Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte gehört zweifelsfrei zu den umstrittenen, jedoch für die Geschichte der Nationalerziehung besonders bedeutenden Persönlichkeiten. Als 1762 im sächsischen Rammenau in ärmliche Verhältnisse hineingeborenes Kind machte Fichte bereits früh von sich reden. Wie zu dieser Zeit üblich, fand Bildung vorwiegend in kirchlichen Institutionen statt. Bereits im Kindesalter fiel er dadurch auf, dass er unter anderem die Predigten des Pfarrers fehlerfrei wiedergeben und interpretieren konnte. Diesem Umstand war es zu verdanken, dass er Bekanntschaft mit seinem wichtigsten Förderer, dem Großgrundbesitzer Ernst Haubold von Miltitz machte, welcher beste Kontakte zum Militär und zur sächsischen Königsfamilie pflegte. Förderer von Miltitz hatte ebenso enge Verbindungen zu der Familie von Hardenberg, deren Mitglied Karl August von Hardenberg als preußischer Reformer eine ebenfalls wichtige Bedeutung für die Entstehung und Weiterentwicklung nationalpädagogischer Ansätze zukam.

Fichte stand sowohl unter den Eindrücken kirchlicher Erziehung als auch unter den Eindrücken eines fortschrittlichen Wandels in einer sich zunehmend selbst aufklärenden Gesellschaft, die vornehmlich aus Frankreich nach Preußen und andere deutsche Länder kamen. Er interessierte sich als junger Mensch jedoch gleichermaßen für den ostpreußischen Philosophen Immanuel Kant, der ebenso aufklärerische Thesen publizierte. Die Verehrung und starke Orientierung an Kant führte dazu, dass die Öffentlichkeit über ein von ihm zunächst anonym veröffentlichtes Werk fälschlicherweise annahm, dass dieses von Kant selbst geschrieben sei.

Fichtes Lebensweg sah zunächst keineswegs vor, dass er einmal eine herausragende Bedeutung in der Geschichte nationalpädagogischer Ansätze einnehmen würde. Vielmehr ist dieser von Widersprüchen und wechselnden Ansichten geprägt, bis es schließlich zu den berühmten „Reden an die deutsche Nation“ in den Jahren 1807 und 1808 kam. Zu diesen Widersprüchen zählte unter anderem, dass er noch im Jahre 1799 in einen Atheismusstreit in der wissenschaftlichen Lehre verwickelt war, aber in seinen „Reden“ auf die größere Bedeutung von Religion und Gott wiederholt einging. Wechselnde Ansichten machten sich unter anderem in seiner Verehrung französischer Philosophen in jungen Jahren und als Sympathisant der Ideale der französischen Revolution bemerkbar, welche sich später in eine entschieden antinapoleonische Einstellung wandelten.

Zur Vieldeutigkeit in dem Lebenswerk Fichtes gehört auch der Umstand, dass er in autobiographischer Weise im Jahre 1787 niederschrieb, den Plan verfolgt zu haben, „sich im Auslande sein Brot zu verdienen“Footnote 1, was in Hinblick auf seine späteren Ideen zur Autarkie Deutschlands einen besonderen Stellenwert einnimmt. Er sei jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass dies „unvaterländisch“ sei und er sein Wirken vielmehr für sein Vaterland einsetzen müsse.Footnote 2 Darin lässt sich, wenn auch nur anhand eigener Beschreibung, eine Veränderung in der Einstellung Fichtes zum Patriotismus konstatieren, die nicht nur im Zeichen der charakterlichen Unausgeprägtheit des damals noch jungen Philosophen, sondern auch im Zeichen der sich für junge Menschen darbietenden Aporie der Lebenswirklichkeiten des sich auflösenden Heiligen Römischen Reiches zu sehen ist.Footnote 3

So wie zu jener Zeit von zahlreichen einflussreichen Persönlichkeiten der Aufklärungsgedanke, der mitunter historisch gewachsene Traditionen hinterfragte und ablehnte, lehnte auch Fichte historische Begründungen als Legitimation für pädagogisches Handeln ab.Footnote 4 Vielmehr war, auch eigene Ziele zu verwirklichen, eine Besinnung auf reine Vernunft zielführend. Gleichwohl war er als gläubiger, jedoch streitbarer Christ, davon überzeugt, dass zu einer nationalen Erziehung auch die Gottesfurcht gehört. Mit seiner Person wird heute, neben seinen „Reden an die deutsche Nation“, jedoch eine vormals bereits kurz erwähnte hochschulpolitische Kontroverse verbunden, die den leicht missverständlichen Begriff „Atheismusstreit“ trägt. Missverständlich ist dieser deshalb, da Fichte keineswegs atheistische Thesen verlauten ließ, aufgrund dieses Streits jedoch zum Rücktritt als an der Universität Jena lehrender Professor im Jahr 1799 gezwungen wurde. Vielmehr wurden bereits im Vorfeld erschienene Schriften ab dem Jahr 1793, welche die Französische Revolution und die Obrigkeitstreue infrage stallten, von ihm kritisch beäugt.

Auslösendes Ereignis von 1799 war, dass Fichte in seinem von ihm herausgegebenen „Philosophischen Journal“ einem Kollegen zuließ, zu behaupten, dass es eine moralische Ordnung ohne Gott geben könne. Seine eigentliche (nicht-atheistische) Glaubenskritik, wonach er die vermenschlichte Gottesvorstellung vieler Christen für unzutreffend hielt, wurde während des Atheismusstreites stattdessen kaum diskutiert. Fichte war nicht der Einzige, der Forderungen nach neuen und überarbeiteten Lehrer- und Bildungsstandards mit denen nach mit nationaler Geschlossenheit des krisengeschüttelten Deutschlands verband. Neu war an dessen Theorien zur Ausgestaltung einer nationalen Pädagogik jedoch, starken Widerstand gegen napoleonischen Besetzer zu leisten und einen in allen gesellschafts- und staatspolitischen Fragen autarken Nationalstaat zu gründen.

Der gebürtige Sachse war ursprünglich jedoch kein Bekämpfer der Ideale der französischen Revolution. Im Gegenteil, verfasste er 1793 zwei Schriften, in denen er sich ausdrücklich positiv über die dieser Zeit jüngsten Ereignisse äußerte. Bereits kurze Zeit nach der Veröffentlichung beider Schriften wurden im Jahr 1794 das Rheinland und weitere Teile des heutigen Westdeutschlands von Frankreich besetzt. Mit dieser Besetzung ging auch die Einführung französischer Rechtssprechung einher. Für das Strafrecht war fortan der code penal und für das Zivilrecht der code civil verbindliche Norm, was eine Zäsur in der deutschen Geschichte darstellte.Footnote 5 Im sich noch nicht zu einem geeinten Nationalstaat zusammengefundenen Deutschland herrschten, insbesondere in dessen Ballungsgebieten, Bildungsarmut der unteren und mittleren Schichten sowie eine stetig wachsende soziale Verelendung. Anhand zeitgenössischer Schriften und Karikaturen lässt sich erkennen, dass gerade in Preußen Frankreich für diese Missstände mitverantwortlich gemacht wurde.

Der Hass auf das französische Volk diente vor allem in Preußen der Erzeugung eines „Wir-Gefühls“, dessen Ausmaße wir bereits der Schrift von Voß von 1799 an verschiedenen Stellen entnehmen konnten. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung hielt der bereits zu dieser Zeit aufgrund der vorangegangenen Atheismusstreits umstrittene, aber durchaus populäre Philosoph Fichte eine Vortragsreihe an der Berliner Universität.Footnote 6 Die Reihe umfasste vierzehn Vorlesungen, die später als „Reden an die deutsche Nation“ verschriftlicht wurden und welche er im Wintersemester 1807/1808 abhielt.

Zu dieser Zeit war noch nicht absehbar, dass die Vorstellungen Fichtes weit ziehende Kreise zeichnen werden und selbst über einhundert Jahre später in pädagogischen Diskurses Anklang fanden. Die „Chronik des 19. Jahrhunderts“ kam zu der Analyse: „Seine ‚Reden an die deutsche Nation’ fordern die geistige und sittlich-moralische Erneuerung des deutschen Volkes durch eine allgemeine Nationalerziehung und einen deutschen Staat.“Footnote 7 Obwohl seine Reden nicht auf direkte Aktionen abzielten, hätten sie wesentlich zur Entstehung eines anti-französischen, gesamtdeutsch orientierten Widerstandes beigetragen.Footnote 8 Dies begründet, weshalb Fichte in der Untersuchung der historischen Dimensionen von Nationalerziehung nicht unberührt bleiben kann.

9.1 Kollektive Nationalpädagogik als neues Instrument politischen Handelns

Fichte sah in der bisherigen Pädagogik große Versäumnisse, die er für die gegenwärtige politische Situation verantwortlich machte. Er erkannte und nutzte die Angst in der Bevölkerung, als nicht geeinte Nation von anderen Nationen in Europa abgehängt zu werden, für eine Art Mobilisierung. „Ich hoffe, daß ich einige Deutsche überzeugen und sie zur Einsicht bringen werde, daß es allein die Erziehung sei, die uns retten könne von allen Uebeln, die uns drücken“,Footnote 9 so sein eindringlicher Appell. Das Neuartige an seinen „Reden“ war, Pädagogik als Mittel zum Zweck für etwas im Verhältnis Individuum zu Staat Neues, noch nie Dagewesenes, zu erfassen und aus diesem pädagogischen Ansatz heraus ein gänzlich andersartiges Gesellschaftsbild zu zeichnen. Dies unternahm er vorwiegend in seiner zweiten, dritten, neunten, zehnten und elften Vorlesung; welche daher im Fokus dieser Untersuchung stehen.

In seinen „Reden“ führte Fichte an verschiedenen Stellen eine von ihm so bezeichnete frühere oder bisherige Erziehung an, ohne diese präziser einzugrenzen. Bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts lehrend tätig, ist anzunehmen, dass er sich vor allem auf die Zeit vor der Aufklärungsepoche bezog.

In seiner zweiten Rede ging Fichte etwas näher, jedoch in praktischer Anleitung noch unkonkret, auf die seiner Meinung nach zu etablierende neue Erziehung der Deutschen ein. Das von ihm „vorgeschlagene Erhaltungsmittel ein er deutschen Nation überhaupt“Footnote 10 sei eine neue und bislang noch nicht dagewesene Nationalerziehung der Deutschen.Footnote 11 Welche Kriterien er jedoch konkret mit einer nationalen Erziehung verbindet, bleibt zunächst verborgen. „Gute Ordnung“Footnote 12 und „Sittlichkeit“Footnote 13 nannte er als Indikatoren jener Erziehung, zu denen bislang, der bisherigen Erziehung folgend, nur ermahnt wurde. Es ist davon auszugehen, dass Fichte mit der von ihm in späteren Reden noch geforderten ehrlichen und innerlich gewollten Einsicht des Zöglings eine Abkehr von eben jenem bloßen Ermahnen der alten Pädagogik annahm.

Mit einem Kollektivismus moderner Prägung, etwa wie in Diktaturen des nachfolgenden Jahrhunderts, hatten die Menschen in Mitteleuropa im beginnenden 19. Jahrhundert noch keine durchlebte Erfahrung. Es ist eine interessante Notiz, dass Kollektivismus bei den überwiegend begeisterten Hörern und Lesern Fichtes als das neue Instrument zur Verwirklichung von staatlicher Einheit und Autarkie zumindest angenommen wird, während in der Zeit des Feudalismus, die zu diesem Zeitpunkt nur wenige Jahrzehnte zurücklag, Menschen durch starke kirchliche Einflüsse ebenfalls zu Unfreiheit und kirchlichem Kollektivismus erzogen wurden.Footnote 14

Zwar mochte der Philosoph mit alten Erziehungsvorstellungen brechen, dennoch rief er aus, die neue Erziehung müsse die Lebensregelung und Lebensbewegung ihrer Zöglinge unfehlbar bilden und bestimmen.Footnote 15 „Die sichere und besonnene Kunst, einen festen und unfehlbaren guten Willen im Menschen zu bilden“,Footnote 16 war seiner Auffassung nach ein wesentliches Merkmal in seinen Vorstellungen von Nationalerziehung.

Fichte blieb seinen Hörern und Lesern allerdings die Erklärung schuldig, worauf er die These stützte, dass diese Kunst zur Bildung von vermeintlich unfehlbaren und guten Menschen neu sei und diese nicht etwa bereits Bestandteil älterer Erziehungsmuster gewesen sein könnte. Nach heutigem Wissen ist festzuhalten, dass eine vermeintliche Unfehlbarkeit von Kindern und Jugendlichen bereits in mittelalterlichen Klosterschulen angenommen, jedoch auch schon durch wegweisende Pädagogen wie von Rochow und Rousseau vor der Zeit von Fichtes Reden, ab den 1770er-Jahren, infrage gestellt wurde.Footnote 17 Gerade Jean-Jacques Rousseau, der den von Fichte zu einem Mitstreiter erklärte Pestalozzi im Schaffen seines Lebenswerkes sehr beeinflusste,Footnote 18 trug mit seinen philanthropischen Annahmen von einem von Natur aus guten MenschenFootnote 19 wesentlich zum europäischen Aufklärungsgedanken im 18. Jahrhundert bei.

Erst der sich später im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelnden eigenständigen Profession der Psychologie gelang es, Annahmen wie die einer erlernbaren Unfehlbarkeit von Kindern und Menschen insgesamt endgültig wissenschaftsbasiert zu widerlegen. Weiterhin führte Fichte aus, dass er die Annahme der „bisherigen Erziehung“ für irrtümlich halte, nach welcher es die eigene Sache des Zöglings sei, Ermahnungen folgen zu wollen.Footnote 20 Das Rechnen auf den freien Willen des Zöglings sei der erste Irrtum der bisherigen Erziehung, so seine Annahme.Footnote 21

Fichte negierte vor allem die freie Willensbildung von Kindern und Jugendlichen in einer „bisherigen Erziehung“ und sieht hierin den Grund für die Entscheidung hin zu schlechtem Verhalten und Einstellungen. Er führt seine Überzeugung wie folgt aus: „Dagegen würde die neue Erziehung gerade darin bestehen müssen, daß sie […] die Freiheit des Willens gänzlich vernichtete, und dagegen strenge Nothwendigkeit der Entschließungen, um die Unmöglichkeit des entgegengesetzten in dem Willen hervorbrächte […].“Footnote 22

Ein Wille, auf welchen man sicher rechnen und sich verlassen könne, setzt im Gesamtbild der damaligen gesellschaftlichen Herausforderungen eine kollektivistische Nationalerziehung voraus. Mit der Formulierung, die Freiheit des Willens gänzlich zu vernichten, drückt Fichte in erster Linie Unfreiheit und Zwang aus. Passagen, wie etwa das Plädoyer für eine Vernichtung des Willens von Zöglingen, lassen seine Reden nach den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unter einem anderen Licht stehen. Fakt ist, dass sich auch das NS-Regime seine Erziehungsideale zu eigen machte.Footnote 23

Es lässt sich anhand weiterer Einlassungen, auf welche im Verlauf näher eingegangen wird, dass Fichte mit Neuheit nicht gerade Individualität des zu Erziehenden meinte, sondern eine Unterordnung zugunsten einer kollektivistischen Erziehung. Woher dieses Erziehungsideal rührt, mag anhand der Darlegung des zeitlichen Kontextes näher gebracht werden.Footnote 24

Hierbei stellt sich im Zuge der vorliegenden Untersuchung heraus, dass sich der von ihm vielfach lobend hervorgebrachte Pestalozzi nur wenige Jahre später, ganz gegen eine kollektive Existenz aussprach. Nach Ansicht von Pestalozzi diene eine solche lediglich dazu, zu zivilisieren, jedoch nicht, um sich selbst zu kultivieren.Footnote 25 Die Tendenz der Zivilisation lenke jedoch nicht zur Veredelung des Menschengeschlechts hin.Footnote 26 Mit seiner Auffassung, das Zivilisieren sei bloß eine bürgerliche Gestalt des tierischen Seins,Footnote 27 grenzt Pestalozzi seine Auffassung über sittliche Gesetze der Erziehung später deutlich von der Fichtes in dessen Reden an die deutsche Nation ab. Wie Pestalozzi besprach auch der Philosoph das Problem der Selbstsucht des Individuums. Die „Bildung zum reinen Wollen“Footnote 28 müsse früher kommen als dass die Selbstsucht einsetzen könne. Fichte verband ein Nichtaufkommen der Selbstsucht eines Zöglings mit dessen geistiger Entwicklung.Footnote 29 Doch liegt in der von ihm propagierten „Bildung zum reinen Wollen“ möglicherweise ein Widerspruch zu seiner Maxime, die Freiheit des Willens gänzlich vernichten zu wollen.

Wollen, ohne über die Freiheit des eigenen Willens zu verfügen, kann nur ein gelenktes Wollen sein; eines, welches einer Lenkung durch Lenkende bedarf. Nationalerziehung wird jedoch sowohl von Fichte als auch Pestalozzi als Menschenbildung aufgefasst. In diesem Zusammenhang gilt es festzustellen, dass Fichte damit die seiner Auffassung nach existierende Menschwerdung mit einer gelenkten Willensbildung nach dem Vorbild einer „sittlichen Ordnung“ implizierte. Es wurde von einer Menschwerdung ausgegangen und nicht von der bereits im Zeitalter der Aufklärung entstandenen TheseFootnote 30, dass der Mensch bereits gut und mit guten Vorsätzen ausgestattet in die Welt hineingeboren wird.

Für den gebürtigen Sachsen standen sittlicher Antrieb und geistige Entwicklung im Einklang. Sie dürften nicht etwa konkurrieren oder sich abwechseln.Footnote 31 Hieraus folgt, dass etwa sittenloses Verhalten auf eine geistige Fehlentwicklung schließen ließe, oder auch, dass eine positive geistige Entwicklung niemals die eine Nation voranbringenden, vorherrschenden Sittengesetze infrage stellen dürfte. Im zeitlichen Kontext der Reden, in den Jahren 1807 und 1808, wurde ein neuer Mensch, der aus eigenem Antrieb heraus und in eigener Verantwortung handeln solle, propagiert. Wird die bereits bestehende junge Theoriegeschichte der Nationalpädagogik seit ihrer Entstehung bis zu den Reden Fichtes betrachtet, so fällt in seiner verurteilenden Annahme eine Parallele zu den politischen Zeitereignissen auf. Zugespitzt könnte hier die These zugrunde gelegt werden, dass Fichte diesen für Preußen schicksalhaften Ereignissen der andauernden Besatzung durch französische Truppen und des geräuschlose Zerfalls des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation menschliches Versagen zugrunde legt, welche er durch neue Menschen, die eine neue Erziehung genossen, zu revidieren versuchte.

Wie bereits in vorherigen Abschnitten durch die Auseinandersetzung mit Schriften, die vor dem Beginn der französischen Besatzung in Preußen publiziert wurden, dargelegt werden konnte, handelt es sich hier keineswegs um eine Kontinuität in der erst kurzledigen Geschichte der Nationalpädagogik, sondern um eine durch Fichte instruierte Neuausrichtung nationalpädagogischen Denkens. Diese Neuausrichtung, welche neben ihm auch der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt vorantrieb,Footnote 32 wird weitreichenden und lang anhaltenden Einfluss auf das preußische Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft haben. Da Fichte gar von einem „Bestehen“ dieser Gesellschaft und dieser neuen Ordnung sprach, ist anzunehmen, dass er sich nicht etwa andere, lange vor der Französischen Revolution bestehende Nationalstaaten zum Vorbild für einen deutschen Nationalstaat nahm.

Denn erstens bestanden in jenen Nationalstaaten wie Großbritannien-Irland, die Niederlande oder Frankreich keine derartigen „Erziehungsprogramme“ zur Errichtung der Nation bzw. Festigung des nationalen Zusammenhalts. Über viele Jahrhunderte erwuchs in diesen Nachbarstaaten auf ungelenkte Weise jeweils ein Nationalgefüge bestehend aus gemeinsamer Sprache, wenn auch mit vielen unterschiedlichen Dialekten, gemeinsamer Kultur, nationalstaatlichem Militär und gemeinsamen Wertevorstellungen. Trotz des Fehlens einer Lenkung im Sinne Fichtes entwickelten sich diese Länder spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) zu Hochkulturen, See- und Weltmächten.

Gerade in diesem Zusammenhang erweist sich die Tragik und auch Tragweite der in der Geschichtswissenschaft diskutierten Annahme von Deutschland als einer „verspäteten Nation“.Footnote 33 Denn während jenes Aufstieges dieser Länder verpasste Deutschland aufgrund der Nichtexistenz seiner Staatlichkeit, welche erst 1871 vollzogen wurde, und damit zugleich aufgrund seiner nicht verfügbaren Mitbewerbsfähigkeit für die damalige Zeit wichtige Fortschritte zivilisatorischer, ökonomischer und industrieller Art zunächst.

Diese Fortschritte setzten größtenteils erst später, nach der Reichsgründung von 1871, ein und wurden dem Deutsche Reich durch das dominierende Preußen schonungslos verordnet. Vor allem dem Proletariat und den in den Kolonien lebenden Menschen wurde diese Erarbeitung des Fortschritts schonungslos abverlangt, worin eine von vielen Ursachen des Aufkommens städtischen Massenelends als neues Phänomen dieser Zeit lag.

In diesem Denken Fichtes, etwas noch nicht Erreichtes mit aller Kraftanstrengung nachholen zu müssen, welches sich im Seelenleben Preußens im 19. Jahrhundert widerspiegelt, findet sich auch die Gestalt preußischer und später deutscher Außenpolitik wieder. Als zwei sehr bekannte Beispiele dieses Denkens in der preußischen Außenpolitik wären die 1897 während einer Reichstagsrede von dem Staatsminister und späteren Reichskanzler Bernhard von Bülow kreierte Redewendung „Wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne“Footnote 34 sowie die allgemein Empörung hervorrufende „Hunnenrede“ Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1900 zu nennen.Footnote 35

Und zweitens hätten solche etwaig bestehende Erziehungsmodelle fichte’scher Art innerhalb anderer europäischer Länder, wie etwa Spanien oder den Niederlanden, aus zeitgenössischer Sicht des Winters 1807/1808 nicht die Besetzung durch das napoleonische Frankreich zu verhindern geholfen.

9.2 Sittlichkeit, Religion und die Ausbildung zum Menschen

Das eigentliche Wesen einer neuen Erziehung sei es, so fasste Fichte zusammen, den Zögling zu reiner Sittlichkeit zu erziehen.Footnote 36 Dies meinte, dass sich der Zögling ein Bild einer sittlichen Weltordnung zeichnen solle, welche niemals vollkommen sein kann. Er ging von eigener Selbsttätigkeit aus, die diese sittliche Weltordnung auszeichne; jedoch schloss er dabei vom Individuum auf das universelle Ganze, worin bereits ein Fehler in der Transformation von der Theorie zu praktischem Handeln seiner Nationalerziehung vorliegt. Denn so entstünde universelles Herrschaftsdenken auf Ebene des adressierten Zöglingskreises, welches Fichtes selbsterklärter Achtung vor anderen Völkern und Kulturen widerspräche.

Die Vorstellung von Sittlichkeit in der Erziehung von Jugendlichen und gar Erwachsenen übertrug sich sogar in die Postmoderne. Sittlichkeit als Sinn und Ziel des Wirkens von Sozialpädagogik fand sogar Einzug in die wissenschaftlich geführten Diskurse. Der in Münster lehrende Professor Ernst Bornemann, Mitbegründer der dortigen Sozialforschungsstelle, ging noch in den 1960er-Jahren davon aus, dass die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen sittlichen Persönlichkeit das Wesen der Sozialpädagogik sei.Footnote 37 Dies ist insofern ein sehr interessanter Befund, da die Sozialpädagogik sich von der ursprünglichen „Jugendleitung“ und der „Familienfürsorge“ zu einer eigenständigen Profession gerade zu dieser Zeit erst allmählich wandelte und wissenschaftliche Definitionen zu dieser Profession, trotz der bereits 1899 durch Paul Natorp implementierten Idee einer „Sozialpädagogik“Footnote 38, noch in den Kinderschuhen steckten.

Bereits Natorp widmete dem Terminus der sittlichen Lehre ein eigenes KapitelFootnote 39 innerhalb „seiner“ Sozialpädagogik und sprach vom sittlichen Ernst des Erziehers.Footnote 40 Natorp forderte die sittliche Unterweisung als Bestandteil der ErziehungFootnote 41 und befürwortete eine sittliche Unterweisung mithilfe von Märchen und Fabeln, später auf der Grundlage von biblischen Historien und zuletzt auf der Lektüre des antiken Dichters Homer erfolgen sollte.Footnote 42 Fichte hingegen ging davon aus, dass während ein Zögling das Bild einer sittlichen Weltordnung zu zeichnen versucht, dieser feststellen werde, dass nur das geistige Leben in diesem Bild wahrhaftig sei, jedoch nicht die sittliche Weltordnung an sich.Footnote 43 Ziel der „neuen Erziehung“ war es für ihn jedoch nicht allein, den Zögling zur reinen Sittlichkeit zu bilden, sondern den Menschen vollständig zum Menschen zu bilden.Footnote 44 Mit dieser Formulierung hielt sich Fichte sehr nah an Pestalozzi, welcher eben diese Bildung zum Menschen als Wesenskern einer vorzuschlagenden Nationalerziehung erachtete.Footnote 45

Die Erziehungskunst, Menschen zu Menschen zu bilden, setzte nach Fichte Verstand und Wille des Erziehenden voraus.Footnote 46 Ein ausgebildeter Mensch habe sodann über die Klarheit des Verstandes und die Reinheit des Willens zu verfügen. Für ihn stellte diese Ausbildung zum Menschen allerdings nur eine Art Grundausbildung dar, die er als allgemeine Erziehung bezeichnete.Footnote 47 Die weitere Ausbildung des Menschen gehe diese Erziehung nichts an. Wir können somit die These zugrunde legen, dass für Fichte Nationalerziehung nur eine Grundausbildung der Menschen implizierte, welche gleichermaßen die Existenz des Nationalstaates, der jene Menschen beheimatet, sichern sollte.

Trotz der Verwicklungen Fichtes in den Atheismusstreit an der Universität Jena von 1799, der ihn seinen Lehrstuhl kostete, bezog er für manch Lesenden überraschend deutlich eine positive Stellung zur Notwendigkeit Gottes innerhalb der neuen Ordnung und zur Gotteslehre. „Die Erziehung zur wahren Religion ist somit das letzte Geschäft der neuen Erziehung“,Footnote 48 führte der Philosoph aus. Er war der Annahme, dass die „Religion der alten Zeit“ das geistige vom göttlichen Leben abtrennte, worin er einen Fehler sah. Gerade diese Annahme erstaunt sehr, da er damit die Säkularisierung insgesamt infrage stellte. Die frühere, angeblich vom geistigen Leben abgetrennte, Religion bezeichnete Fichte als „Dienerin der Selbstsucht“.Footnote 49 Somit manifestiert sich, dass für seine Vorstellung von Nationalerziehung neben der Furcht auch die Glaubenserziehung eine immanente Funktion einnahm. Er plädierte an gleicher Stelle dafür, diese frühere vom geistigen Leben abgetrennte Religion mit der alten Zeit, also mit der in seinen Augen überkommenen Gesellschaftsordnung, zu begraben.Footnote 50

Fichtes Ansicht nach hatte die bisherige Erziehung von früher Jugend an stets belehrt anstatt echte Einsichten zu erzeugen, was seiner Ansicht nach zu einer „natürlichen Abneigung“ gegen Gottes GeboteFootnote 51 führte. Es durfte nach Überzeugung des Philosophen wiederum nicht Ziel der „auf die ganze Nation berechneten Erziehung“Footnote 52 sein, dass Religion dazu diene, Ämter zu führen und ohne diese Religion ein innerer Gewissenskonflikt die Ausführung der Ämterausführung unterbinde. Diese wie andere Stellen in den „Reden zur deutschen Nation“ stellen einen unauflöslichen Widerspruch des Philosophen dar, in welchem der Grund dafür liegen mag, weshalb die „Reden“ zwar viel diskutiertes Werk waren und lang anhaltende Anerkennung, nie jedoch praktische Umsetzung im Schulleben erfuhren.

Eines der wichtigsten Anliegen der Reden an die deutsche Nation aus Sicht ihres Autors war es, ein Aufrütteln in den Deutschen zu entzünden. Fichte sah die weitere Existenz des deutschen Volkes (sofern man 1807/08 von einer Einheit dieses damaligen deutschen Volkes überhaupt sprechen kann) und der deutschen Kultur gefährdet und fremdbestimmt. Sittlichkeit und eine Erziehung nach Gottes Geboten erscheinen ihm ein probates Mittel, um eben jene Fremdbestimmung zu unterbinden und an ihre Stelle ein neues Menschengeschlecht zu stellen, deren Initiierung in der Tat auch der von Fichte so beachtete Pestalozzi fordert.

In diesem Punkt lassen sich Parallelen zu der Lage vieler westlicher und westlich orientierter Länder im 21. Jahrhundert konstatieren. So gab und gibt es in Deutschland seit 1996Footnote 53 den Begriff der „Leitkultur“, um den und um seine Assoziationen leidenschaftlich durch alle parlamentarisch vertretenen Parteien gerungen wird. Einen Höhepunkt erlebte die Debatte um eine Leitkultur in den 2000er-Jahren während der politisch geführten Diskussion um den möglichen Status Deutschlands als Einwanderungsland.

9.3 Staatlichkeit in Fichtes Nationalerziehung

Fichte hob in seiner neunten Rede sehr eindringlich hervor, dass das Dasein und der Fortbestand der Deutschen in erster Linie zu retten seien.Footnote 54

Würde einmal der gemachte Unterschied zwischen Staat und Nation klar sein, so könnten die Angelegenheiten dieser beiden niemals in Widerstreit geraten.Footnote 55 Damit wird deutlich, dass es zwischen der Nation und dem Staat keinen Unterschied geben sollte und ein möglicher Unterschied ihm zufolge allenfalls konstruiert sein konnte. Der Staat müsse sein Volk schützen und es lieben, da es ansonsten gefährdet sei, unterzugehen. So erklärte Fichte gar:

„Die höhere Vaterlandsliebe für das gemeinsame Volk der deutschen Nation mußte und sollte ja ohnedies die oberste Leitung in jedem deutschen Staate führen; keiner von ihnen durfte ja diese höhere Angelegenheit aus den Augen verlieren, […] und so seinen Untergang zu beschleunigen.“

Die Vielstaatlichkeit Deutschlands, wie es sie vor der Besatzung vieler Reichsgebiete durch Frankreich 1794 bzw. bis zu den Entscheidungen über territoriale Neuordnungen des Wiener Kongresses 1815 gab, war nach Meinung des Philosophen ein weiterer Grund dafür, dass Deutschland in dieser Form nicht bestehen konnte und zudem innerlich zerstritten war. „Deutsche Staaten konnten mit deutschen Staaten in Streit gerathen [sic!]“Footnote 56, so sein Befund, mit welchem er die Notwendigkeit eines geeinten Staates begründete. Hier hatte Fichte sicherlich den Siebenjährigen Krieg (1756–1763) gemeint, doch seine Vorstellungen erfüllten sich insoweit nicht, als dass noch 1866 eine weitere schwere innerdeutsche kriegerische Auseinandersetzung geführt wurde, deren Ausgang jedoch die Entstehung des konföderierten Norddeutschen Bundes forcierte; einen Vorläufer des 1871 entstandenen Deutschen Reiches, des von Fichte so erhofften ersten einheitlichen deutschen Nationalstaates.

Die noch anhaltende Vielstaatlichkeit Deutschlands zu dessen Lebzeit bezeichnete Fichte als Völkerrepublik, an deren Stelle er „Alleinherrschaft“ führen wollte.Footnote 57 Auch dieser Terminus löst Missverständnisse aus, denn Fichte meinte an dieser Stelle die alleinige, besser gesagt: einheitliche, Regierung über ein in einem Nationalstaat lebendes Volk. Einen Unterschied zwischen Volk und Nation wollte er keineswegs zulassen, da er keinen Unterschied für zulässig hielt, wie bereits an einigen Stellen ersichtlich wurde. Zur Umsetzung seiner nationalpädagogischen Ideen hielt Fichte den monarchistischen Staat für ungeeignet, da ein „Gewalthaber“Footnote 58 nach der ursprünglichen Bildung hätte erzogen werden können und durch sein Wirken die neuen nationalpädagogischen Ideen daher nicht verkörpert hätte.

Eine republikanische Verfassung sei daher „die vorzüglichste Quelle deutscher Bildung und das erste Sicherungsmittel ihrer Eigenthümlichkeit [sic!]“.Footnote 59

Damit wird klar, dass Fichte die neue Erziehung und den neuen Staat nicht nur als eine Änderung „von unten nach oben“, sondern auch als eine von oberster Stelle verkörperte und angeleitete Angelegenheit verstand. Es stellt sich dadurch ebenfalls heraus, dass er von seinen in diesen Vorlesungen an anderer Stelle hervorgebrachten Idee, die zu erziehende Jugend streng von den nach alter Erziehung in das Leben getretenen Älteren abzusondern, um sie für die neue Nationalerziehung empfänglich zu machen und den Erfolg dieser nicht zu gefährden, abrückt, beziehungsweise, dass er hier keine einheitliche Argumentationslinie vertritt. Denn wenn er vom obersten Glied des erdachten Nationalstaates eine Verkörperung nationalpädagogischer Ideale abverlangt, wäre eine solche Absonderung der Jugend, sofern diese Verkörperung auch durch die nachgeordneten Glieder erfolgt, obsolet. Fichte war geprägt von der napoleonischen Besatzung Preußens, die er tagtäglich erlebte. Er spielt auch den Gedanken durch, was geschehe, wenn der von ihm erdachte Nationalstaat erneut in fremde Hände fiele. Hierauf hat er eine Vision, die nicht erst in einem solch fiktiven Fall zum Tragen kommt, sondern sofort „unters Volk“ gebracht werden könnte.

In diesem Sinne äußerte er den für sein nationalpädagogisches Konzept zentralen Befund, dass ein deutscher Staat, welcher von deutscher Leitung in eine fremde fiele, fortan nicht mehr „deutsche Angelegenheiten“, sondern fremde entschieden würden.Footnote 60 Fichte negierte damit die Möglichkeit, dass vermeintlich Fremde Politik für einheimische Völker machen könnten; wobei diese Überlegung eher einseitig auf die deutsche Nation und im Umkehrschluss nicht in Bezug auf die Bedürfnisse kolonialisierter Menschen getroffen wurde. In Bezug auf die seinerzeitige französische Besatzung gab er zu verstehen, dass damit „Fremdbestimmung“ über die Deutschen gar nicht möglich sei. Dabei war es für den Philosophen in diesem Punkt nicht entscheidend, ob der deutsche Staat als Ein- oder Mehrzahl erscheint, da dieser in der Wirkung und im Geiste ohnehin nur einer sein könne.Footnote 61 Und Fichte äußerte weiter: „Wo die gesammte [sic!] Nationalangelegenheit der Deutschen bisher ihren Sitz hatte und dargestellt wurde, am Ruder des Staats, da wäre sie verwiesen. Soll sie nun hiermit nicht ganz ausgetilgt sein von der Erde, so muß ihr ein anderer Zufluchtsort bereitet werden, und zwar in dem, was allein übrig bleibt, bei den Regierten, in den Bürgern. […] Das heißt mit andern Worten, die Mehrheit der Bürger muß zu diesem vaterländischen Sinne erzogen werden, und, damit man der Mehrheit sicher sei, diese Erziehung muß an der Allheit [sic!] versucht werden.“Footnote 62

In diesem Befund Fichtes sind gleich mehrere Eigentümlichkeiten seines Erziehungsgedankens enthalten, die in einem Zitat auf den Punkt bringen, was in einigen seiner Reden zunächst leider nebulös blieb. So sind vier spezielle Punkte festzuhalten:

  • Fichte ging von einer deutschen Gesellschaft, einem deutschen Volk aus, welches klar definiert ist und eigentlich keiner Formung und Lenkung bedarf. Demzufolge ist es aus seiner Sicht gleichgültig, ob gegen das bislang „Falsche“ aus der Bevölkerung derweil mehrerer deutscher Staaten oder eines noch nicht existierenden Staates Widerstand geleistet wird.

  • Da dieses deutsche Volk keiner Lenkung bedarf, kann es dem Grunde nach nicht von fremden Mächten regiert und fehlgelenkt werden. Denn fremde Mächte können Fichte zufolge niemals für deutsche Angelegenheiten entscheiden, sondern allenfalls für ihre eigenen, oder genauer gefasst; sie sind zu solchen echten Entscheidungen für die Deutschen nicht im Stande.

  • Fichte gab mit seinem Befund „in der That [sic!] ist es dennoch einer“ (gemeint ist ein Staat) zum Ausdruck, dass für ihn das Volk über dem Staate steht, da es weiter existiere, auch wenn es einen solchen Staat nicht mehr gäbe. Jener Befund lässt auch die Interpretation zu, dass das Volk bereits den Staat bildet, ungeachtet dessen, wie die tatsächliche politische Landkarte aussieht. Einerseits verleiht er damit dem Terminus „Volk“ eine deutlich höhere Bedeutung als in seinen bisherigen Reden. Anderseits weicht er seine Forderungen nach der Abschaffung der deutschen Vielstaatlichkeit auf, woraus sich eine Gewisse Resignation Fichtes mit dem status quo des Jahres 1808 ableiten lässt.

  • Die Nationalangelegenheit der Deutschen wäre bei einer fremden Übernahme des Staates nicht mehr an dessen Ruder vertreten. Die Angelegenheiten der Deutschen müssten daher im Exil weiter exekutiert werden. Diese Exilregierung stellten nach Fichte die Bürger dar. Er nutzte dieses Bild, um einmal mehr auf die seiner Überzeugung nach hohe Dringlichkeit einer vaterländischen Erziehung aufmerksam zu machen, welche nun jedenfalls an der Allgemeinheit versucht werden sollte.

Fichte betrachtete deutsche Nationalerziehung und insbesondere die deutsche Vaterlandsliebe als etwas, das wie eine überraschende Kriegshandlung aus dem Register gezogen werden könne, um sie gegen andere einzusetzen und einen Sieg in Hinblick auf die Wiederherstellung der eigenen Souveränität zu erringen. Er war der Überzeugung, dass deutsche Vaterlandsliebe ihren „Sitz“ verloren habe.Footnote 63 Diese hielt der Philosoph für das Weiterexistieren der deutschen Nation jedoch für unabdingbar. Sie sollte daher mithilfe nationaler Erziehung einen breiteren und tieferen Sitz erhalten und sich in „ruhiger Verborgenheit“ begründen und stählen.Footnote 64

Nachdem die deutsche Vaterlandsliebe im Verborgenen gestärkt wurde, glaubte Fichte daran, dass diese nicht nur der Nation, sondern auch dem Staat die verlorene Selbständigkeit wieder gebe.Footnote 65

Seine Idee eines kraftvollen Hervorbrechens innerer Stärke bringt zum Ausdruck, was auch in den Bildungs- und Erziehungssystemen vieler totalitärer Staaten des 21. Jahrhunderts vorzufinden ist: Die Verlagerung kriegerischer Auseinandersetzungen von den weltlichen Schauplätzen in die Schulen und Bildungseinrichtungen hinein. Jene Verlagerung trifft den eigentlichen Kern dessen, was die „Reden“ aus heutiger Analyse im Zentralen charakterisieren. Es ist der innere Widerstand Preußens auf der Ebene des Bildungsbürgertums gegen Besatzung und Fremdbestimmung zu Beginn des 18. Jahrhunderts einerseits. Und zum anderen lässt sich in dieser Verlagerung das Bestreben Preußens erkennen, als Großmacht von anderen Mächten anerkannt zu werden und mit diesen wettbewerbsfähig zu sein,Footnote 66 was wiederum ebenso auf das Abzielen einiger nationalpädagogischer Ansätze in der heutigen Zeit zutrifft.Footnote 67

Fichte ging also davon aus, dass die deutsche Vaterlandsliebe, die er eigentlich erst mithilfe der von ihm erdachten neuen Erziehung dem Volk näher- und teilweise beibringen möchte, im Kern doch bereits im Volk vorhanden ist. Denn ansonsten hätte sie ihren Sitz nicht verlieren können und auch nicht einen zukünftig anderen, breiteren und tieferen Sitz erhalten. Auch dies mag ein Befund widersprüchlicher Erwägungen in den Reden an die deutsche Nation sein.

Eine „gänzliche Umschaffung des Menschengeschlechts“Footnote 68 sei die bestimmte Erziehung, von der sich Fichte die Rettung der deutschen Nation verspricht. Diese prägnante Zusammenfassung durch ihn selbst gibt gleich zweierlei interessante Aufschlüsse. Denn zum einen verdeutlicht sie, dass Fichte von einer Rettung der deutschen Nation ausging, die hauptsächlich durch Bildung sowie durch Erziehung als Mittel zum Selbstzweck und zur Erreichung jener Bildung zu realisieren ist. Dieser Rettungsgedanke wird in seiner neunten Rede sehr klar zum Ausdruck gebracht, wenn auch er bereits in allen vorherigen Reden hinweg eine zumindest subtile Bedeutung einnahm. Dieser Befund unterstreicht einmal mehr, inwieweit Rettung und Wiederherstellung feste Bestandteile der Pädagogik in der napoleonischen Ära waren. Wenn Fichte von einer „gänzlichen Umschaffung des Menschengeschlechts“ sprach, befand er sich in diesem Punkt in der Tat im Einklang mit Johann Heinrich Pestalozzi. Zum anderen schwebte auch Pestalozzi eine Veredelung und eine Wandlung des Menschengeschlechtes seiner Zeit vor, hin zu Menschen, die nicht nur zivilisiert und kultiviert sind, sondern die sich aus eigenen Fesseln befreien. Zu der Zeit um 1807/08 lagen bereits einige publizierte nationalpädagogische Ansätze des schweizerischen Pestalozzi vor, doch auch sieben Jahre nach ihnen veröffentlichte Pestalozzi mit „An die Unschuld“ ein scharfsinniges Werk, welches in Teilen der Zensur zum Opfer fiel, und ebenfalls wie Fichte eine Art Erweckung der deutschen Nation auszulösen suchte.Footnote 69

Ein deutlicher Widerspruch zu Pestalozzi tut sich schließlich in der Annahme auf, die „neue Erziehung“ kehre die Ordnung um, nach welcher die Sinneswelt die erste sei, die ein Zögling erfahre.Footnote 70 Stattdessen dürfe nur das Denken Wesen der neuen Erziehung sein, nicht mehr die Sinne.Footnote 71 So wie früher ein fester und gewisser Geist als Grundlage eines guten Staates gesehen wurde, so solle dieser Geist nicht nur im Staate, sondern auch in den Köpfen der Kinder Einzug erhalten; er „soll im Allgemeinen erzeugt werden“.Footnote 72 In dieser Forderung Fichtes findet sich ein weiterer Beleg dafür, dass er „den Staat“ zunächst in den Köpfen der Menschen, im Denken der Bürger sieht, da dieser erst noch erschaffen werden muss. Es ist somit eine in sich logische Argumentation, dass die Sinneswelt in dem Ziel, mit Pädagogik eine Nation zu errichten, keine Bedeutung finden darf. Denn ansonsten würden die Zöglinge Sinne eines Status quo verinnerlichen, der doch im Wesentlichen im Sinne Fichtes „bekämpft“ werden muss. In diesem Sinne sprach er gar von einer „geistigen Natur“Footnote 73, die eine Heilung vornähme. Mit dieser Besinnung auf das Geistige, auf die Klarheit des Denkens und die Unterdrückung des Sinnlichen, ließe sich Nation und Vaterland genesen; dies können wir daraus resümieren.

9.4 Fichtes Übereinstimmungen mit Pestalozzi und Natorp

In seiner neunten Rede kam Fichte erstmals etwas deutlicher darauf zu sprechen, wie er nun die von ihm vorgeschlagene Erziehung praktisch durchführen und etablieren möchte. Der Philosoph stellte sich vor, seine Ansätze an ein in der wirklichen Welt bereits vorhandenes Glied anzuschließen, was wiederum überrascht, da er doch eigentlich etwas gänzlich Neues erschaffen wollt. Ihm schwebte vor, dass seine Ansätze keineswegs nur bloße Theorie oder das Bild einer Erziehung sein dürfe, sondern Erziehung werde. Doch Fichte machte sich einen schlanken Fuß bei der eigentlichen Begründung, weshalb er die pädagogischen Ansätze für die Umsetzung seiner für besonders gut geeignet sah und worin er Synergien sah. Er gibt hier keine genauen Einlassungen, sondern schwebt im weiteren Verlauf seiner Rede in philosophischen Sphären, was aus heutiger Betrachtung enttäuschend wirkt. Ein Widerspruch tut sich auch in der Aussage auf, sich nicht für die „wirkliche Ausübung“ der Pädagogik Pestalozzis zu interessieren, sondern zwecks der Entwicklung eigener Konzepte lediglich die Absichten Pestalozzis genauer zu erkennen und dann für richtig oder falsch benennen zu können, wie er offen zugab.Footnote 74 Dessen Ideen und ihm zugeschriebenen Intentionen waren Fichtes Meinung nach entscheidender. So resümierte er über die Nationalpädagogik Pestalozzis:

„Er wollte blos [sic!] dem Volke helfen; aber seine Erfindung, in ihrer ganzen Ausdehnung genommen, hebt das Volk, hebt allen Unterschied zwischen diesem und einem gebildeten Stande auf, gibt, statt der gesuchten Volkserziehung, Nationalisierung, und hätte wol [sic!] das Vermögen, den Völkern und dem ganzen Menschengeschlecht aus der Tiefe seines dermaligen Elends emporzuhelfen.“Footnote 75

Hierdurch wird deutlich, dass Fichte eben auch versuchte, mit einer „neuen Erziehung“, wie er es nannte, soziale Unterschiede zu verwischen oder gänzlich zu überwinden. Jedenfalls war er sich dieser Ungleichheiten und der Notwendigkeit ihrer Verbesserung bewusst. Noch interessanter ist der Umstand, dass der Philosoph offensichtlich die Nationalisierung von der Volkserziehung trennte.

Für ihn war, und das wurde bereits in vorherigen Reden deutlich, die Nationalisierung eines Volkes hin zur Nation etwas, das in der Wertigkeit über der bloßen Volkserziehung stand. Fichte formulierte mit diesen Gedanken etwas, das in Preußen eine neue Epoche nationalpädagogischen Denkens in Bildung und Erziehung kennzeichnen wird und auch in den darauf folgenden Ansätzen Arndts, Cauers und Harnischs zum Ausdruck kommt.

Es ist der Versuch preußischer Eliten einer Erziehung des Volkes zur Nation, einer deutschen Besonderheit in der Pädagogikgeschichte, die das gesellschaftliche und politische Zeitgeschehen von dem Hambacher Fest, über die gescheiterte Revolution von 1848 bis hin zu den Einigungskriegen und der staatlichen Einheit 1871 begleitet. Hierbei erfüllte die scheinbare Anwendung, oder auch nur die Befürwortung, der pädagogischen Ansätze Pestalozzis in erster Linie einen Grund für die Legitimation weitergehender und teils darauf aufbauender, jedoch widersprüchlicher Forderungen. So finden sich bereits vor den Reden nationalpädagogische Werke, die beispielsweise die Elementarmethode Pestalozzis ausdrücklich befürworten, wie etwa in einer Denkschrift des Heeresreformers Neidhardt von Gneisenau an den preußischen König aus dem Jahre 1803.Footnote 76

Fichte glaubte daran, dass die bisherigen (also bis 1807 publizierten) Ansätze des schweizerischen Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi eine Grundlage für seine Pläne einer Nationalerziehung des deutschen Volkes bieten könnten. Denn er sah beispielsweise Parallelen in der auch von Pestalozzi befürworteten freien Geistestätigkeit von zu Erziehenden, welche jene zum Denken und zum Wohlgefallen an Denkprozessen anregen sollte. Die Anschauung sei ebenso ein Mittel Pestalozzis wie seines, so Fichte.Footnote 77 Er war der Überzeugung, dass junge Menschen durch freie Geistestätigkeit von selbst erkennen, dass sie sich eines höheren Zieles wegen einer nationalen Bewegung zugunsten Preußens und Deutschlands anschließen müssten, und die Ideale einer von ihm erdachten und später gelenkten Nationalerziehung (durch ihren dann mehr oder weniger freien Geist) verkörpern würden.

Die freie Geistestätigkeit sollte zum Entwerfen von Bildern anregen.Footnote 78 Mit diesen Bildern, so wird es im Kontext seiner Reden deutlich, ist die Vision junger Menschen eines geeinten Nationalstaates, welcher autark agiert, gemeint. Fichte lobte die Absichten Pestalozzis zu „äußerst vernachlässigten Kindern aus dem Volke“Footnote 79, bemängelte jedoch, dass Pestalozzi in seinem liebenden Gemüt das Lesen und Schreiben in der Bildung überschätzen würde.Footnote 80 Er erklärte seine Ansicht damit, dass Bildung und Erziehung umfassender sein müssten, als dass sie den jungen Menschen nur das Lesen und Schreiben lehrten.

Paul Natorp fasste in seinem 1899 erschienenen Standardwerk „Sozialpädagogik“ den Begriff der Sittlichkeit wiederholt auf. Er ging ferner auf Fichtes, Pestalozzis und Freiherrn vom Stein nationalpädagogischen Ansätze ein und bedauerte, dass diese in Vergessenheit geraten seien, da sie bestehende Unterschiede der gesellschaftlichen Stände und Klassen in Hinblick auf den Anspruch auf allgemeine Menschenbildung zu überwinden versuchten. Nach der von Natorp in „Sozialpädagogik“ getätigter Einschätzung haben Pestalozzi und Fichte gefordert, was Freiherr vom Stein und „alle Führer der damaligen Neugründung der Schule Preußens“ mit ihren Bildungsreformen umzusetzen gestrebt hätten; einem „inneren Krieg der Stände und Klassen“ durch die einheitliche Grundlegung eines nationalen, die ganze Nation umfassenden, Bildungswesens, vorzugreifen.Footnote 81

Natorp griff Fichtes Vorschlag einer „gemeinschaftlichen Erziehung in staatlich organisierten Erziehungshäusern von möglichst frühem Alter an“Footnote 82 auf, welchen er für die damals aktuellen Umstände (1899) als ein probates, wenn auch schroffes Mittel ansah, um den sozialen Gegebenheiten und den daraus resultierenden Problemen zu entgegnen.Footnote 83 Einen solchen Ersatz für die von ihm geforderte Organisation von Erziehung sah Paul Natorp in den Fröbelschen Kindergärten.Footnote 84 Etwa zwanzig Jahre nach Erscheinung von Natorps „Sozialpädagogik“ wurde während der historischen Reichsschulkonferenz von 1920 um die besten Lösungen einer zu bestimmenden Schulpädagogik, nunmehr in einer Republik, gerungen.

Selbst über einhundert Jahre nach Fichtes „Reden“ zogen dessen Vorstellungen die Konferenzteilnehmenden in den Bann und regten zu Diskussionen an.Footnote 85 Offenbar weckte diese „Stunde Null“ nach dem Umsturz der Kaisermonarchie, der Schaffung einer parlamentarischen Demokratie und Überwindung des politisch motivierten Bürgerkrieges von 1919 in den deutschen Großstädten zumindest Assoziationen zu den Anregungen Fichtes hinsichtlich der Schaffung etwas gänzlichen Neuen in Bildung und Erziehung, welche er in den Reden von 1807/08 vielfach ausrief.

9.5 Selbstbefähigung, Kinder- und Menschenbild in Fichtes Nationalerziehung

Fichte war der Überzeugung, dass die Befähigung von Lesen und Schreiben im Bildungskontext dem Gedanken der Nationalerziehung nicht zuträglich und eventuell sogar schädlich sei.Footnote 86 Denn dies führe zu Ablenkung von dem Eigentlichen, woraus Nationalerziehung abzielen sollte, und dies sind weniger praktisch-handwerkliche Fähigkeiten, sondern mehr ein fester Wille und eine fester Glaube an sich selbst und an sein Volk. Er gab aus, dass am Schluss eines Erziehungsprozesses (heute würden wir über Bildungsprozesse sprechen) die Kunst erlernt werden sollte, die Sprache zu zergliedern und die Buchstaben zu gebrauchen.Footnote 87 Da der Zögling so vieles davor schon erlernt habe, dürfte ihm dies nicht leicht fallen.Footnote 88 Somit setzte sich Fichte eindeutig von seinerzeit bekannten Definitionen von Nationalerziehung ab, wie sie etwa von Rochow zugeschrieben wurden, der Lesen, Rechnen und Schreiben als Grundsäulen von nationaler Erziehung betrachtete und lehrte.

Es wird in diesem Kontext weiterhin deutlich, dass Fichte Nationalerziehung eben nicht als ein Mittel der besseren Volksbildung und Volkserziehung ansah, sondern als Mittel zum Zweck, auf ihr aufbauend etwas Neues zu schaffen. Bildung und Erziehung sollten seiner Auffassung nach dazu dienen, das in großen Teilen verarmte Volk zu einer glänzenden Nation zu erheben. So führte er unmissverständlich aus:

„Wir unsres [sic!] Orts haben nicht von Erziehung des Volks im Gegensatze höherer Stände geredet, […] sondern wir haben von Nationalerziehung geredet. Soll es jemals zu dieser kommen, so muß der armselige Wunsch, daß die Erziehung doch ja recht bald vollendet sein, und das Kind wieder hinter die Arbeit gestellt werden möge, gar nicht mehr zu Ohren kommen, sondern sogleich an der Schwelle der Berathung [sic!] über diese Angelegenheit abgelegt werden.“Footnote 89

Mit dem Ausspruch „Kinder wieder hinter Arbeit stellen“ benannte Fichte ein soziales Problem seiner Zeit, welchem verschiedene preußische SchulerlasseFootnote 90 in den Jahrzehnten nach der Verkündung des Generallandschulreglements von 1763 Herr werden wollten und welche einer allgemein geltenden Schulpflicht zunächst immer näher kamen, und, nach Einführung dieser, die Schulpflicht weiter ausgestalteten. Ganz im Zeichen seiner grundlegenden Geisteshaltung erachtete der Philosoph die Bekämpfung des Pauperismus als einen deutschen Trieb, als Liebe zu dem armen verwahrlosten Volke.Footnote 91

Zum anderen wird auch deutlich, dass Fichte jedoch kein bedingungsloses Herz für sozial benachteiligte Menschen hatte. So benannte er den „niedern und gemeinen Pöbel“Footnote 92 als eine Gruppe, die man nicht haben wolle und welche für die „deutsche Nationalangelegenheit“ nicht „ertragen“ werden könne.Footnote 93 Dies implizierte, gänzlich anders als heutige Ansätze zur Jugendbildung, dass junge Menschen teils per se nicht mehr erreichbar sind und durch eine Etikettierung dieser nationalpädagogischen Theorie als Andersdenkende abgestempelt werden. Dass dieser „Pöbel“, so die Meinung Fichtes, der deutschen Nationalangelegenheit im Wege stünde, zeigt auch, dass Fichte selbst nicht der festen Überzeugung gewesen sein kann, mit seinem Ansatz die ganze Gesellschaft als Adressaten der von ihm ausgedachten „neuen Erziehung“ zu erreichen und, damit einhergehend, die Umgestaltung des deutschen Volkes und seines Bildungs- und Erziehungswesens vollständig und ohne Parallelitäten zu bewältigen.

Fichte ließ jedoch die Frage offen, wie mit Menschen, die sich gegen seine „neue Erziehung“ stellen, umzugehen ist. Legen wir seine vorherige Überzeugung zugrunde, nach welcher der Staat in den Köpfen der Deutschen weiterlebe, so lässt sich davon ausgehen, dass er Widersacher seiner Nationalerziehung und „Nicht-Belehrbare“ gar nicht als dem deutschen Volk zugehörig ansah.

Absonderung war grundsätzlich ein Gedanke Fichtes, welcher mit seinem Konzept zur Nationalerziehung eng verwoben war. So schlug er eine gänzliche Absonderung vom Elternhaus der zu Erziehenden vor, damit die „neue Erziehung“ gelänge. Erst nachdem eine Generation nationalpädagogisch erzogen worden sei, könne ausgetestet werden, welche Teile dieser „neuen Erziehung“ man künftig dem Elternhaus anvertrauen könne.Footnote 94 Ein weiteres Anliegen des vermeintlich neuen Erziehungsgedankens nach Fichte war es, die Anschauungen und Empfindungen eines Kindes zu erkennen und zu lenken.Footnote 95 Er ging davon aus, dass das Kindes Anschauungen zu bilden, im Sinne von zu steuern, seien und dass eine solche Bildung Pestalozzi zweckmäßige Anleitungen erteilt habe, an welchen sich die deutsche Nationalerziehung orientieren könne.Footnote 96 Fichte erhoffte sich sogleich noch ausstehende Antworten von Pestalozzi hinsichtlich der Bildung des Empfindungsvermögens von zu Erziehenden.Footnote 97

In diesem Annahmen lassen sich ein weiteres Indiz kollektivistischer Erziehungsmethoden erkennen: Die Lenkung und Steuerung von Gedanken und Anschauungen, gar Überzeugungen, bei Kindern und Jugendlichen, später dann bei Erwachsenen bleibt zentrales Ziel aller Anstrengungen der Erziehung. Dieses kollektivistische Gedankengut wird auch deutlich in der von Fichte verkündeten Maxime, nach welcher Zöglinge seiner Nationalerziehung keine andere Anschauung als die heimisch gewordene kennen und nach welcher sie ihre „Welt der Anschauung“ auch nicht verändern, sondern allenfalls steigern werden.Footnote 98 Diese Steigerung ergäbe sich von selbst.

Fichte erkannte in seinen Reden jedoch bereits die Bedeutung der im 19. Jahrhundert noch viel beachteten Leibesertüchtigung als Mittel aber auch als Bestandteil von Erziehung. Damit war er Turnvater Friedrich Jahn und seinen erstmals 1811 praktizierten Leibesübungen einen Schritt voraus. Denn bereits benannte er neben der Anschauung und der Erkenntnis von Kindern auch die Notwendigkeit einer Ausbildung der körperlichen Kraft, womit er eine Methodentrias in seinem Konzept entwickelte. Er erkannte damit, dass es an Beachtung der für Kinder und Jugendliche im Prozess des Heranwachsens so wichtigen Entfaltung ihrer körperlichen Kraft mangelt.

Fichte betrachtete die Ausbildung der körperlichen Kraft als eine VorübungFootnote 99 und lediglich als ein Mittel der Umsetzung seiner Vorstellungen von Nationalerziehung, die er sich in ihrer Ausrichtung bürgerlich und religiös vorstellte.Footnote 100 Etwas für seine Zeit Sozialrevolutionäres formulierte er zugleich in seiner zehnten Rede über die Ebenbürtigkeit und die Bildungschancen von Kindern. Seine Pädagogik möge jedem Kinde die Chance geben, sein Können zu beweisen, da in ihr nicht von erblichen Eigenschaften in der damaligen Drei-Stände-Gesellschaft ausgegangen wurde.Footnote 101

Es kann daher festgehalten werden, dass Fichte einerseits Menschen, die nicht seiner Überzeugung waren und sich auch von seinen nationalpädagogischen Plänen überzeugen ließen, ausgrenzte und sie gar dem deutschen Volk aus nicht (mehr) zugehörig ansah. Vielmehr können wir andererseits ablesen, dass es ihm innerhalb dieses übrig gebliebenen Kreises, einer Art Schicksalsgemeinschaft,Footnote 102 um allgemein gültige Bildungs- und Teilhabechancen ging, solange die zu Erziehenden den Idealen und Zielen der deutschen Nationalerziehung folgten.

9.6 Mündigkeit innerhalb Fichtes Nationalerziehung

Fichte formulierte Nationalerziehung ebenso wie Pestalozzi als Menschenbildung. Ihm ginge es darum, Menschen und nicht Gelehrte zu bilden.Footnote 103 Zu dieser Menschenbildung zählte er auch die Entwicklung der menschlichen Liebe zueinander. Fichte revidierte in diesem Zusammenhang gleichermaßen seine anfänglichen Annahmen zur Selbstsucht der Menschen, die durch sittliche Erziehung auszutreiben sei, denn in seiner zehnten Rede beschrieb er diese Annahme wiederum als sehr oberflächlich.Footnote 104 Wichtiger noch als die menschliche Liebe zueinander sah der Philosoph allerdings den Trieb zu gegenseitiger Achtung.

Dieser Trieb sei für Kinder, Erwachsene zu achten und von ihn beachtet zu werden. Die Achtung und Beachtung seiner selbst durch Erwachsene dürfe das Kind selbst als einen Maßstand nehmen, wie sehr es sich selbst beachten darf.Footnote 105 Gerade solche Annahmen gelten allgemein hin als widerlegt und müssen in einen zeitlichen Kontext gerückt werden, in dem Menschen nicht als Individuen, sondern als Masse zählten. Den Trieb des Verlangens nach Beachtung anderer zu unterdrücken und sich seiner selbst bewusst zu sein, zählte Fichte zu einem Status des Erreichens von Mündigkeit innerhalb seines Erziehungsgedankens.Footnote 106 Es sei daher eine Grundlage aller sittlichen Erziehung, dass man über diesen Trieb Kenntnis habe und dass man ihn in seiner Erscheinung erkenne.Footnote 107 Hinter dem Begriff der Sittlichkeit verbargen sich für ihn die eigene Selbstbeherrschung, die Selbstüberwindung und die Unterordnung selbstsüchtiger Triebe.Footnote 108

Fichte spaltete den Begriff der Unterordnung wiederum in eine zwingend notwendige Unterwerfung vor dem Gesetz und in eine freiwillig zu leistende Unterwerfung des Einzelnen im Kollektiv, um dessen Wohlstand zu steigern und zu vermehren. Strafen gegen eine Gesetzesuntreue sahen sein Konzept von Nationalerziehung dahingehend vor, dass „freiwillige Aufopferungen“ für das Kollektiv untersagt werden sollten. Über einen Zeitraum hätten sich Zöglinge seinen Plänen nach zu bewähren gehabt, damit ihnen Aufopferungen als „Lohn der Gesetzmäßigkeit“ gestatten würden.Footnote 109 Damit wird transparent, dass für Fichte gesetzesuntreue Menschen nicht in der Lage waren und oder nicht die Lage versetzt werden durften, der Gesellschaft, oder auch nur dem Kollektiv, Gutes zu tun und dieser zu nützen.

Es lässt sich anhand dieser Darlegung festhalten, dass für seine Vorstellung von Nationalerziehung der Aspekt der Überwindung von Armut und Herstellung von Chancengleichheit nicht einher ging mit einem Resozialisierungsgedanken und der Chancengleichheit für Menschen, die vor dem Gesetz verfehlt haben.

Selbstüberwindung und Selbstbeherrschung sah Fichte in erster Linie bei den Erziehern geboten, die seiner Überzeugung nach Gewissensräte für die Zöglinge zu sein hatten. Die Überzeugung dieser Gewissensräte von den Zielen der „neuen Erziehung“ stellte für ihn eine Verfestigung sowie eine Eigenständigkeit seiner Pädagogik dar, die deren Fortbestehen in der Zukunft sichern sollten. Durch Eigenständigkeit der Individuen hingegen erführen diese eine sittliche Welt, in welcher sie selbst Gericht über sich halten könnten; jedoch unter der Voraussetzung, dass Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung als sozusagen zivilisatorischer Schritt vollbracht wurden. Mit Erreichen dieses Zustandes sei ein jeder mündig geworden.Footnote 110 Wenngleich Fichte seine Nationalerziehung nicht als Gelehrtenbildung, sondern wie Pestalozzi als Menschenbildung verstand, berücksichtigte er in seinem Konzept dennoch die Qualifikation von Gelehrten. Seinen Vorstellungen nach hatten künftige Gelehrte durch die „allgemeine Nationalerziehung“ hindurchzugehen; sie sollten sich eine entsprechende Empfindung und Anschauung zu Eigen gemacht haben. „Nur dem Knaben, der eine vorzügliche Gabe zum Lernen, und eine hervorstechende Hinneigung nach der Welt der Begriffe zeigt, kann die neue Nationalerziehung erlauben, diesen Stand zu ergreifen“,Footnote 111 so Fichte über die von ihn erdachte Möglichkeit eines Aufstiegs zum Gelehrten.

Kinder sollten nach Überzeugung des gebürtigen Sachsen gänzlich von Erwachsenen, die nicht ihrer Lehrer und Erzieher waren, abgesondert werden. Einen weiteren Fortschritt aus heutiger Sicht ist dabei, dass Fichte bei dieser Absonderung eine koedukative Bildung und Erziehung der Kinder vorsah. Beiden Geschlechtern sollte auf dieselbe Weise Nationalerziehung zuteil werden, da auch die Gegenstände des Unterrichts für beide Geschlechter gleich seien.Footnote 112 Für die damalige Zeit ist es bemerkenswert und durchaus fortschrittlich, dass ein Erziehungsansatz, bei welchem Sittlichkeit einen überbordenden Stellenwert einnimmt, Koedukation vorsieht und diese Sittlichkeit dabei nicht in Gefahr sieht. Nicht-koedukativer Unterricht hätte somit vielmehr wesentliche Bestandteile seines Erziehungsgedankens aufgehoben. Koedukation sollte, der eigenen Logik folgend, dem Zweck der Implementierung des Nationalgedanken förderlich sein, Beide Geschlechter, so Fichte, hätten später eine größere Gemeinschaft zu bilden, weshalb sie dies bereits im Kleineren, eben in der Erziehung, zu erproben hätten. Vom koedukativen Lernen versprach er sich außerdem „starkmüthigen Schutz“ und liebevollen Beistand untereinander.Footnote 113

Jener Beistand drückte sich auch an den Aspekten des Lernens und Arbeitens aus, welche nach Ansicht Fichtes zu vereinigen waren. Die Zöglinge, zu welchen er bekanntermaßen auch Mädchen zählte, hatten demzufolge an der Erhaltung der sie erziehenden und bildenden Erziehungsanstalten mitzuarbeiten. Dieses Konzept aus Lernen und Arbeiten war für ihn nicht nur Bestandteil seines Erziehungsgedankens, sondern diente auch dessen Erhalt. Denn auch hier sollten Kinder und Jugendliche erproben, wie sie sich später erhalten können und es im Kollektiv zu leisten schaffen, einen autarken Nationalstaat zu unterhalten. Dies war auch Teil der wirtschaftlichen ErziehungFootnote 114 in Fichtes nationalpädagogischem Ansatz.

Zu seinem Ansatz gehörte gleichsam die „Erziehung zum tüchtigen Arbeiter“.Footnote 115 Dies bedeutete, dass Zöglinge „Arbeitsamkeit“Footnote 116 gewöhnt werden sollten, was eine weitere Aufgabe der Erziehung dargestellt hätte. Zur Verteidigung dieses Gedankens zog Fichte wiederholt Pestalozzi heran, der seiner Meinung nach mit den in dessen Erziehungsmodell üblichen Handarbeiten Ähnliches habe bewirken wollen. Fichte sah für sein Nationalerziehungskonzept Handarbeiten vor, die als „gemeinschaftliche Geistesübungen“ verstanden werden sollten, nicht als Unterricht. Er schätzte Kinder und Jugendliche so ein, dass sie Stricken und Spinnen als ein erheiterndes Spiel ansehen würden. Ein „Recht auf Freizeit“ sowie auf individuell gewählte geistige Anregung sah sein Konzept nicht vor.

Doch Handarbeiten standen für Fichte nicht im Fokus des Arbeitens. Als „Hauptarbeiten“ sah der Philosoph vielmehr Ackerbau, Gartenbau, Viehzucht und handwerkliche Tätigkeiten, welche die Gemeinschaft am Leben halten. Hierbei solle die körperliche Arbeit an das für das Alter eines Kindes zumutbare Maß entsprechend angepasst oder zugeteilt werden. Gleichermaßen sollten Maschinen und Werkzeuge neu erfunden werden und menschliche Kraft ersetzen.Footnote 117 Daraus geht hervor, dass in dessen Vorstellung von Nation ein ungeheuerer Glaube an den technischen Fortschritt steckte, obwohl sich die Industrialisierung in den Jahren 1807/1808 in Preußen noch sehr in ihren Anfängen befand.

Fichte oblag ein wirtschaftlich autarker Nationalstaat der Deutschen.Footnote 118 Er ging nicht näher darauf ein, weshalb er eine Notwendigkeit der Autarkie gegeben sah. Es ist jedoch aufgrund der zeitlichen Umstände davon auszugehen, dass ihn insbesondere die französische Besatzung Preußens und die damit verbundenen Eingriffe in Rechtssprechung, Wirtschaft und Bildung zur Autarkie anregten.

9.7 Nationalerziehung als Mittel des Widerstandes

Fichte stellte in seiner elften Rede die Frage nach infrage kommenden Trägern zur Ausführung seines Erziehungsplanes. Er überraschte dabei mit seiner Überzeugung, dass die deutsche Nationalerziehung vom Staate aus gehen solle, da es doch gerade dieser deutsche Nationalstaat war, den er erst mit Erziehung und Bildung noch zu erschaffen suchte. Der Idealist ging davon aus, dass Vaterlandsliebe vom deutschen Staat, oder auch dort, wo Deutsche regiert werden, auszugehen hat. Dies war eine Grundlage seines Gedankens, ohne welchen auch der Nationalerziehungsplan gescheitert wäre. Aufgrund dieser Angabe ist davon auszugehen, dass er hier als „Staat“ nicht alle Bürger, sondern die Regierenden sah. In diesem Staat müsse Vaterlandsliebe ihren Vorsitz haben.Footnote 119

Fichte ließ somit ein Vakuum zwischen den zu seiner Zeit realen Umständen und der Möglichkeit der Umsetzung seines Planes; dieser fehlte es an dem Vorhandensein eines deutschen Staates selbst. Er selbst hätte eigentlich einen Widerspruch darin erkennen müssen, dass bei dem Staat und seinen Regierenden, in den Jahren 1807 und 1808 waren dies Franzosen, keine deutsche Vaterlandsliebe hätte Einzug finden können. Der Staat, in welchem Fichte in den Zeit seiner „Reden“ lebte, das besetzte Königreich Preußen, hatte nationalpädagogische Pläne, welche ihn selbst hätten grundlegend verändern sollen, nicht auf der eigenen Agenda.

Doch überlegte er eine mögliche Alternative zu diesen staatlichen Interventionen, welche er in der Kirche sah. So fasste er die jüngere pädagogische Geschichte aus seiner Sicht wie folgt zusammen: „Im neuern Europa ist die Erziehung ausgegangen nicht eigentlich vom Staate, sondern von derjenigen Gewalt, von der die Staaten meistens auch die ihrige hatten, von dem himmlisch-geistigen Reiche der Kirche.“Footnote 120 Doch im engeren Sinne stand und steht die Kirche in Mitteleuropa für das, was Fichte in Abgrenzung von seiner Nationalerziehung die „alte Erziehung“ nannte, welche es zu überwinden galt. Der Philosoph warf dieser Kirche vor, die Bürger in der Vergangenheit nur abgeworben zu haben, in Legitimation eines Überirdischen, und dann rein nach kirchlichen Vorstellungen erzogen zu haben; demnach meinte er auch erwachsene Bürger. Die einzige öffentliche Erziehung, und zwar die des Volkes sei hierbei nur der Seligkeit im Himmel angedacht gewesen.Footnote 121 Daraus geht der Vorwurf Fichtes hervor, dass die Kirchen zu wenig für die Nationalerziehung und somit für das Nationalbewusstsein geleistet hätten und dass sie damit eine Mitschuld an der gegenwärtigen Misere Preußens trügen.

In der Reformation sah Fichte lediglich eine Vereinigung der kirchlichen Macht, was aus heutiger Sicht widersprüchlich erscheint, da wir anhand der kirchlichen Geschichtsforschung wissen, dass die Reformation die römische Kirche in erster Linie spaltete. Jedoch wurde seiner Überzeugung nach diese Macht nicht genutzt, um das Volk vor negativen Einflüssen zu bewahren, sondern um den Fortbestand der geistlichen Ausbildung zu sichern. In diesem Punkt sah Fichte ein schweres Vergehen. Ebenso sah er ein schweres Vergehen darin, dass die Spitze des Regiments, also die Verantwortlichen für Bildung und Erziehung der jüngeren Geschichte, nicht-kirchliche Anstalten in der pädagogischen Arbeit sich selbst überließen.Footnote 122

Eine weitere wesentliche Kritik des Philosophen lag darin, dass mit diesem Vorgehen vergessen würde, dass sich die höheren und geistlichen Klassen des Menschengeschlechts aus dem einfachen Volks nährten und dass daher auch eine angemessen qualifizierende und wertschätzende Bildung dem gesamten Volk zuteil werden müsste. Er steigerte seine Kritik darin, dass es zu beobachten sei, dass „der eigentliche Boden des Menschengeschlechts“, also das Volk, sich seit der Reformation bis zu dem gegenwärtigen Zeitpunkt (1807/1808) „im Zustande des steigenden Verfalles“ befände.Footnote 123 Fichtes Überzeugung nach war es ein unzulässiges Argument, zu behaupten, der Staat habe keine finanziellen Mittel für Bildung und Erziehung.

Sein Konzept stützte sich auf den radikalen Gedanken, „an die Stelle des Veralteten und Unbrauchbaren“ etwas zweckmäßiges Neues zu setzen.Footnote 124 Fichte beschrieb damit bereits ein Problem unserer Zeit; dass für subjektiv betrachtete fortschrittliche Bildung und Erziehung kein Geld zur Verfügung stehe oder dies zumindest vorgegeben wird. Subjektiv ist dieser Umstand daher, da sich in jeder Generation die Ansprüche an die Ausgestaltung und Ziele von Bildung und Erziehung ändern. So wie zeitgenössischer Betrachtung Nationalpädagogik fortschrittlich gewesen sein mag, leben wir heute in gänzlich anderen Umständen, welche die Meinungen der Mehrheit dahin gehen lassen, dass diese Art der Pädagogik nicht mehr fortschrittlich ist.

Fichte sah in der gegenwärtigen Besatzung Preußens durch Frankreich eine Gunst der Stunde gegeben. Der Staat müsse für die Umsetzung von Nationalerziehung, „den Grundbegriff vom Zwecke der Erziehung“ gegen einen ganz anderen eintauschen.Footnote 125 Zwar sah er in der Fremdherrschaft eine Bevormundung und eine Einbringung abzulehnender Gesetze und beschrieb bereits, wie man diese mithilfe seines Nationalerziehungsplanes überwinde könne. Gleichermaßen erkannte der Philosoph jedoch Gelegenheiten, vorhandene Nischen zur Umsetzung eben jenes Planes zu nutzen. Energisch rief er die Deutschen dazu auf:

„Unsere Verfassungen wird man uns machen, unsere Bündnisse und die Anwendung unserer Streitkräfte wird man uns anzeigen, ein Gesetzbuch wird man uns leihen, selbst Gericht und Urtheilsspruch und die Ausübung derselben wird man uns zuweilen abnehmen […]. Blos [sic!] an die Erziehung hat man nicht gedacht; suchen wir ein Geschäft, so lasst uns dieses ergreifen!“Footnote 126

Mit diesem Aufruf verdeutlichte Fichte den Kern seiner Forderungen; das Nutzen von Nischen in einer nicht glückseligen Gegenwart. Er glaubte dabei fest an einen Erfolg und an die Überwindung der Fremdbestimmung und nahm die Niederlagen Preußens von 1806 zum Anlass, die „frühere“ Pädagogik und das kollektive Bild von Bildung, Militär und Nation grundlegend ändern zu wollen. Der Philosoph sah nicht nur ein Versagen des Militärs, sondern ein „Gesamtversagen“ der Gesellschaft und ihrer führenden Personen sowie in der Nichtexistenz des geeinten deutschen Staates. Fichte ging gar davon aus, dass ein Staat, der die von ihm vorgeschlagene Nationalerziehung umsetzte, gar kein Militär mehr benötigte.Footnote 127 Er appellierte daran, dass der Staat und seine BeraterFootnote 128 nicht an der Aufgabe der Umsetzung seiner Vorstellungen von Nationalerziehung verzweifeln; im Wissen darum, dass das zu Verändernde in seiner Größe immens ist und Erfolge sich erst in fernerer Zukunft bemerkbar machen werden. So gab Fichte die Einschätzung ab, dass bei erfolgreicher Umstrukturierung von Bildung und Erziehung mit einem Erfolg, einem „besseren Geschlecht“, in frühestens fünfundzwanzig Jahren zu rechnen sei, sofern der Staat von sofort an alle Anstrengungen in Richtung einer Nationalerziehung unternähme.Footnote 129

9.8 Verantwortung des Staates und des Einzelnen bei Fichte

Fichte ging bereits in seinen Reden an die deutsche Nation zu einem in der Geschichte sehr frühen Zeitpunkt auf das Prinzip der Subsidiarität ein. Er behandelte dabei die Frage, inwiefern der Staat, entweder in seiner damaligen pluralistischen Form oder als noch zu errichtender Einheitsstaat, die Aufgaben einer Nationalerziehung übernehmen könne und übernehmen müsse. Fichte ging in seinen Gedanken zur Subsidiarität sowohl auf den historischen Hergang von Verantwortungsübernahme des Staates in Bildung und Erziehung ein als auch auf das Überwinden sozialer Ungleichheiten anhand seines Nationalerziehungsplanes. Fichte konstatierte, dass der StaatFootnote 130 vieles habe unternehmen müssen für Gerichte, Polizeien, Straf- und Armenanstalten, jedoch niemals habe genug für sie tun können.Footnote 131 Er kritisierte in diesem Zusammenhang auch finanzielle Ausgaben in eine nicht zielführende Richtung. Gerade dieses Argument findet auch in den gegenwärtigen Diskursen um Staatsversäumnisse in einer multiethnischen Gesellschaft Beachtung und stellt eine interessante Parallele dar.

Der Philosoph kam bei der Besprechung der Frage um staatliche Verantwortung und Finanzierung zu dem Fazit, dass man nach Umsetzung seiner Vorstellungen von Nationalerziehung keine derartigen Institutionen mehr benötigte und daher Diskurse um deren Finanzierung entfielen.Footnote 132 Fichte ging in Hinblick auf seinen pädagogischen Ansatz und Subsidiarität beide Szenarien durch; sowohl die Übernahme staatlicher Verantwortung für die Umsetzung seines Nationalerziehungsplans als auch den Fall des Nichtzustandekommens von öffentlicher Seite. Einen Vorteil sah Fichte in der Allgemeingültigkeit von Nationalerziehung durch den Staat, sofern dieser die Aufgabe von Nationalerziehung annähme. Denn dieser würde, so seine Auffassung, keinen seiner Bürger von den Plänen auslassen und eine flächendeckende Erziehung neuen Planes garantieren.Footnote 133 Bereits dies bewies seiner Überzeugung nach die Notwendigkeit einer Einmischung des Staates in die Erziehung.

Nachdem Fichte bereits sehr präzise Vorstellungen formulierte, äußerte er nun die sehr realistische Erkenntnis, dass Eltern aller Voraussicht nach nicht bereit sein werden, ihre Kinder freiwillig abzutreten, um diese vom Staat nach neuen Vorstellungen nationalpädagogisch erziehen zu lassen. Der Philosoph rechnete damit, dass insbesondere Eltern in wohlhabenden Verhältnissen ihre Kinder weiterhin zuhause bilden und erziehen lassen werden, wie auch bereits in der Vergangenheit.Footnote 134 Er kritisierte die seines Erachtens gewohnt erteilte Antwort, dass der Staat in solchen Fällen nicht das Recht habe, Zwang auszuüben. Der Staat, so seine Auffassung, könne nicht warten, bis die Menschheit von selbst einen guten Willen entdecke, Folge zu leisten, da die ausgerechnet für diesen guten Wille vorausgesetzte Ausbildung, nämlich Nationalerziehung, der Menschheit fehle. Somit müsse Zwang ein Mittel der Umsetzung von Nationalerziehung sein. Es wäre zu beklagen, wenn diejenigen, die solche Auffassungen vertraten, künftig weiterhin Entscheidungen in dieser Angelegenheit treffen dürften.Footnote 135

Um seinem Argument der Dringlichkeit der Absonderung der zu Erziehenden vom Elternhaus Nachdruck zu verleihen, zog Fichte einen Vergleich mit der in Preußen bestehenden Wehrpflicht heran. Dieser zufolge habe der Staat schließlich auch das Recht, zur Landesverteidigung junge Menschen zum Kriegsdienst einzuziehen. Ähnlich verhielte es sich mit dessen Wehrhaftigkeit durch Erziehung.Footnote 136 Insofern stellte der Philosoph eine klare Analogie zwischen militärischer und erzieherischer Ausbildung hier. Durch diesen Vergleich wird deutlich, dass er mit der Erziehung und Bildung von Bürgern eine Art Wehrhaftigkeit des Staates verband, welche der Wehrhaftigkeit des Staates in kriegerischen Auseinandersetzungen gleich kam. Sollte man seinem Argument folgen und Nationalerziehung wie eine länger andauernde Wehrpflicht einführen, so dachte Fichte bereits daran, dass einige Privilegierte sich diesem Unternehmen aufgrund ihrer Stellung werden entziehen können.

Fichtes Glaube an die Wirkung seines Konzeptes war jedoch so stark, dass er sich sicher war, dass die sodann nach „alten Werten“ Erzogenen in der neuen Welt wie ein Relikt der Vergangenheit erscheinen und die Notwendigkeit der Nationalerziehung verdeutlichen werden.Footnote 137 Daraus geht hervor, wie der Idealist mit abtrünnigen Menschen innerhalb seiner konzipierten Gesellschaft umgehen und zu was er sie erklären möchte. Es zeigt auch, wenn auch erst an später Stelle seiner „Reden“ dass diese Abtrünnigen sowie viele Widerstände nicht unvorhergesehen waren.

Fichte bedachte ferner, dass er vielerlei von einem deutschen Staat ausgeht und spricht, dies seinerzeit jedoch noch nicht der Realität entsprach. Im Jahr 1808 war es völlig unabsehbar, ob es jemals einen geeinten deutschen Nationalstaat geben wird. Er schlussfolgerte aus dieser Pluralität an deutscher Staatlichkeit die positiven Seiten eines Wettbewerbs. So ging Fichte davon aus, dass durch Nachahmung und dem Eifer, einander zuvorzukommen, derjenige unter den deutschen Staaten, welcher „in dieser Sache den Anfang“ mache, Achtung, Liebe und Dankbarkeit durch das ganze deutsche Volk erhalten werde.Footnote 138 Er ging gar davon aus, dass der erste im Wettbewerb um das Deutschnationale erfolgreiche deutsche Staat als „höchster Wohltäter“ und „eigentlicher Stifter der Nation“ betrachtet werden wird.Footnote 139 In dem vermeintlichen Nachteil der Vielstaatlichkeit Deutschland sah Fichte daher eine Chance auf die Beförderung der „wichtigen Nationalangelegenheit“, die Deutschen zu einen.Footnote 140

Staaten, die seinem Nationalerziehungsplan folgten, sollten nicht lange allein stehen sondern rasch Nacheiferer finden, so die Idee dieses Wettbewerbs um „das Nationale“. Sollten sich Staaten aus dieser Nationalangelegenheit heraushalten, wäre der private Sektor in die Verantwortung gezogen worden. Hierbei sah Fichte jedoch keineswegs ein subsidiäres System von Beginn an vor, sondern vielmehr als Notersatz für eine sich der Nationalerziehung verschließenden Staatsführung. Der Philosoph sah für diese Aufgabe vornehmlich Gutsbesitzer auserkoren, welche auf ihren Landgütern „Erziehungsanstalten“ errichten und erhalten würden, die nach nationalpädagogischem Vorbild lehrten und erzögen.Footnote 141

Es erscheint als wahrscheinlich, dass für Fichte bereits Gutsbesitzer und Mäzenen wie Friedrich Eberhard von Rochow im Fokus dieses Gedankens erschienen, welche durch herausragendes Engagement und eigenem Kapital Nationalerziehung forcierten und um diese warben. Doch warnte er indirekt vor den Folgen der Subsidiarität für die von sozialer Ungleichheit betroffene Bevölkerung. Denn der Staat nicht alle Eltern zur Überlassung ihrer Kinder zu Erziehungszwecken überließe, so könnten durch die Gutsbesitzer geforderte Abgaben ein Spannungsverhältnis zwischen „reich“ und „arm“ erzeugen. Auch diesem vermeintlichen Nachteil gewann Fichte einen insgeheimen Vorteil ab. Verarmten Kindern und Jugendlichen solle man Brot geben und durch diese Wohltat diese für sich und den Zweck der Nationalerziehung gewinnen.Footnote 142

Gerade die Veramten waren nach Fichte nun vorbildliche Bürger im neuen Staate und hätten gegenüber den Reichen und denen, die sich der Nationalerziehung verweigerten, Vorrechte. Sie würden nun ein besseres Geschlecht bilden und Stammväter künftiger „Helden, Weisen, Gesetzgeber, Heilande der Menschheit“Footnote 143 werden. Es solle denen nunmehr Benachteiligten ein Zeugnis sein, dass es vorteilhaft für sie wäre, ein Leben entsprechend dieses nationalen Planes zu führen.Footnote 144

Fichte ließ jedoch nicht außer Acht, dass es eine Übergangszeit zwischen der gegenwärtigen und der noch zu erschaffenden Gesellschaft und auch zwischen den Bildungssystemen geben werde. Er konstatierte: „So entsteht die näherliegende Frage: Wie sollen wir uns auch nur durch diesen Zwischenraum hindurch bringen?“Footnote 145 Als besondere Herausforderung sah er hierbei den Umstand, dass das Vorhandene nicht als Vorbild dienen dürfe, sondern von der nachfolgenden Generation überwunden werden müsse, um als „besseres Geschlecht“ hervorzugehen. Noch einmal und abschließend betonte Fichte die aus seiner Sicht notwendige Absonderung dieser Generation von den Erwachsenen, damit diese nicht „irre“ werde. Es müsse schließlich darauf geachtet werden, dass aus dieser Absonderung etwas Positives im Sinne der Nationalerziehung entstünde, und nicht etwa Sklaverei.Footnote 146

9.9 Fichtes nationalpädagogischer Nachhall

Gerade die zuletzt genannten Erkenntnisse machen die Gefahr von Fichtes eigensinnigem Erziehungsansatz deutlich; eine Verführung der zu erziehenden Jugend in eine unkontrollierbare Richtung. Dieser lässt vor allem eine inhaltlich-pädagogische Konstante vermissen; ein höheres Ziel als eine staatliche Einheit, für den Fall, dass diese langt wird. So bleiben Antworten auf weiterführende Ziele durch den Philosophen aus.

Fichte beantwortete weder die Frage nach der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung einzelner Lehrpläne für verschiedene Altersstufen, noch, wie mit verschiedentlichen Auffassungen über das Staatswesen in der Pädagogik letztlich umzugehen ist. So wäre beispielsweise eine republikanische Nationalerziehung eine andere als eine an die Monarchie orientierte. Ebenso blieb er eine Antwort schuldig, was seiner Meinung nach gegenüber anderen Völkern das Deutschsein in diesem neuen deutschen Nationalstaat ausmache und wie Nationalerziehung helfen könne, diese Besonderheit aufrecht zu erhalten.

Trotz dieser ausbleibenden Antworten hinterließ die von Fichte gehaltene Vorlesungsreihe nachhaltigen, tiefen Eindruck in der wissenschaftlichen Fachwelt als auch in Teilen der Bevölkerung. „Er wird damit zum Mitbegründer der deutschen Nationalbewegung“, urteilt die Chronik des 19. Jahrhunderts.Footnote 147

Wir wissen heute, dass dieser pädagogische Ansatz als Antwort auf ein damals tatsächlich vorhandenes nationales Problem vielfach diskutiert und zum Vorbild weiterer Ansätze genommen wurde und preußische Reformen bis zur Reichsgründung 1871 nachhaltig prägte. Selbst darüber hinaus wurde Fichte zur Legitimation anderer Ansätze oder zur vermeintlichen Klärung bestimmter Phänomene herangezogen.

Auch im 20. Jahrhundert nochFootnote 148 spielten die Annahmen des Philosophen zur Nationalerziehung sowohl eine ehrenvolle als auch wenig ruhmreiche Rolle. Zunächst wurde sie auf der Reichsschulkonferenz von 1920 vielfach als mögliches Modell für eine Um- und Ausgestaltung neuer Pädagogik diskutiert, die für die neue Republik notwendig geworden erschien. Jedoch brachte diese Konferenz aufgrund der Uneinigkeit und der schließlich 1922 festgelegten Subsidiarität von Bildung und Erziehung keine Einigung.

Später dann wurde Fichtes Nationalerziehung zu Legitimationszwecken der nationalsozialistischen Erziehung im NS-Staat herangezogen und teilweise missbraucht. Gerade letzterer Umstand wirft bis heute dunkle Schatten auf das Lebenswerk Fichtes und auf seinen von Zeitgenossen als revolutionär empfundenen nationalpädagogischen Ansatz.