Constance Debré
Constance Debré unternimmt eine etwas andere Klassenreise.
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Anwältin, Ehefrau, Mutter. Das war mal, heute ist Constance Debré Autorin. Alle anderen Rollen haben für Debré keinen Platz mehr, weshalb sie 2015 gänzlich mit ihrem bürgerlichen Leben bricht. In drei Büchern schreibt sie über diesen Bruch und wirft damit existentielle Fragen auf: Was bleibt von einem Menschen, wenn er versucht, sich von allem zu trennen, was ihn geformt hat? Was wird ihm genommen, wenn er das wagt?

Nun ist mit In Love Me Tender der mittlere Teil dieser Reihe auf Deutsch erschienen, der erste (Play Boy) und der letzte Teil (Nom) fehlen leider auf Deutsch. In Love Me Tender ist die heute 52-Jährige schon weit weg von ihrer Ehe, ihrer Heterosexualität und ihrer Karriere als Strafverteidigerin. Ihren achtjährigen Sohn sieht sie nach der Trennung noch regelmäßig, eine Woche ist er bei seinem Vater, eine Woche bei ihr. Doch als sie ihrem Ex-Mann sagt, dass sie jetzt mit Frauen zusammen ist, beginnt die letzte, allerdings unfreiwillige Loslösung von ihrer Kernfamilie: das Ende der Beziehung zu ihrem Sohn.

Ein großer Name

Mit Interpretationen, warum ihr Ex-Mann tut, was er tut, hält sie sich nicht auf. Es ist Debrés Geschichte, und daher ist sie wahr. Trotzdem ist es ein Roman, keine Biografie, keine Autofiktion. Denn einen Roman mache seine Form aus, sagt Debré in einem Interview mit dem Guardian. Genau deshalb seien Leben und Literatur so eng verbunden: Beides ist die Suche nach einer Form. Fiktional oder biografisch, das wird so bedeutungslos.

Auch der Ausgangspunkt ist bei Debré ein anderer als bei den zuletzt vielgelesenen und oft queeren Autoren und Autorinnen des Autofiktionalen. Es ist nicht das Arbeitermilieu, wie etwa bei Édouard Louis, sondern Frankreichs politische und kulturelle Elite. Debré ist die Enkelin des unter Charles de Gaulle amtierenden Premierministers Michel Debré, ihre Onkel waren Minister, ihr Vater François Debré Autor und Journalist, ihre Mutter Maylis Ybarnégaray war Model. Sie stirbt an einer Überdosis, als Debré 16 Jahre alt ist. Auch ihr Vater ist viele Jahre opiat- und heroinabhängig.

Trotzdem liefert Debré: Sie machte ihren Abschluss an einer Elite-Uni und wird Anwältin. Bei ihrem ersten Prozess verteidigte sie ihren Vater und damit auch ihre dynastische Familie. François Debré war gemeinsam mit Jacques Chirac in einem Skandal um fiktive Beschäftigungsverhältnisse im Pariser Rathaus verwickelt.

Buchcover
Constance Debré, "Love Me Tender". € 21,50 / 149 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2024
Matthes und Seitz

Vielschichtige Bilder

Mit Mitte vierzig will sie raus aus allem. "Familie ist der Ort des Wahnsinns", schreibt sie im Buch Love Me Tender, das in einer Zeit ansetzt, als sie ihren Mann längst verlassen hatte. Und ihren Sohn, so steht es in Berichten über Debré. Doch das stimmt nicht. Wäre Debré nicht Mutter, sondern Vater, hätte es wohl geheißen: Er verlässt seine Frau – und kämpft um seinen Sohn. Das tut auch Debré, nachdem ihr das Sorgerecht entzogen wird und sie ihn nur noch 14-tägig eine Stunde sehen darf, unter Aufsicht. Debré wartet auf Gerichtstermine, auf psychologische Gutachten, die dem Gericht bestätigen, nein, sie ist nicht psychisch krank und keine Gefahr für den Buben.

Sie versucht, Zeit mit ihm zu verbringen, endlich darf sie das wieder öfter, doch immer wieder sagt der Vater kurzfristig ab. Irgendwann will ihr Sohn nicht mehr zu ihr. Debré behauptet nicht zu wissen, was ihn ihm vorgeht. Sie ist auch kein Opfer eines harten Sorgerechtsstreits, "Freiheit hat immer einen Preis", schreibt sie. Und, dass sie so nicht leben könnte, wie sie jetzt lebt, müsste sie sich immer um ein Kind kümmern, "ich könnte nicht ich sein, wenn er da wäre". Gleichzeitig konnte sie bei ihm immer schon sie selbst sein – aber eben nicht, wenn sie Mutter sein muss, so wie Mütter sein müssen.

Es sind vielschichtige Bilder von Autonomie, die Debré mit kurzen, harten Sätzen skizziert. Ohne Reue über frühere Entscheidungen, sie kann ja nun andere treffen. In der Liebe und beim Sex ist es die große Menge an Erlebnissen, mit der sie sich wohlfühlt. Die vielen ersten Male mit Frauen, die Ereignisse sind, ohne dass sie gleich in ihr Leben eingreifen, schreibt Debré. Bei allem anderen zählt Quantität nicht. Sie besitzt zwei Jeans, ein paar T-Shirts und lebt auf neun Quadratmetern, später ganz ohne eigene Unterkunft.

Beängstigende Freiheit

Es gibt bei Debré nicht den Hauch von Romantik, die dem Wort "Freiheit" sonst so oft anhaftet. Vielmehr brauche es dafür Disziplin und Beschränkung im Kleinen. Und so flüchtet sie regelmäßig vor dem Mitbewohner, um den Mühen des Smalltalks zu entgehen, und passt auf ihren Körper auf. "Er trägt mich", deshalb gibt es keine Drogen und tägliches Schwimmen in einem Hallenbad. Würde sie das aufgeben, würde sie fallen. Wie ihre Mutter.

Love Me Tender ist eine furchtlose Erzählung über eine beängstigende Freiheit. Das Buch kann zwar für sich allein stehen, doch es ist ein Jammer, dass es das muss und die Übersetzung der anderen Teile dieses Prozesses fehlen. (Beate Hausbichler, 10.5.2024)