffassung ein. Leitwerte eines Technologie-Glaubens, neoliberale Marktauffassungen, freiheitlich-emanzipatorische Gestaltungsvisionen und das Primat maximal unbeschränkter Meinungsfreiheit sind prägend für die normative Fundierung algorithmischer Steuerung (Nachtwey und Seidl 2020; Caplan und Boyd 2018).Footnote 6 Den Plattform-Algorithmen liegen kulturell imprägnierte und ökonomisch motivierte Werte einer kalifornischen Ideologie zugrunde, die in Form von Programmieranweisungen steuerungswirksam werden. Diese Werte finden ihren Niederschlag aber auch in Geschäftsbedingungen, Gemeinschaftsstandards oder Richtlinien, in denen die Plattform-Betreiber detailliert ausformulieren, was als politisch inakzeptabel, gewaltverherrlichend, anstößig etc. gilt und entsprechend sanktioniert werden muss, indem die Inhalte den Nutzern zum Beispiel weniger prominent oder gar nicht in ihren Feeds angezeigt werden (Dolata 2020). Es wird deutlich, dass die Tech-Plattformen mit ihren Leitideen, die prominent in die Algorithmen eingearbeitet sind, in die konkrete Konstitution von Öffentlichkeit intervenieren. Genereller formuliert, üben algorithmisch gesteuerte Plattformen in vielfacher Hinsicht präskriptive (ermöglichende) wie restriktive (einschränkende) Wirkungen auf soziales Handeln und die Öffentlichkeit aus und können deshalb als Fundamentalinstitutionen betrachtet werden (Jarren 2019; Jarren in diesem Band).

Trotz ihrer zentralen Bedeutung für die Plattform-Steuerung lassen sich Plattform-Logiken nicht auf Algorithmen reduzieren. Plattform-Logiken konstituieren sich vielmehr in der Interdependenz von Plattform-Affordanzen (1), des tatsächlichen Gebrauchs (2) dieser Affordanzen und den Algorithmen (3), die zwischen beiden Dimensionen vermitteln (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Plattform-Logiken in der Interdependenz von Affordanzen, Gebrauch und Algorithmen.

1. Affordanzen (engl. affordances) beziehen sich erstens auf die technisch vordefinierten, zumeist sichtbaren, strukturgebenden Merkmale, d. h. das Plattform-Design, die Plattform-Funktionen und die Plattform-Sprache (Evans et al. 2017). Von Affordanzen geht ein Aufforderungscharakter auf das Handeln aus: So wie eine Tastatur zum Tippen animiert, ohne dies erzwingen zu können, so stimulieren auch Plattform-Affordanzen spezifische Gebrauchsweisen. Zu Plattform-Affordanzen zählen relationale Funktionen wie das Liken, Sharen, Favorisieren, Empfehlen, Teilen etc., aber auch die Vorgabe einer entsprechenden Plattform-Sprache und -Ästhetik wie die Limitation sprachlicher Äußerungen auf eine Maximalzahl Zeichen, die Rede von „Friends“ oder „Followern“ oder die Beschränkung von Inhalten auf audiovisuelle Inhalte. Für Plattform-Affordanzen ist charakteristisch, dass sie einen bestimmten Handlungstyp stimulieren, nämlich Handlungen mit tendenziell geringem Anstrengungsniveau. Die Animation rascher, auch impulsiver Nutzerreaktionen bildet die Grundlage eines Geschäftsmodells, das laufend kommerziell verwertbare Nutzerdaten akkumulieren will. Dazu passt, dass die Orientierung an „Friends“ oder „Followern“ eine gemeinschaftliche Kommunikationslogik fördert, die emotionale Bindungen zwischen den Nutzerinnen und Nutzern, die Pflege von Loyalitätsbeziehungen und mehr oder weniger stark ausgeprägte In- und Outgroup-Differenzierungen fördert (Imhof 2015; Klinger und Svensson 2015; Schmidt et al. 2017). Soziale Medien lassen sich von ihrer Grundtendenz daher als Emotionsmedien beschreiben (Papacharissi 2016).

2. Das Handeln der Nutzerinnen und Nutzer ist jedoch nie vollständig durch technisch vordefinierte Affordanzen determiniert und es wäre auch falsch, in einen Technikdeterminismus zu verfallen. Entscheidend für die Plattform-Logiken ist deshalb zweitens auch der tatsächliche soziale Gebrauch der Plattformen durch die Nutzerinnen und Nutzer auf der Grundlage ihrer Nutzungsmotive und eines kulturellen Kontextes, die diesen Gebrauch prägt. Studien zeigen in diesem Zusammenhang, dass auf den Plattformen analog zum nicht-professionellen, lebensweltlichen Kontext zwei Nutzungsmotive dominieren: die Nutzung der Plattformen zum Zweck des Beziehungsmanagements einerseits, sowie zum Zweck des Identitätsmanagements andererseits (Schmidt und Taddicken 2017). Plattformen werden bevorzugt dazu genutzt, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen (gemeinschaftliche Beziehungspflege) wie auch als Mittel der expressiven Selbstdarstellung. Exakt auf diese Nutzungsmotive sind Plattform-Affordanzen optimiert (Likes, Friends, Followers etc.).

3. Drittens observieren und datafizieren Algorithmen den sozialen Gebrauch der Plattformen im Horizont der technisch vorgegebenen Affordanzen. Sie überwachen den sozialen Pattform-Gebrauch und übersetzen ihn in speicherbare Daten. Den fortlaufend akkumulierten Nutzerdaten wird auf der Grundlage automatisierter, statistischer Bewertungen größere oder geringere Relevanz zugewiesen, die in Form von Rankings und Ratings („Most viewed“, „trending“) sichtbar wird und dadurch wiederum den Gebrauch in rekursiver Form mitbestimmt (Nieborg und Poell 2018). Auf der Grundlage von Nutzerdaten und ihrer statistischen Bewertung selektionieren, aggregieren und hierarchisieren Algorithmen Nachrichten, Postings, Videos oder Fotos, strukturieren die private wie die öffentliche Kommunikation und werden damit zu Konstrukteuren gesellschaftlicher Wirklichkeit eigener Art sowie zum Nukleus einer technisch vermittelten Rahmung, Kontrolle und Kuratierung sozialen Handelns (Just und Latzer 2017; Dolata 2020).

5 Plattform-Öffentlichkeit

Mit dem grundbegrifflichen Instrumentarium ausgerüstet, sind wir nun in der Lage, den digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit, der zur Ausbildung einer Plattform-Öffentlichkeit führt, genauer zu konzeptualisieren (vgl. im Folgenden auch Eisenegger 2017). Dies soll geschehen, indem wir die Veränderungen der Öffentlichkeitsstruktur mit dem Modell einer plattformisierten Longtail-Öffentlichkeit beschreiben. Der Begriff des Longtails wurde ursprünglich von Anderson (2006) eingeführt und von Neuberger (2009) und Eisenegger (2017) auf die Öffentlichkeit übertragen. Die Longtail-Öffentlichkeit ist in der horizontalen Achse durch die Menge der Kommunikations- und Informationsanbieter definiert und in der vertikalen durch die Reichweite, die diese Anbieter erzielen. Sie lässt sich in einen Shorthead vorne mit vergleichsweise wenigen Anbietern von hoher Reichweite differenzieren, sowie einen Longtail hinten mit unzähligen, laufend an Quantität zunehmenden Anbietern von nur geringer Reichweite. Die gesamte Longtail-Öffentlichkeit steht unter dem Einfluss der Tech-Plattformen, d. h. wird geprägt und dynamisiert von einem Prozess der Plattformisierung (vgl. Abb. 2).

Die plattformisierte Öffentlichkeit lässt sich in einem ersten Schritt mit dem „klassischen“ Dreiebenen-Modell von Öffentlichkeit näher bestimmen (Gerhards und Neidhardt 1991; vgl. auch Wild in diesem Band), das allerdings erweitert und auf die digitale Ära adaptiert werden muss. Öffentlichkeit – definiert als zugangsoffene Kommunikation vor einem Publikum, dessen Grenzen unbestimmt sind – wurde nach Gerhards und Neidhardt (1991) auf der Basis der Kriterien a) Menge der Kommunikationsteilnehmer (Reichweite) und b) institutionelle Verfestigung in drei Öffentlichkeitstypen differenziert: die Encounter-Öffentlichkeit, die themenzentrierte Versammlungsöffentlichkeit sowie die massenmediale Öffentlichkeit.Footnote 7 Wie lässt sich die digitale Plattform-Öffentlichkeit anhand dieser drei Öffentlichkeitsformen charakterisieren?

Bereits Gerhards/Neidhardt hatten festgehalten, dass die Ausbildung fluider Encounter-Öffentlichkeiten, die auf den spontanen Meinungsaustausch unter Anwesenden zentriert sind, von makrosozialen Bedingungen abhängt. So hat die Plattformisierung den Möglichkeitsspielraum, dass sich Unbekannte im digitalen Raum spontan treffen und miteinander kommunizieren, im Vergleich zur frühen Phase der Digitalisierung nochmals markant erweitert. Dies hat zur Folge, dass meinungszentrierte, reichweitenschwache und institutionell fluide Encounter-Öffentlichkeiten in der Plattformöffentlichkeit an Bedeutung gewinnen und dazu beitragen, dass der Longtail beschleunigt in die Länge wächst. Die dynamische Ent- und Neubündelung von Inhalten auf den Plattformen hat weiter zur Folge, dass in der Plattformöffentlichkeit auch die Bedeutung themenzentrierter Öffentlichkeiten zunimmt (Schäfer 2017). Die für den traditionellen Journalismus noch prägende Orientierung am General-Interest unter Abdeckung eines breiten Spektrums an Themen wird zugunsten einer Special-Interest-Orientierung zurückgedrängt. D. h., die Plattform-Öffentlichkeit fördert die Aus- und Entdifferenzierung von Communities um spezifische Themen, unterstützt durch Plattform-Affordanzen wie #Hashtags oder trending topics. Sodann sind massenmediale Öffentlichkeiten nicht mehr an spezifische Strukturen wie jene von journalistischen Organisationen angewiesen. Auch Celebrities erlangen als Influencer auf den Digitalplattformen kraft ihrer Prominenz und ihres Prestiges den Charakter von Massenmedien.Footnote 8 Das heißt, es kommt zur Aufwertung einer Digital-Prominenz gemäß Kriterien des Plattform-Prestiges und damit zu gesellschaftlichen Machtverschiebungen (vgl. Abb. 2). Journalistische Organisationen und Rollenträger treten in der Plattform-Öffentlichkeit in vielerlei Hinsicht in Konkurrenz zu Kommunikatoren, Informations- und Medienanbietern mit massenmedialem Charakter, die dem nicht-journalistischen Kontext entstammen und sich nicht zwingend an journalistischen Standards orientieren.

Abb. 2
figure 2

Plattformisierte Öffentlichkeit

Charakterisiert man die drei Öffentlichkeitsebenen anhand der Longtail-Öffentlichkeit, so zeigen sich folgende Muster: Die Plattformisierung erhöht allgemein die Durchlässigkeit zwischen den drei Öffentlichkeitsformen. Der Vernetzungsgrad nimmt dabei von rechts nach links, d. h. vom Longtail zum Shorthead, zu. Sie ist am größten bei massenmedialen Kommunikatoren, Medien- und Informationsanbietern, die mit ihren Inhalten die meisten Verbindungen (ties) zu Encounter- und themenzentrierten Versammlungsöffentlichkeiten hinten im Longtail erzielen. Sodann wächst von rechts nach links im Übergang vom Longtail zum Shorthead die strukturelle Verfestigung der Kommunikatoren, Informations- und Medienanbieter. Allerdings ist die institutionelle Verfestigung massenmedialer Kommunikatoren nicht mehr zwingend an spezifische Strukturen wie jene von journalistischen Organisationen rückgebunden. Die Tech-Plattformen stellen eine Basisinfrastruktur zur Verfügung, die es beliebigen Rollenträgern und Organisationen unter Umgehung journalistischer Organisationen erlaubt, massenmediale Wirkung zu erzielen. Neben die Organisationsform treten zudem die Einflussgrößen Prominenz und Prestige, die in der Plattform-Öffentlichkeit maßgeblich über massenmediale Wirkung bestimmen.

Abstrahiert man von den drei Öffentlichkeitsebenen, so lassen sich in Bezug auf den plattformisierten, digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit folgende Muster festhalten (vgl. auch: Eisenegger 2017). Weil in der Plattform-Öffentlichkeit grundsätzlich jede/jeder ohne großen Aufwand Kommunikator und Informationsanbieter sein kann, hat sich in der horizontalen Dimension ein im Vergleich zur vordigitalen Ära hoch dynamisch in die Länge wachsender Longtail an öffentlichen Kommunikations-, Informations- und Medienangeboten ausgebildet. Hinten im Longtail finden sich die Laienkommunikatoren, die die Plattform-Öffentlichkeit vor allem zum Mittel der Selbstdarstellung bzw. der „mass-self communication“ (Castells 2007) nutzen, aber auch auf die massenkommunikativen Inhalte vorne im Shorthead reagieren. Der Longtail ist auch das Feld journalistischer Start-ups und der Alternativmedien, die in Opposition zum medialen „Mainstream“ stehen und teilweise desinformative Inhalte verbreiten. Und hier finden sich auch die ökonomischen, politischen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen, die ihre Partikularinteressen durchsetzen wollen, nun nicht mehr den Umweg über journalistische „Gatekeeper“ gehen müssen und auf den Plattformen mittels „Corporate Publishing“ oder „Content Marketing“ einen direkten Zugang zu ihren Zielgruppen haben. Die Öffentlichkeitsarbeit dieser Organisationen setzt auf Gestaltungsmittel, die dem Journalismus entlehnt sind. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Suchmaschinenoptimierung (SEO, Search Engine Optimization): Journalismusähnliche Inhalte erzielen bessere Rankings und Klickraten in den Trefferlisten der Suchmaschinen als Content, der werblichen oder PR-Charakter hat.

Fassen wir die Dynamik hinten im Longtail zusammen, so senkt die Plattformisierung in sozialer Hinsicht die Zugangsbarrieren zur Öffentlichkeit im Vergleich zu früheren Phasen der Digitalisierung weiter. Sie fördert die dynamische Neuinstitutionalisierung nicht- oder pseudo-journalistischer Medien-, Informations- und Öffentlichkeitsanbieter. Akteure aus beliebigen Handlungsfeldern und der Zivilgesellschaft erhalten einen direkten Zugang zur Plattform-Öffentlichkeit, ohne vom Gatekeeping professioneller Informationsmedien abhängig zu sein (Wallace 2017). Es zeigt sich eine Aufwertung der Individual- und Gruppenkommunikation und es macht sich eine Nivellierung zwischen Zentrum und Peripherie bemerkbar: Der Möglichkeitsspielraum schwächer organisierter Interessengruppen und Akteure, das Establishment herauszufordern, vergrößert sich. Zudem zeigt sich auch eine Stärkung der partikularistischen, interessengeleiteten Kommunikation. Personal, das dem Journalismus als Folge der ökonomischen Plattformisierung verloren geht (vgl. den nächsten Abschnitt), wandert nach hinten in den „Longtail“ der Plattform-Öffentlichkeit und betreibt in weiterer Folge Auftragskommunikation im Dienst von Unternehmen, Verbänden, Behörden und anderen Organisationen.

Vorne im Shorthead der digitalen Plattform-Öffentlichkeit finden sich die Kommunikatoren, Medien- und Informationsanbieter, die ein Massenpublikum erreichen. Dazu zählen zum einen die erwähnte Digital-Prominenz (Influencer), zum anderen die journalistischen Onlineangebote journalistischer Medien wie NewYorkTimes.com, spiegel.de, nzz.ch, 20minuten.ch etc. Allerdings ist das Feld journalistischer Anbieter im Shorthead durch messbare Konzentrationstendenzen geprägt (Vogler et al. 2020). Ein wesentlicher Grund ist die ökonomische Plattformisierung. Diese lässt sich beschreiben als ein Prozess der sukzessiven Ausweitung der Online-Marktmacht weniger globaler Tech-Plattformen zuungunsten journalistischer Medienanbieter. Die ökonomischen Kennwerte sind eindrücklich. International fliessen durchschnittlich 70 % jedes neu verdienten Online-Werbedollars den Tech-Plattformen zu, Geld, das dem professionellen Informationsjournalismus in weiterer Folge fehlt (Lobigs 2017). Die ökonomische Dominanz von Google, Facebook und Co. erklärt sich damit, dass die Tech-Plattformen im Data Driven Advertising den anderen Anbietern deutlich überlegen sind. Herkömmliche journalistische Informationsmedien werden aber nicht nur durch Werbeabflüsse geschwächt. Hinzu kommt, dass die Markenbindung an journalistische Medienanbieter auf den Plattformen geschwächt wird. Befragt man Plattform-Nutzende, wo sie einen journalistischen Beitrag zu einem bestimmten Thema gesehen haben, geben sie Facebook, Google oder YouTube an, nicht jedoch den Standard, die Tagesschau oder 20 min, von denen der Beitrag möglicherweise stammt. Die durch die Plattform-Nutzung reduzierte Markenbindung beeinflusst auch die Zahlungsbereitschaft für journalistischen Content negativ (Kalogeropoulos und Newman 2017).

Gesamthaft fördert die ökonomische Plattformisierung die tendenzielle Deinstitutionalisierung herkömmlicher, journalistischer Informationsmedien. Dies ist ablesbar an einer beschleunigten Konzentration im Bereich journalistischer Medienanbieter, an der Einstellung traditioneller Informationsmedien und am Personalabbau im Journalismus (fög 2019). Die globalen Tech-Plattformen pflügen das Machtgefüge im digitalen Netz jedoch nicht nur aufgrund ihrer ökonomischen Dominanz zum Nachteil traditioneller, journalistischer Anbieter um. Sie verändern auch die Kommunikationslogik in der Plattform-Öffentlichkeit weitreichend (vgl. auch Kap. 4). Neben der beschriebenen ökonomischen Plattformisierung fördert auch diese soziale Plattformisierung tendenziell die Deinstitutionalisierung herkömmlicher, journalistischer Medien. Auf den Plattformen der Tech-Intermediäre werden Inhalte und auch Inhaltsfragmente in Prozessen der Ent- und Neubündelung aus ihren Ursprungskontexten gelöst und im persönlichen Feed, den Empfehlungs- oder Trefferlisten der Nutzerinnen und Nutzer neu arrangiert (Schmidt et al. 2017). Das heisst, durch die Plattformisierung werden die Grenzen herkömmlicher, insbesondere auch journalistischer Medien unscharf. Die Nutzer erleben „Medien“ auf den Plattformen als flüchtige, emergente Gebilde, d. h. als hochdynamische Beitragscluster aus unterschiedlichsten Quellen. Journalistische wie kommerzielle oder professionell wie nicht-professionell erstellte Inhalte und Inhaltsfragmente von unterschiedlicher Qualität vermischen sich auf den Plattformen.Footnote 9 Diese Medienemergenz erfordert von der Kommunikationswissenschaft eine Neubestimmung ihres Medienbegriffs. Weg von der Untersuchung ganzer Medienmarken und Quellen wie spiegel.de oder Neue Zürcher Zeitung hin zu einer Theorie und Analytik, welche den Akzent sehr viel stärker auf die dynamische, Plattformen-getriebene Verkettung und Vernetzung von Inhalten und Inhaltspartikeln legt und diese Medienemergenz zudem systematisch aus der Nutzerperspektive, nicht der Angebotsseite, erfasst.

Inhalte erreichen die Nutzer also zunehmend weniger in abgrenzbaren Paketen spezifischer Medienmarken. Vielmehr werden sie in wachsendem Ausmaß mit einem Strom aus Inhalten und Inhaltsfragmenten konfrontiert, der in mehrfacher Hinsicht personalisiert ist (Schmidt et al. 2017). Erstens bestimmen die Nutzer selbst, welche Quellen ihren persönlichen Nachrichtenstrom speisen, indem sie Personen zu „Friends“ machen, Seiten „liken“, Kanäle abonnieren oder Twitter-Accounts folgen. Zu dieser nutzerseitig kontrollierten Personalisierung kommt zweitens die algorithmisch gesteuerte Personalisierung (Poell et al. 2019; Just und Latzer 2017; van Dijck und Poell 2013; Klinger und Svensson 2015). Wenn Inhalte personalisiert auf Nutzerprofile abgestimmt und spezifischen Zielgruppen zugespielt werden, bedeutet dies, dass die breite Öffentlichkeit davon weniger und später Kenntnis erhält. Das ist dann ein Problem, wenn es sich um problematische, beispielsweise desinformative Inhalte handelt. In der daten- und Algorithmen-gesteuerten Plattform-Öffentlichkeit mit ihrer personalisierten Zielgruppen-Ansprache nimmt diese partiell private Züge an. Die Plattform-Öffentlichkeit mutiert damit teilweise zu einer halbprivaten Kapillar-Öffentlichkeit, in der individualisiert zugeschnittene Inhalte auf individualisierten Kommunikationsbahnen kleinteilig ausdefinierten Zielgruppen zugespielt werden, und dies unter teilweisem Ausschluss einer breiten Öffentlichkeit, die eine watchdog-Funktion übernehmen könnte. Die (Teil-)Privatisierung der Plattform-Öffentlichkeit wird nicht nur durch Prozesse der Datafizierung und Algorithmisierung gefördert, sondern auch durch Messenger-Apps wie WhatsApp oder Facebook Messenger, deren Plattform-Affordanzen die private Kommunikation innerhalb von abgeschotteten Nutzer-Communities explizit fördern.

Die soziale Plattformisierung fördert schließlich – wie in Kap. 5 beschrieben – eine Plattform-Logik, die auf Animation rascher, impulsiver Nutzerreaktionen ausgerichtet ist. Verschiedene Studien belegen, dass emotional aufgeladene Beiträge mehr Reaktionen auf den Tech-Plattformen provozieren als nicht emotionale und auch prominenter in der Timeline der Nutzer erscheinen (Häuptli et al. 2020). Die sozialen Plattformen institutionalisieren sich von ihrer Grundtendenz her damit wie oben festgehalten als Algorithmen-basierte Emotionsmedien und sie definieren die Qualitätsstandards öffentlicher Kommunikation um: „Qualität“ bedeutet gemäß Facebook, dass Nutzerinnen und Nutzer wiederholt mit einem früher publizierten Inhalt interagieren, dass also Datenverkehr auf früher publizierte Beiträge gelenkt wird (Caplan und Boyd 2018, S. 6). Qualität wird gemäß den Plattform-Designern damit mit Reichweite und Nutzer-Engagement gleichgesetzt, wie dies beispielsweise auch für den Boulevardjournalismus zutrifft.

Was sind die Folgen der tendenziellen Deinstitutionalisierung herkömmlicher, journalistischer Informationsmedien? Was sind die Konsequenzen der Institutionalisierung der beschriebenen Plattform-Logiken, die emotional-impulsiven Inhalten verbesserte Resonanzchancen verschaffen? Es zeigt sich eine Deregulierung des öffentlichen Diskurses. Das window of discourse (Overton), das die Grenzen des Sag-, Zeig- und Zumutbaren festlegt, verliert auf den Tech-Plattformen an Geltung und überkommene Standards öffentlicher Kommunikation verlieren an Gewicht. Dies deshalb, weil auf den Plattformen bislang unabhängige Autoritätsinstanzen fehlen, die Qualitätsstandards und zivilisierte Kommunikationsnormen nicht nur unmittelbar aufzeigen, sondern auch durchsetzen können. Traditionelle (journalistische) Qualitätsstandards werden auf den Plattformen auch deshalb geschwächt, weil Content sehr variabler Qualität im emergenten Medienkonsum zusammenfließt und in der Regel ohne klar sichtbare Qualitäts- und Glaubwürdigkeitssignale in die Timeline der Nutzerinnen und Nutzer gelangt.

6 Fazit

In diesem Beitrag wurde argumentiert, dass eine spezifische Facette der Digitalisierung, nämlich die Plattformisierung, einen dritten Strukturwandel der Öffentlichkeit zur Folge hat. Als Plattformisierung wurde das beschleunigte Eindringen von Plattform-Elementen in das digitale Netz, d. h. ein Prozess der Entgrenzung der technischen Architekturen und eine Zunahme der sozialen Bedeutung und Reichweite der Tech-Plattformen im Ökosystem des Internets definiert. Tech-Plattformen erlangen in diesem Prozess den Status quasihoheitlicher Akteure, von denen vielfältige (de-)institutionalisierende und handlungsregulierende Wirkungen auf die Gesellschaft, die Öffentlichkeit oder Organisationen ausgehen.

Der durch die Plattformisierung ausgelöste digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit lässt sich an verschiedenen Indikatoren ablesen. Erstens werden Plattform-Logiken steuerungswirksam. Diese konstituieren sich in der Dialektik sogenannter Plattform-Affordanzen, dem tatsächlichen Plattform-Gebrauch sowie den Plattform-Algorithmen, die den Plattform-Gebrauch observieren und datafizieren. Für Plattform-Affordanzen ist charakteristisch, dass sie einen dominanten Handlungstyp stimulieren, nämlich Handlungen mit tendenziell geringem Anspruchsniveau. Gleichzeitig dominieren auf den Plattformen Nutzungsmotive, die auf das Beziehungsmanagement und die expressive Selbstdarstellung ausgerichtet sind. In der Kombination dieser Faktoren lassen sich Tech-Plattformen von ihrer Grundtendenz her daher als Emotionsmedien beschreiben.

Zweitens fördert die Plattformisierung verschiedene Strukturveränderungen digitalisierter Öffentlichkeiten. Es wurde vorgeschlagen, diese Veränderungen in Form einer plattformisierten Longtail-Öffentlichkeit zu modellieren. Vorne im Bereich des Shortheads, d. h. der reichweitenstarken Informations-, Medien- und Kommunikationsanbieter kommt es zu einer Aufwertung der Digitalprominenz gemäß Kriterien des Plattform-Prestiges. Dies hat auch Rückwirkungen auf Prozesse der gesellschaftlichen Machtverteilung. Gleichzeitig zeigt sich im Shorthead eine fortschreitende Deinstitutionalisierung journalistischer Anbieter. Der Grund ist die ökonomische Plattformisierung, die dem herkömmlichen Informationsjournalismus finanzielle Ressourcen entzieht. Hinten im Longtail senkt die Plattformisierung die Zugangsbarrieren zur Öffentlichkeit weiter ab. Sie fördert die dynamische Neuinstitutionalisierung nicht-journalistischer Medien-, Informations- und Kommunikationsanbieter. Die Einflusspotenziale für Herausforderer vergrößern sich. Schließlich verändert die Plattformisierung auch das Medienerlebnis. Die Nutzerinnen und Nutzer erfahren „Medien“ als emergierende Gebilde, d. h. als hochdynamische Beitragscluster aus unterschiedlichsten Quellen, journalistischen wie nicht-journalistischen (Medienemergenz).

Gesamthaft sind die gesellschaftlichen Konsequenzen des digitalen Strukturwandels in der Plattform-Öffentlichkeit ambivalent. Zum einen zeigt sich eine Deinstitutionalisierung journalistischer Informationsmedien und ihrer Qualitätsstandards und eine Institutionalisierung neuer Plattform-Logiken. Beides geht mit einer Deregulierung des öffentlichen Diskurses und Einbußen bei der deliberativen Kommunikationsqualität einher. Zum anderen ergeben sich aber auch verbesserte Resonanz- und Artikulationschancen für zivilgesellschaftliche Akteure. Die Diskrepanz zwischen Zentrum und Peripherie wird auf den Plattformen eingeebnet. Dadurch wird die Meinungsäusserungsfreiheit strukturell gestärkt.