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Bei diesem Wort setzt alles aus

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Anker fürs Leben: Das Wort „Mama“ gehört zu den beliebtesten Tattoo-Motiven. Dieses hier ziert den Oberarm der britischen Sängerin Beth Ditto Anker fürs Leben: Das Wort „Mama“ gehört zu den beliebtesten Tattoo-Motiven. Dieses hier ziert den Oberarm der britischen Sängerin Beth Ditto
Das Wort „Mama“ gehört zu den beliebtesten Tattoo-Motiven, hier an Beth Ditto
Quelle: action press/VISUAL
Für kleine Chinesen ist es ebenso das erste Wort wie für Babys, deren Mütter Suaheli sprechen: Mama! Woher die Universalität der vier Buchstaben rührt – und warum sie auch Sprengstoff bergen.

Der 2019 verstorbene dänische Familientherapeut Jesper Juul war nicht nur für die überaus hilfreiche hohe Qualität seiner Erziehungsratgeber bekannt, sondern auch für seinen moderaten Ton.

Umso bemerkenswerter ist die Kompromisslosigkeit, mit der er sich über Familien äußerte, in denen Söhne und Töchter die Eltern mit dem Vornamen ansprechen. Ein solches Kind, so Juul, sei genau genommen ein Kind, das keine Eltern habe.

Das ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen, sondern war die Zuspitzung seiner Überzeugung, dass Mütter und Väter nicht die Partner ihrer Kinder sein sollten, sondern „Leuchttürme“, die Orientierung bieten, und manchmal auch „Leitwölfe“, die liebevoll die Führung übernehmen. Und diese Rollenverteilung sollte auch in der Anrede angemessen zum Ausdruck kommen.

Tatsächlich werden in Deutschland nur in sehr wenigen Familien Mütter und Väter beim Vornamen genannt. Laut einer vor einigen Jahren vom Meinungsforschungsinstitut YouGov durchgeführten Umfrage sind es gerade mal zwei Prozent. In den neuen Ländern waren demnach „Vati“ und „Mutti“ mit 55 Prozent die beliebtesten Bezeichnungen, in der alten Bundesrepublik überwogen mit 57 Prozent „Papa“ – und „Mama“.

M-A-M-A. Vier Buchstaben, die an dieser Stelle einer besonderen Betrachtung und Würdigung unterzogen werden sollen. Bitte nicht falsch verstehen! „Mutti“ ist genauso schön als Ausdruck für die innigste Bindung der Welt. Aber hier soll es um das Wort gehen, das noch vor „Mutti“ gesprochen wird.

Um dieses Zauberwort, bei dem alles aussetzt, sobald es zum ersten Mal aus dem Mund des Kleinkindes kullert. Das Wort, das in diesem magischen Moment Mutter zu Tränen rührt – jedenfalls nicht daran denken lässt, was auch kommt: Tage nämlich, an denen es so sehr nervt, ständig gerufen zu werden, dass man es nicht mehr hören kann: „Mama!“

Was hat es nur auf sich mit diesem Wort, das in leichten Abwandlungen in so vielen indoeuropäischen Sprachen und auch anderen Sprachfamilien vorkommt? Das für chinesische Kinder in der Regel ebenso das erste ist wie für jene, deren Muttersprache Suaheli sein wird?

„Mama“ hat etwas Archaisches, kann einer Mutter ganz plötzlich ins Bewusstsein rufen, Teil einer weltweiten Menschenfamilie zu sein. Es hat etwas von einer uralten Ehrbezeichnung. Und bei Gedanken wie diesen kann vor dem geistigen Auge eine Höhlenbewohnerin auftauchen, die ganz entzückt ist, weil ihr in Fell gekleidetes Baby gerade zum ersten Mal „Mama“ brabbelt.

Das sind Fantasien, die sich wissenschaftlich allerdings genauso wenig belegen lassen wie die Herkunft des Wortes aus einer Ursprache. Aus den Anfängen der Sprachentstehung sind keinerlei Äußerungen überliefert. Die Linguistik hat eine andere Erklärung für die weite Verbreitung dieser vier Buchstaben.

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„,Mama‘ ist ein sogenanntes Lallwort“, sagt Eugen Hill, Professor für vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Köln. Der Begriff bezeichne eine von Kleinkindern einfach zu artikulierende Lautfolge, die in den Familien übernommen werde. Auch „Papa“ gehört natürlich dazu.

„Das Besondere an Lallwörtern ist“, sagt Eugen Hill, „dass sie in einigen Fällen nicht den normalen Entwicklungsgesetzen regulärer Wörter unterliegen.“ So merke man „Mama“ mit der Endung auf „a“ sofort an, dass es kein gewöhnliches deutsches Wort ist. Weibliche Substantive, die im Deutschen mit einem Vokal enden, so Hill, gehen für gewöhnlich mit einem unbetonten „e“ aus. Zum Beispiel „die Katze“ oder „die Sonne“.

Ganz ähnlich wie „Mama“ und „Papa“ hätten sich wohl auch Varianten von Vornamen entwickelt wie „Hannes“ oder „Jens“ aus „Johannes“, die vermutlich ebenfalls deshalb entstanden sind, weil kleine Kinder den ursprünglichen Namen nicht aussprechen konnten. Die neue Form sei dann über Generationen weitergegeben worden.

„Bei ,Mama‘ aber“, so Hill, „hat sich ein Lallwort praktisch in der ganzen Sprechergemeinschaft durchgesetzt.“ Das liege mit großer Wahrscheinlichkeit an der besonderen Wärme, die es vermittele. Immerhin stamme es aus der Interaktion zwischen einem Kleinkind und seiner Mutter und löse bestenfalls ein gutes Gefühl von Familie und Zuhause aus.

Es ist wirklich schwer, sich der Emotionalität zu entziehen, die das Wort „Mama“ transportiert. Seine Intimität kann Außenstehende bisweilen irritieren, sogar peinlich berühren. Wenn ein Mann seine Frau „Mama“. Oder wenn eine Enddreißigerin gegenüber weniger nahe stehenden Menschen nicht von „meiner Mutter“, sondern nur von „Mama“ spricht.

Hier ist Toleranz gefragt. Und vielleicht sogar Wertschätzung für ein möglicherweise ungewöhnliches, aber doch inniges Verhältnis, nach dem sich so manche zerrüttete Familie sehnt.

Toleranz. Wie sehr sie auch beim Gebrauch von „Mama“ herausgefordert ist, offenbarte kürzlich ein Sprachkodex, der an mehreren staatlichen Grundschulen im britischen Brighton verabschiedet wurde.

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Danach sind Lehrer und Schüler aufgefordert, weder von „Mama“ noch von „Oma“, „Opa“ oder „Papa“ zu reden, sondern nur von „Erwachsenen“. Damit solle jeglicher Diskriminierung nicht-traditioneller Familien vorgebeugt werden.

Die 68er mit ihrem antiautoritären Erziehungsideal waren natürlich auch der Meinung, dass „Mama“ und „Papa“ auf den Müllhaufen reaktionärer Begriffe gehörten, die nichts anderes bezwecken würden, als Hierarchien zu zementieren. Um auf Augenhöhe mit den Kindern zu kommunizieren, war man gefälligst „der Werner“ oder „die Ulla“.

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Ob die ungeheure Resonanz, die damals Heintje mit seiner Ode an die wichtigste Frau seines Lebens bekam, auch als Gegenbewegung zu einem Zeitgeist zu erklären ist, der „Mama“ auf den Index setzte? Nachdem der Zwölfjährige 1967 in der Vico-Torriani-Show „Der goldene Schuss“ vor dem deutschen Fernsehpublikum seine Schnulze zum Besten gab, landete er direkt in den Charts. „Mama!“, trällerte er. „Ich werd es nie vergessen, was ich an dir hab’ besessen. Dass es auf Erden nur eine gibt, die mich so heiß hat geliebt.“

„Mama“ wurde hier zum Inbegriff des westdeutschen Ideals der Mutter und Hausfrau, die noch bis 1977 ihren Ehemann fragen musste, ob sie arbeiten gehen darf. Da war die werktätige „Mutti“ der DDR schon weiter. Und das Pionierlied „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“ ein sehr praktischer Appell an die Kinder, sie zu unterstützen.

Altmodisch ist das nicht. Bis heute leisten die Frauen – auch wenn sie berufstätig sind – den größten Teil der Haus- und Familienarbeit. Ob als „Mutti“ oder „Mama“.

Schönen Muttertag!

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