Heideggers Vermächtnis: Wir sind in die Welt geworfen
Heute vor 47 Jahren starb Martin Heidegger. Seine Ausrichtung auf das je eigene menschliche Leben als Ausgangspunkt seiner Philosophie, machte ihn zu einem der wirkmächtigsten Erneuerer des Denkens im 20. Jahrhundert.
Erinnern wir uns! Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebt der junge Martin Heidegger in einer katholischen Welt. Glocken rufen zur Messe: Leib wird Brot, Blut wird Wein. Der Theologiestudent liest Bücher, die ihn aufwühlen: Friedrich Nietzsche spricht vom Tode Gottes, Søren Kierkegaards und Fjodor Dostojewskis Werke lassen zerquälte Seelen zum ersten Mal in deutscher Übersetzung sprechen, und die wichtigen Dichter sind Rainer Maria Rilke und Stefan George. Dann bricht der Große Krieg aus. Heidegger durchsucht 1915 zuerst Feldpostbriefe auf feindliche Propaganda, dann wird er zur Wetterbeobachtung abkommandiert. Franz Kafka veröffentlicht Die Verwandlung; es ist die Zeit, in der sich sehr gewöhnliche Bürger in Käfer verwandeln. Der Krieg endet für Deutschland in einem Desaster.
1917 heiratet Heidegger Elfride Petri. Nicht nur der Beginn der Ehe ist turbulent. Der zweite Sohn Hermann, geboren im August 1920 (der erste Sohn Jörg wird im Januar 1919 geboren), entstammt einer kurzen Affäre Elfrides. Wer Heideggers Briefe jener Zeit an Elfride liest, meint zuweilen einen dostojewskischen Roman vor sich zu haben. Dann beginnt Heideggers kometenhafter Aufstieg als Philosoph. Später wird Hannah Arendt sich an diese Zeit erinnern, wenn sie Heidegger den „heimlichen König“ „im Reich des Denkens“ nennt. Und wirklich war Heideggers Auftritt in der verknöcherten deutschen Philosophie sensationell.
Doch zurück zu Heideggers ersten Briefen an seine Frau. Das Frappierende an ihnen ist, dass Heidegger hier vor allem eines verfolgt: seiner Frau klarzumachen, dass er ein Philosoph sei, der, wie es einmal in Nietzsches Also sprach Zarathustra heißt, nicht nach Glück, sondern nach einem Werk trachte. „Ich weiß heute, daß es eine Philosophie des lebendigen Lebens geben darf – daß ich dem Rationalismus den Kampf bis aufs Messer erklären darf – ohne dem Bannstrahl der Unwissenschaftlichkeit zu verfallen“, schreibt er 1916. Das war das Programm, das natürlich vom eigenen Leben nicht absieht. Das „lebendige Leben“, das sollte auch das mit Elfride sein; mehr noch: Es sollte zuerst im Alltag stattfinden, um von dort aus philosophisches Thema zu werden.
Heidegger als „angry young man“
Das ist übrigens wichtig. Denn im Umgang mit Heidegger war es stets üblich, Biografie und Philosophie voneinander zu trennen. Wahrscheinlich hat auch dazu Hannah Arendt beigetragen. Im selben Text, in dem sie von Heidegger als „heimlichem König“ der Philosophen spricht, erwähnt sie eine Anekdote. Ihr Lehrer und Geliebter habe in einer Vorlesung die „biographische Einleitung“ in das Denken des Aristoteles darauf reduziert, dass dieser „geboren wurde, arbeitete und starb“. Ein Missverständnis, denn der Kontext der Stelle will gerade besagen, dass in der Philosophie Leben und Arbeit zu einer Einheit werden. Der Philosoph lebt auch als Philosoph. Genau das zeigt nicht nur der Briefwechsel zwischen Heidegger und seiner Frau, sondern alle Briefwechsel.
Das Programm, das sich Heidegger am Beginn seiner akademischen Karriere ausgedacht hatte, lautete: Eine in trockener Wissenschaftlichkeit feststeckende Philosophie muss wieder mit dem von ihr verdrängten Leben vereint werden. Dabei dachte er sowohl an die von Edmund Husserl vertretene Phänomenologie, die dieser in einem Aufsatz von 1911 als „strenge Wissenschaft“ begründet hatte, als auch an den von Ernst Cassirer repräsentierten Neukantianismus. Mit der Kritik an den herrschenden Philosophien präsentierte sich Heidegger als „angry young man“ des Denkens. Er wollte das Establishment ärgern.
Das Programm wurde realisiert. Bereits in einer seiner ersten Vorlesungen als Privatdozent im Winter 1919/20, er nennt sie Grundprobleme der Phänomenologie, wird das Originelle deutlich. Wenn man die Vorlesung liest, spürt man noch heute, wie er die Studierenden verzauberte. Es geht um das gelebte Leben, um das, was er später Existenz nennen wird: „Oder wieder: man freut sich am Leben, lebt in großen Hoffnungen, gibt sich aus an andere. Es ist eine Lust zu leben. Dann ist’s wieder eine Qual. Man leidet am Leben und seinen Unvollkommenheiten; man wird erdrückt von dem, was es täglich ‚bringt‘. Es kommen Stunden der Verzweiflung; man ist zurückgestoßen von allem, was sich aufdrängt. Auf jenes muß man verzichten, anderes fällt einem in den Schoß. Menschen, denen man nahe stand, mit denen man in einer gemeinsamen Richtung lebte, werden einem fremd; andere treten in den engeren Bezirk des eigenen Lebens. Man spricht sich ihnen gegenüber aus, befreundet, liebt sich. Man wächst selbst in der Gemeinschaft mit anderen. Und in all diesem Leben ist man selbst zuweilen für sich selbst da.“
Lebendige Gegenwart
„Dem Rationalismus den Kampf bis aufs Messer erklären“ – Heidegger ging davon aus, dass der Rationalismus von Husserls Phänomenologie und Cassirers Neukantianismus diese Bewegung des Lebens nicht nur nicht thematisieren könne. Er meinte außerdem, dass die wissenschaftliche Ignoranz gegenüber dem täglichen Leben in der Philosophie nicht geduldet werden dürfe. Hat die Philosophie es nicht überhaupt und überall mit dem Leben zu tun? Was, wenn nicht das Leben, soll Thema des Philosophierens sein?
Es ist immer gut, wenn man bei einem so anspruchsvollen Vorhaben nicht allein ist. Heidegger fand einen Verbündeten. Als er 1919 Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen las, hatte er ihn gefunden. Nach einem Besuch 1920 schreibt er an ihn, er habe das „‚Gefühl‘ gehabt“, „aus derselben Grundsituation an der Neubelebung der Philosophie“ zu arbeiten. Jaspers hatte in der Psychologie der Weltanschauungen seine Entdeckung der „Grenzsituationen“ präsentiert. Die hat er einmal so beschrieben: „Das Gemeinsame aller Grenzsituationen ist, daß sie Leiden bedingen; das Gemeinsame ist aber auch, daß sie die Kräfte zur Entfaltung bringen, die mit der Lust des Daseins, des Sinns, des Wachsens einhergehen.“ „Kampf, Tod, Zufall, Schuld“ wurden als philosophische Probleme zugänglich. Das war es, was Heidegger und Jaspers bei Kierkegaard und Dostojewski als Lebensthemen kennenlernten und im Weltkrieg in praktischer Anwendung vorfanden.
So war es auch Jaspers, bei dem Heidegger den Begriff fand, mit dem er das „lebendige Leben“ in eine wissenschaftliche Fassung bringen konnte. Jaspers hatte bereits in der Einleitung zur Psychologie der Weltanschauung entschieden: „Wir häufen nicht systematisch nach Regeln Einzelmaterial, wie als Fachwissenschaftler, sondern wir gewinnen Anschauung, indem wir uns überall, in jede Situation, in jede Wendung der faktischen Existenz versenken, indem wir in jedem Element des Daseins, z.B. als Erkennende in allen Wissenschaften nacheinander, leben.“ Das war es, was auch Heidegger wollte: als Philosoph leben und in „lebendiger Gegenwart“, von der sein Lehrer Husserl öfter sprach, das Leben als wissenschaftliches Thema untersuchen.
Die Frage nach dem „ich bin“
Heidegger war von Jaspers’ Buch so angetan, dass er eine ausführliche Rezension verfasste und sie 1921 nach Heidelberg, wo Jaspers lehrte, schickte. In einem Brief entschuldigt er sich für den Stil. Er sei „sehr gedrängt und schwerfällig“. Er sei „mehr griechisch als deutsch“, da er, Heidegger, in der letzten Zeit „fast ausschließlich Griechisch“ gelesen habe. In der Tat sollte Heidegger im Wintersemester 1921/22 zum ersten Mal eine Vorlesung über Aristoteles halten. Er fand, dass die Griechen etwas vom Leben verstanden, was in Vergessenheit geraten war.
„Existenz“, heißt es in der Rezension, die erst viel später, 1973 veröffentlicht werden sollte, könne „gefaßt werden als eine bestimmte Weise des Seins, als ein bestimmter ‚ist‘-Sinn, der wesentlich (ich) ‚bin‘-Sinn ‚ist‘“. „Entscheidend“ werde „also, daß ich mich habe, die Grunderfahrung, in der ich mir selbst als Selbst begegne, so daß ich in diesem Erfahren leben, seinem Sinn entsprechend fragen“ könne „nach dem Sinn meines ‚ich bin‘“. Heidegger dachte an den alten Sinn des lateinischen Wortes „existentia“. Die mittelalterliche Philosophie hatte sie von der „essentia“ unterschieden. Die besagt, was ein Ding ist, existentia, dass es ist. Damals, im Mittelalter, hatte das zweite kaum jemanden interessiert. Jetzt, nach den Erfahrungen der Materialschlachten des Großen Krieges wurde es wichtig, nach meinem Lebens-Sinn, eben dass ich bin, zu fragen.
Die Literatur hatte diese Erfahrung vorweggenommen. Rilke zum Beispiel hatte bereits 1910, im Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, seine verstörenden Paris-Erfahrungen zusammengefasst: „Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod?“ Und weiter: „Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist dazu gezwungen: nun, keine Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur. Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehört, die man hat“. Heidegger las den Roman und zog seine Schlüsse.
Einzigartigkeit als wichtigstes Kriterium
Das ist dann in das Buch eingegangen, das Heideggers Bedeutung für die Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts begründete: Sein und Zeit. In diesem Werk hat Heidegger den Begriff der Existenz virtuos entfaltet. Die Wissenschaft vom nicht nur unwissenschaftlichen, sondern nachgerade antiwissenschaftlichen Leben schien ihre reifste Form gefunden zu haben. „Das ‚Wesen‘ des Daseins liegt in seiner Existenz“, heißt es da. Der Satz will sagen, dass das menschliche Leben nicht durch objektive Eigenschaften bestimmbar ist. Das klingt zunächst seltsam. Doch es ist wahr: Mein Leben ist nicht wie ein Tisch oder ein Brot zu beschreiben. Es hat keine Ausdehnung, keine Farbe und ist nicht dazu da, dass man etwas mit ihm macht.
Mit dieser harmlos aussehenden Bemerkung wird eine besondere Einsicht begründet. Das „Dasein“ beziehungsweise der Mensch existiert, er hat eine Existenz. Das Verhältnis von Mensch und Existenz ist reflexiv. Die Existenz des Menschen bestehe darin, dass er „je sein Sein als seiniges zu sein“ habe. Das ist eine dieser seltsamen Formulierungen, wie sie bei Heidegger häufig vorkommen. Existenz ist immer meine. Ich existiere nicht wie ein Volkswagen, sondern ich verhalte mich zur Existenz, die dadurch meine wird. Außerdem habe ich meine Existenz „zu sein“. Das ist keine Absage an den Selbstmord, über den Heidegger, anders als der französische Urexistenzialist Albert Camus, kaum nachdenkt. Vielmehr zeigt sich mir meine Existenz in diesem Licht. Ich bin, ich lebe, und das ist ein Faktum, das ich schlechthin nicht ignorieren kann. Heidegger nennt das „Sorge“.
Weil die Existenz „je meine“ ist, weil du dich anders zu dir selbst verhältst als ich mich zu dir verhalten kann, kann sie „eigentlich“ oder „uneigentlich“ sein. Ich kann mich zu meiner Existenz selbst verhalten, indem ich die Einzigartigkeit meines Lebens als wichtigstes Kriterium für dieses ansetze. Ich kann mich aber auch den allgemein üblichen Lebensweisen anpassen, mich ihnen fügen. Dann werde ich zu jenem „man“, das Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge mit dem Sterben eines „fabrikmäßigen“ Todes verbindet.
Sich als geworfen erkennen
In der Tat scheint Heidegger besonders diese Passagen des Buches gelesen zu haben. Denn er begründet den Unterschied zwischen einer „eigentlichen“ und einer „uneigentlichen“ Existenz auf ihrem jeweils unterschiedlichen Verhältnis zum Sterben und zum Tod. Ich lebe mein einzigartiges Leben vor allem dann, wenn ich mich mit meinem Tod konfrontiere, wenn ich anerkenne, dass meine Existenz ein „Sein zum Tode“ ist. Denn wenn ich diese absolut gewisse Tatsache wirklich anerkenne, kollabiert meine Anpassung an übliche Lebensweisen. Ich bin dann so auf mich selbst zurückgeworfen, dass die Anpassungsoption, „man“ tue eben etwas so und so, gar nicht erst erscheint. Im Grunde stirbt „man“ nicht.
Meine Existenz ist also endlich. Charakteristisch ist daher auch, dass ich mir in all meinem Freiheitsbewusstsein nicht aussuchen kann, ob und wann und wie ich geboren werden möchte. Diese Tatsache klingt banal, ist aber für mich von allergrößter Wichtigkeit. Werde ich beispielsweise als Kind einer reichen deutschen Familie mit Villa am Tegernsee geboren, dann stehen mir andere Möglichkeiten offen als einem syrischen Kind, das auf der Flucht vor dem in seinem Land tobenden Bürgerkrieg geboren wird. Heidegger nennt das „Geworfenheit“. Das ändert nichts daran, dass ich mich auch frei zu und in meiner Existenz verhalten – „entwerfen“ – kann. Deshalb steht die „Geworfenheit“ in einem Verhältnis zum „Entwurf“. Jeder „Entwurf“, so heißt es oft, sei ein „geworfener“.
Heidegger hat diesen Aspekt der „Geworfenheit“ der Existenz dann auf andere Bereiche übertragen. Ich kann mir nicht nur nicht aussuchen, ob, wann und wie ich geboren werde, sondern auch nicht wo. Für Heidegger hängt das mit der Zugehörigkeit zu einem „Volk“, ja, auch zu einer „Rasse“ zusammen. Hier erfahre der Mensch sein „Geschick“. Nicht nur das hat Kritik hervorgerufen.
„Absolute Selbstischkeit“
Schon Max Scheler, ein Kollege und ebenso berühmter Philosoph der zwanziger Jahre, meinte, dass es nicht die Angst vor dem Tod sei, die uns eigentlich existieren lasse, sondern die erotische Liebe. Andere erinnerten daran, dass diese Betonung des „Vorlaufens zum Tod“, so heißt es in „Sein und Zeit“, etwas mit dem Frontverhalten der Soldaten des Großen Krieges zu tun habe. Liefen sie nicht vor in die feindlichen Schützengräben? Überhaupt gab es später im „Dritten Reich“, für das sich Heidegger zuerst begeisterte und es dann zugleich kritisch und doch loyal betrachtete, einen Kult des Todes, den Kritiker auch bei Heidegger erkennen wollten.
Hannah Arendt veröffentlichte nach dem Zweiten Weltkrieg, 1948, in einer von Karl Jaspers mitherausgegebenen Reihe eine Sammlung von Sechs Essays. Einer hat den Titel: Was ist Existenz-Philosophie? Auch sie wirft Heidegger vor, er habe mit seiner Betonung des Todes aus der Existenz eine „absolute Selbstischkeit“ gemacht. In „dieser absoluten Vereinzelung“ vor dem Tode stelle sich heraus, „daß das Selbst der eigentliche Gegenbegriff zum Menschen“ sei. Kant habe gezeigt, das „Wesen des Menschen“ bestehe darin, „daß jeder einzelne Mensch die Menschheit“ repräsentiere. Nach der französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte gehöre es zum „Begriff des Menschen“, „daß in jedem Einzelnen die Menschheit geschändet oder gewürdigt“ werden könne. Ein Selbst, das „unabhängig von der Menschheit“ existiere, sei nur „seine eigene Nichtigkeit“.
Arendt sah, dass es im Zeitalter eines universalistischen Moral- und Politikverständnisses problematisch ist, wenn die Existenz in ihrer „Geworfenheit“ mit der Endlichkeit einer Volks- oder Rassenzugehörigkeit zusammenfällt, und das vor allem dann, wenn man aus ihnen wie Heidegger um 1933 „metapolitische“ Konsequenzen ableiten wollte. Dann wird „das Deutsche“ oder „das Amerikanische“ zu einem unentrinnbaren Schicksal. Die Hautfarbe wird zu einem Merkmal, das politisch missbraucht werden kann. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass „Geworfenheit“ individuelle Existenz beeinflusst – und es wäre eine politische Revolution ohnegleichen, wenn sie es nicht mehr täte. Danach hat Theodor W. Adorno in seinem Jargon der Eigentlichkeit von 1964 Heideggers Bemerkungen zum Tod das „zentrale Kapitel“ in Sein und Zeit genannt. In ihnen zeige sich ein „Einverständnis mit dem Seienden“. Es lebe „von der Komplizität mit dem Tod“. „In dessen Metaphysik“ braue „alles das Unheil sich zusammen, zu dem die bürgerliche Gesellschaft physisch kraft ihres eigenen Bewegungsgesetzes sich“ verurteile. Dieses „fortschwelende Unheil“ aber sei der „Faschismus“, dem in Heideggers Sprache „Asyl gewährt“ werde. Adornos Urteil war wirkungsvoll. In der frühen bundesrepublikanischen Öffentlichkeit spielte Heideggers Denken keine Rolle.
Der Paukenschlag
Nachdem „Sein und Zeit“ erschienen war, wurde es primär als Existenzphilosophie wahrgenommen. Das hat Heidegger keineswegs gefallen. In den seit ein paar Jahren veröffentlichten „Schwarzen Heften“ wehrt er sich heftig gegen diese Bezeichnung: „Hätte man nur im Groben die Seinsfrage begriffen, d.h. daß das überhaupt die Frage ist – seit Platon bis zu Hegel ist es keine mehr, und was noch kommt, zählt überhaupt nicht – hätte man nur dies begriffen, dann hätte man ‚Sein und Zeit‘ nicht als Anthropologie oder als ‚Existenzphilosophie‘ mißdeuten und mißbrauchen können.“ Wirklich hatte Heidegger in „Sein und Zeit“ betont, dass es um die „Frage nach dem Sinn von Sein“ gehe. Die Betrachtung der Existenz mit all ihren theoretischen Innovationen (so spricht Heidegger in Anlehnung an die „Kategorien“ von „Existenzialien“) hatte nur zur Methode der Beantwortung jener Frage gehört, nicht aber schon zur Antwort selbst.
Diese Selbstinterpretation trifft zu. Während Jaspers seinen Weg zum Projekt der „Existenzerhellung“ in seiner 1932 veröffentlichten dreibändigen „Philosophie“ weiterging, war Heidegger spätestens seit „Sein und Zeit“ an einem Denken interessiert, das die Existenz als Thema zwar weiter im Auge behielt, aber doch an einem anderen, größeren Problem arbeitete. Es ging nur insofern noch um die Existenz, als sie zu einem „Sein“ gehörte, das überhaupt alles, was war, ist und sein wird, betraf.
Mit dem „Brief über den Humanismus“ erschien Heidegger 1949 mit einem Paukenschlag wieder aus der Versenkung, in der er nach dem Krieg zunächst verschwunden war. Der französische Philosophieprofessor Jean Beaufret hatte Heidegger gefragt, wie man dem Humanismus noch einen Sinn geben könne, wenn so etwas wie der Zweite Weltkrieg und der Holocaust möglich gewesen war. Jean-Paul Sartre hatte schon 1946 seinen Vortrag mit dem programmatischen Titel „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ publiziert. Heidegger schreibt jetzt Existenz als „Ek-sistenz“. Sie sei „das Stehen in der Lichtung des Seins“. Das lateinische Verb „sistere“ bedeutet „zum Stehen bringen“. Ex-sistere meint dann Heraus-stehen. Der Mensch steht aus sich heraus in eine Offenheit, die ihm von der „Lichtung des Seins“ zugespielt wird. Sie ist selbst die „Ek-sistenz“.Wenn der Philosoph schreibt, dass sich die „Ek-sistenz“ „nur vom Wesen des Menschen sagen“ lasse, dann befindet er sich einerseits in der Nähe seiner früheren Auffassung, dass das „‚Wesen‘ des Daseins in seiner Existenz“ liege. Andererseits korrigiert er nun das Missverständnis, sein Denken sei Existenzphilosophie. Es gehe nur um die „Ek-sistenz des Menschen“ insofern, als sie die „Lichtung des Seins“ sei. Diese „Lichtung des Seins“ aber sei nichts Menschliches.
Auf der Suche nach dem verlorenen Leben
Ist – wie eben auch Adorno meint – Heideggers Auslegung der Existenz womöglich eine Ursache für sein Engagement im „Dritten Reich“? Die frühe Kampfansage an den „Rationalismus“ legt den Verdacht nahe, dass Heidegger die von den Nationalsozialisten ideologisch vorgetragene Verachtung der Vernunft (die allerdings in der Modernisierung des Staates bzw. des Militärs ad absurdum geführt wurde) gleichsam entgegengekommen ist. Die mit jener Verachtung verbundene andere Verachtung einer unabhängigen Philosophie behagte Heidegger jedoch keineswegs. Nach einer kurzen Inszenierung als NS-Chefphilosoph knüpfte er wieder an die großen alten Texte der Philosophie an und verteidigte sie gegen die Ideologen. Unter Existenz verstand er etwas anderes als die verquast-technokratische Selbstauffassung der SS-Schergen, die keineswegs Angst vor dem Tod hatten. Und doch ist nicht zu bestreiten, dass ein Kampf mit der Vernunft politische Risiken enthält.
Heideggers Philosophie der Existenz hat zwar keine Mode wie der Existenzialismus sartrescher Prägung (schwarzer Rollkragenpullover und Leben in Pariser Cafés zur Musik von Miles Davis’ Birth Of The Cool) hervorgebracht, dennoch wurde sein Denken von Anfang an mit einem Lebensstil verbunden. Thomas Bernhard hat das in den Alten Meistern persifliert: „Heidegger kann ich nicht anders sehen, als auf der Hausbank seines Schwarzwaldhauses, neben sich seine Frau, die ihn zeitlebens total beherrscht und die ihm alle Strümpfe gestrickt und alle Hauben gehäkelt hat und die ihm das Brot gebacken und das Bettzeug gewebt und die ihm selbst seine Sandalen geschustert hat.“ Daran ist vieles falsch, doch die Anspielungen sind deutlich. Die Denkergestalt Heidegger repräsentiere provinzielle Gemütlichkeit.
Die weltoffenen, urbanen Philosophen Camus und Sartre sind von einem dermaßen heimatverbundenen Lebensgefühl undenkbar weit entfernt. Beide gehen von einer in dunkelsten Zeiten erfahrenen abgründigen Verlorenheit der Existenz aus. Der eine deutet sie als das Absurde, als unentrinnbare Sinnlosigkeit, der andere als unausweichliche Freiheit und Verantwortung. Auch wenn man Heidegger nicht im eigentlichen Sinne einen Existenzialisten nennen kann: In seiner Suche nach einem verlorenen Leben, nach der Existenz, die sich aus alltäglich erzwungener Zerstreuung in einer Welt der Technik und des Marktes befreit, ist er seinen französischen Nachfolgern doch nah. •
Der Philosoph Peter Trawny lehrt an der Bergischen Universität Wuppertal, wo er auch das Martin-Heidegger-Institut aufgebaut hat und leitet. Er hat mehrere Bände der Heidegger-Gesamtausgabe herausgegeben, zuletzt die sogenannten „Schwarzen Hefte“, und ist Autor u.a. von „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ (Vittorio Klostermann, 2014) und „Martin Heidegger. Eine kritische Einführung“ (Vittorio Klostermann, 2016).
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