«The Line»: Saudiarabien erlaubt Erschiessungen für Landgewinn - 20 Minuten

«The Line»: Saudiarabien erlaubt Erschiessungen für Landgewinn

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SaudiarabienWer «The Line» im Weg steht, wird erschossen oder verschwindet

Gegen aussen bewirbt Saudiarabien das Mega-Bauprojekt als heile neue Welt. Hinter den Kulissen setzt Mohammed bin Salman aber auf Gewalt, um an das Land für «The Line» zu kommen.

Darum gehts

  • Saudiarabien will mit «The Line» die Stadt der Zukunft bauen.

  • Dafür sind der Regierung von Mohammed bin Salman offenbar alle Mittel recht.

  • In den letzten Jahren präsentierte sich der Ölstaat immer liberaler, hinter den Kulissen hat sich aber nicht viel geändert.

Seit Jahren rührt Saudiarabien für ihr Mega-Projekt «The Line» kräftig die Werbetrommel: Mitten in der Wüste soll auf 170 Kilometern Länge eine hochmoderne, autofreie Stadt aus dem Boden gestampft werden und künftig für neun Millionen Menschen ein Zuhause sein.

Die Kosten für die Stadt, die ihren Namen wegen ihrer geringen Breite von gerade mal 200 Metern hat, dürften mindestens 200 Milliarden Dollar betragen, andere Experten gehen eher von einer Summe um eine Billion Dollar aus. Als Flaggschiff von «Neom», dem Prestigeprojekt von Kronprinz Mohammed bin Salman, sollen die Hochglanz-Bauten Saudiarabiens Abhängigkeit von Öl verringern.

Soldaten vertreiben Stammesbewohner

Und dafür sind bin Salman offenbar alle Mittel Recht: Wie der mittlerweile im Exil lebende Ex-Oberst Rabih Alenezi berichtet, war er an der Vertreibung von Mitgliedern eines traditionellen Stammes beteiligt, um in der Region Platz für «The Line» zu machen. Dabei sei ein Mann erschossen worden, der sich gegen die Vertreibung aus seinem Wohnort gewehrt hatte.

Laut Alenezi, der letztes Jahr nach Grossbritannien geflüchtet war, sei er mit der Räumung vom Dorf al-Khuraybah 4,5 Kilometer südlich vom geplanten Verlauf von «The Line» beauftragt worden. Der Befehl habe dabei gelautet, dass «jeder, der sich widersetzt, getötet werden soll». Zudem sei auch Gewalt gegen Personen, die sich in ihren Häusern verbarrikadieren, explizit erlaubt gewesen.

Beschwerde endete tödlich

Ein Fall, in dem sich eine Person «The Line» in den Weg stellte und dafür mit dem Leben bezahlte, ist jener von Abdul Rahim al-Huwaiti. Er verweigerte eine finanzielle Einschätzung seines Grundstücks, zuvor hatte er bereits in mehreren Videos gegen die Zwangsräumungen protestiert. Einen Tag nach seiner Weigerung wurde al-Huwaiti bei der Räumung von saudischen Sicherheitskräften erschossen.

Die Staatssicherheit behauptete damals, der Mann habe das Feuer auf das Sicherheitspersonal eröffnet und sei deshalb erschossen worden. Aus Sicht von Menschenrechtsorganisationen und auch den Vereinten Nationen steht aber fest, dass al-Huwaiti nur getötet wurde, weil er sich der Räumung widersetzt hatte.

Die britische Non-Profit-Organisation ALQST befragte 35 Vertriebene aus den Vierteln von Jeddah. Keiner von ihnen hatte eine Entschädigung oder eine ausreichende Vorwarnung erhalten, wie es die saudischen Gesetze eigentlich besagen. Mehr als die Hälfte sagte zudem aus, unter Androhung einer Verhaftung aus ihren Häusern vertrieben worden zu sein.

«Leere Leinwand» ist in Wahrheit bewohnt

In der Vergangenheit beschrieb bin Salman die Region zwischen dem Roten Meer und dem Nordwesten Saudiarabiens als «perfekte leere Leinwand» – seit Beginn der Bauarbeiten sind laut Angaben seiner Regierung aber bereits über 6000 Menschen umgesiedelt worden, Menschenrechtsorganisationen wie ALQST schätzen diese Zahl deutlich höher ein.

Beim Vergleich von Satellitenbildern wird schnell klar, dass in den letzten Jahren ganze Dörfer von Bulldozern plattgemacht wurden. Nebst den Häusern der Anwohner von al-Khuraybah, Sharma und Gayal verschwanden auch Spitäler und Schulen. In Gayal ist auf Google Maps beispielsweise noch gut zu sehen, wo zuvor Nachbarschaften und Häuser standen.

Die Umrisse von abgerissenen Nachbarschaften sind auch auf Google Maps noch immer erkennbar.

Die Umrisse von abgerissenen Nachbarschaften sind auch auf Google Maps noch immer erkennbar.

Screenshot/Google Maps

Oberst Rabih Alenezi ist sich sicher: «Mohammed bin Salman wird dem Bau von Neom nichts im Wege stehen lassen.» Denn «The Line» ist das Herzstück des Projekts, mit dem der Kronprinz das Image seines Landes aufpolieren will. Daneben versucht Saudiarabien auch, mit dem Einkauf bekannter Fussballer und Sportevents neue Geldquellen zu gewinnen.

Wirkliche Reformen fehlen dabei aber: Zwar erlaubt bin Salman in gewissen Bereichen eine Liberalisierung der Gesellschaft, aber nur, wenn sich diese zu 100 Prozent mit den Zielen seiner Regierung vereinbaren lässt. Die Zahl der Hinrichtungen ist derweil seit der Machtübernahme durch bin Salman im Januar 2015 explodiert.

Wie stehst du zu Megaprojekten wie «The Line», die massiv in das Leben und die Umgebung lokaler Gemeinschaften eingreifen?

Derweil sehen einzelne Experten das Projekt schon jetzt als gescheitert an: Eigentlich sollten bis 2030 schon 1,5 Millionen Menschen in «The Line» leben – weil die Neom-Verantwortlichen bis dann aber voraussichtlich erst 2,4 Kilometer und damit knapp 1,5 Prozent der angestrebten Gesamtlänge fertiggestellt haben werden, dürfen es wohl weniger als 300'000 Leute sein.

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