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Panorama Unschuldig verurteilt

Der tödliche Fehler eines Staatsanwalts

Glenn Ford hätte sterben sollen - für einen Mord, den er nicht begangen hat Glenn Ford hätte sterben sollen - für einen Mord, den er nicht begangen hat
Glenn Ford hätte sterben sollen - für einen Mord, den er nicht begangen hat
Quelle: picture alliance / AP Photo
Glenn Ford sitzt 29 Jahre lang unschuldig in der Todeszelle. Als er herauskommt, ist er todkrank. Der Staatsanwalt gibt fatale Fehler zu und bittet um Vergebung. Doch dafür ist es zu spät.

Als sie an einer Tankstelle vorbeifahren, die frittiertes Hühnchen und „Krispy Kreme“-Donuts verkauft, bittet Glenn Ford seinen Anwalt anzuhalten. Das erste genießbare Fleisch, der erste Donut seit 29 Jahren, drei Monaten und fünf Tagen. Seit er für diesen Mord verurteilt wurde, den er nicht begangen hatte. Damals war noch Ronald Reagan Präsident der Vereinigten Staaten.

Der Anwalt, ein dicklicher Mann Anfang 60 mit weißen Haaren und speckigem Trenchcoat, bremst ab, parkt den Wagen, steigt aus und läuft auf die Tankstelle zu. Er dreht sich um, Ford sitzt noch im Auto.

„Hey, wo bleibst du?“

Ford guckt ihn an, als verstehe er die Frage nicht. Er trägt noch seine Gefängnisklamotten, seine weiße Wollmütze, ein weißes T-Shirt, ein Jeanshemd und Jeanshose. Er ist jetzt 64. Er saß fast sein halbes Leben in der Todeszelle. Wann immer er in dieser Zeit durch eine Tür ging, hatte jemand anderer sie für ihn geöffnet.

Heute Morgen, als er seine Zelle zum letzten Mal verließ. Auch wenig später, als er durch das schwere Stahltor eines Hochsicherheitsgefängnisses in die Freiheit trat. Und an all den anderen Tagen davor. Nun sitzt er in einem Auto an einer Tankstelle, aufgeregt und hungrig, und wäre nie auf die Idee gekommen, die Autotür selbst aufzumachen. Da begreift er, dass es nicht einfach wird, dieses neue Leben. Es ist März, 2014.

Zum letzten Mal Zelle

Etwas mehr als ein Jahr später, im Sommer dieses Jahres, liegt Ford im Haus eines Freundes in New Orleans, in einem Zimmer mit wenig Tageslicht. Von dem, der er mal war, breitschultrig, bullig, ist nicht mehr viel übrig.

Amerikanische Gefängnisse sind gut gesichert - vor allem dann, wenn hier zum Tode Verurteilte einsitzen
Amerikanische Gefängnisse sind gut gesichert - vor allem dann, wenn hier zum Tode Verurteilte einsitzen
Quelle: dpa

Er ist abgemagert bis aufs Skelett, und es spielt keine Rolle mehr, dass er an jenem Frühlingstag zum ersten Mal seit neun Jahren die Sonne auf seiner Haut spürte, das Gefängnis mit zwei kleinen Pappkartons verließ, Fotos und Medikamente darin, und mit zwei Umschlägen.

Dass dies alles war, was er noch besaß, die Kartons, seine Entlassungspapiere und eine Geldkarte mit 20,04 Dollar. Inzwischen kann er das Bett kaum noch verlassen. Auf einem Tischchen neben seinem Bett liegen seine Medikamente, ein Sauerstoffgerät, Windeln und eine Packung Camel, filterlos, er hat ja nichts mehr zu verlieren.

Zweieineinhalb Wochen später ist er tot, Lungenkrebs. Und ein einst erfolgreicher Staatsanwalt namens Marty Stroud ist nun ein Mann, der jahrzehntelang vergebens nach Erlösung gesucht hat. Er weiß, er wird seinen Fehler nicht mehr gutmachen können.

Ein amerikanisches Problem

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Es sind nur wenige Fälle bekannt, in denen in den USA jemand ähnlich lange unschuldig in der Todeszelle saß wie Glenn Ford. Nie hat ein Staatsanwalt, der dafür verantwortlich ist, seine Schuld öffentlich eingestanden. Ford, schrieb der Staatsanwalt vor ein paar Monaten in einer Lokalzeitung, hätte niemals ins Gefängnis gehen dürfen.

Obwohl dieser Fall einzigartig ist, sagt er viel über ein amerikanisches Problem aus.

Derzeit warten in amerikanischen Gefängnissen mehr als 3000 Männer und Frauen auf ihre Exekution. Doch jedes Jahr werden in den USA mehr Häftlinge nachträglich freigesprochen – weil sie für etwas ins Gefängnis kamen, was sie nicht getan hatten. Seit 2002 wurden 115 Häftlinge aus der Todeszelle entlassen, nach Jahren oder Jahrzehnten.

Glenn Ford verließ nach über 30 Jahren das Gefängnis mit etwas mehr als 20 Dollar auf dem Konto
Glenn Ford verließ nach über 30 Jahren das Gefängnis mit etwas mehr als 20 Dollar auf dem Konto
Quelle: Henrietta Wildsmith/The Times

Im vergangenen Jahr waren es sechs Todeskandidaten und 119 andere Häftlinge. Alle drei Tage kommt also irgendwo in Amerika ein Unschuldiger aus dem Gefängnis frei. Der Grund, in vielen Fällen: Seit es DNA-Tests gibt, lässt sich ihre Unschuld besser beweisen.

Glenn Fords Fall ist gut dokumentiert. Es gibt Hunderte Seiten Gerichtsakten, es gibt Anwälte, Freunde und Krankenschwestern Fords, mit denen man sprechen kann. Auch Ford und der Staatsanwalt Stroud haben ihre Geschichte bis vor Kurzem erzählt. Bis der eine nicht mehr sprechen konnte und der andere nicht mehr sprechen wollte. Es war ein Mord, begangen im Jahr 1983, der die Leben dieser beiden Männer erst zusammengebracht und sie dann zerstört hat.

Zusammengebracht und dann zerstört

Diese Leben beginnen fast zeitgleich und am selben Ort. Ford und Stroud sind in Shreveport geboren, einer Stadt im Norden Louisianas, 500 Kilometer nordwestlich von New Orleans. Ford am 22. Oktober 1949, Stroud am 22. August 1951. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Ford ist schwarz, Stroud ist weiß. Und damals ist die Rassentrennung noch in Kraft.

Seit dem Ende der Sklaverei hat sich im südlichen Teil der USA nicht viel getan.

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Den Weißen gehört das Land, sie besuchen die guten Schulen, studieren und besetzen die wichtigsten Posten in Politik und Wirtschaft.

Schwarze haben kein Wahlrecht. Und sie können froh sein, wenn sie überhaupt eine Schule besuchen. In die weißen Stadtteile fahren sie nur zum Arbeiten.

Shreveport ist eine der wenigen Städte, in denen die US-Regierung nach dem Civil Rights Act von 1964 einschreiten muss, um die gleichen Wahl- und Bürgerrechte für Schwarze wenigstens ansatzweise umzusetzen. Die lokalen Behörden weigerten sich.

Bürgerrechte für Schwarze

Weiße Eltern gründen Privatschulen, damit ihre Kinder auch weiter ohne Kontakt zu Schwarzen aufwachsen. Die Polizei nimmt Schwarze wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ fest, wenn sie sich neben Weiße in die Bushaltestelle setzen.

Marty Stroud - der ehemalige Staatsanwalt, der für die Verurteilung von Glenn Ford kämpfte. Heute bereut er - aus Gründen, die er nicht offenbaren will
Marty Stroud - der ehemalige Staatsanwalt, der für die Verurteilung von Glenn Ford kämpfte. Heute bereut er - aus Gründen, die er nicht offenbaren will
Quelle: picture alliance / AP Photo

Ansel Martin Stroud III stammt aus einer angesehenen Familie in Shreveport. Sein Großvater Ansel Martin Stroud I besitzt einen Lebensmittelmarkt und Farmland. Sein Vater Ansel Martin Stroud II hat sich als Generalmajor der Louisiana National Guard einen Namen gemacht.

Und Ansel Martin Stroud III, einer von vier Söhnen, besucht eine gute Schule, besteht mit Auszeichnung 1976 sein Juraexamen, seine Karriere verläuft gradlinig. Referendariat am Gericht, Assistent der Staatsanwaltschaft, 1983 wird er zum Staatsanwalt des Regierungsbezirks ernannt, zu dem Shreveport gehört. Auch privat findet Stroud sein Glück, 1975 heiratet er. Die Ehe bleibt kinderlos, aber beständig.

Ford lernt das Leben von einer anderen Seite kennen. Seine Mutter stirbt kurz nach seiner Geburt, sein Vater hat einen schweren Unfall und kann sich nicht um die Kinder kümmern. Also wachsen Glenn und seine beiden älteren Geschwister bei ihrer Großmutter im Süden Kaliforniens auf. Ford besucht die Highschool, schafft die Hochschulreife.

Leben ohne Mutter

Er beginnt eine Ausbildung, bricht sie ab, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Er lernt eine Frau kennen, sie hat schon zwei Söhne. Zusammen bekommen sie zwei weitere Söhne. Das Geld ist immer knapp, Ford beginnt zu klauen und Drogen zu verkaufen. Als die Polizei hinter ihm her ist, beschließt Ford, eine Weile zu verschwinden. Er verlässt seine Familie in Kalifornien und zieht zu seinem Vater nach Shreveport. Da ist es 1980.

Er tut sich schwer, Freunde in Shreveport zu finden. Er geht in Nachtclubs, reißt Frauen auf, hat Liebschaften, nichts Festes. Er jobbt in einem Sandwichshop und hilft weißen Hausbesitzern bei der Gartenarbeit. Isadore Rozeman zum Beispiel.

Der 58-Jährige lebt in einem kleinen, weißen Holzhaus mit einer in den Südstaaten so typischen Veranda vor der Eingangstür. Im Erdgeschoss hat er einen Laden eingerichtet, er kauft und verkauft Schmuck und Porzellan. Ford mäht regelmäßig Rozemans Rasen, jätet seine Beete, stutzt die Hecke.

Am 5. November, einem Samstagnachmittag, treffen ab 15.24 Uhr mehrere Polizisten in Rozemans Haus ein. Sie finden ihn hinter dem Verkaufstresen, auf dem Bauch liegend, in einer Blutlache. Seine Hosentaschen sind nach außen gestülpt, neben seinem Kopf liegt seine Brille und eine Pistolenkugel, Kaliber 38. Hinter dem rechten Ohr hat Rozeman ein Einschussloch, glatter Durchschuss. Einer der Beamten fasst Rozeman ans Handgelenk. Kein Puls, schreibt er später in seinen Bericht.

Kein Puls, heißt es im Bericht

Ein Mann hatte die Polizei alarmiert, auf den es später noch ankommen wird: ein Dr. Abdul Ebrahim. Er war die Stufen zu Rozemans Haus hinaufgestiegen, hatte durch die offen stehende Tür gesehen, dass Schmuckstücke und zerschlagenes Porzellan auf dem Boden lagen und war zu einem Blumenladen in der Nachbarschaft gelaufen, um die Polizei anzurufen.

Die nimmt sofort die Ermittlungen auf.

Drei Nachbarn sagen aus, den Gärtner von Rozeman in der Mittagszeit in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben. Die Polizisten fangen an, nach Ford zu fahnden. Ford hört davon. Gegen zwei Uhr nachts meldet er sich bei der Polizei. Er erzählt, er sei am Morgen bei einer Freundin gewesen und habe dann einen Kumpel namens O.B. getroffen.

Todeszelle in einem Gefängnis in den USA. Die häufigste Hinrichtungsmethode ist heute die Giftspritze. Auf einer Liege wie dieser wird sie verabreicht
Todeszelle in einem Gefängnis in den USA. Die häufigste Hinrichtungsmethode ist heute die Giftspritze. Auf einer Liege wie dieser wird sie verabreicht
Quelle: dpa

Gemeinsam seien sie gegen Mittag zu Rozeman gegangen, um ihn nach Arbeit zu fragen. Doch Rozeman hatte keine. Den restlichen Tag sei er, Ford, allein zu Hause gewesen, bis abends sein Vater kam. Die Polizei macht Fotos von Ford, nimmt seine Fingerabdrücke und untersucht seine Hände auf Schmauchspuren hin. Dann darf er gehen.

In den folgenden Tagen klappern die Ermittler die Pfandleiher in der Gegend um Rozemans Haus ab. Bei einem, rund zehn Minuten zu Fuß entfernt vom Tatort, werden sie fündig. Am Nachmittag des Mordtages hat ein Mann einen Reisewecker, einen Silberring, ein silbernes Armband und eine Taschenuhr abgegeben. Es sind Sachen, die Rozemans Mörder mitgenommen haben. Auf der Quittung über 24 Dollar steht ein Name: Glenn Ford. Die Unterschrift wird von einem Experten später eindeutig als Fords Handschrift identifiziert.

Silberring, Armband, Taschenuhr

Am Dienstag, den 8. November, wird Ford festgenommen. Er gesteht jetzt, sein Bekannter O.B. habe ihm die Wertsachen am Nachmittag des Mordes gegeben und gebeten, sie zum Pfandleiher zu bringen. Ford behauptet, er habe keine Ahnung, woher der Schmuck stammt. Er wisse auch nicht, wie O.B. mit richtigem Namen heiße und wo er wohne. Er bleibt in Untersuchungshaft, die Beamten ermitteln weiter.

Am Freitag, den 11. November, schreibt einer der leitenden Beamten dann einen Bericht, der eigentlich gut ist für Ford. Demnach haben zwei Informanten unabhängig voneinander ausgesagt, die Brüder Jake und Henry Robinson, zwei stadtbekannte Drogendealer, hätten den Raubmord an Rozeman begangen. Ford sei nicht dabei gewesen. Wer die Informanten sind, steht nicht in den Akten.

Am selben Tag wird Ford erneut verhört. Die Beamten legen ihm Bilder der Robinson-Brüder vor. Ford identifiziert Henry Robinson als seinen Kumpel O.B. Er gibt den Polizisten den entscheidenden Tipp, die Robinsons seien zu Verwandten geflüchtet, in einen Vorort von Shreveport. Jake Robinson wird sofort festgenommen, sein Bruder ein paar Monate später.

Bei ihm finden Polizisten zwei schusssichere Westen, Handschellen, ein Messer und Manschettenknöpfe, die die Mörder des Juweliers Rozeman mitgenommen haben. Die Mordwaffe finden sie nicht.

Gut eine Woche nach dem Mord, am 13. November, wird Ford erneut verhört. Diesmal gibt er zu, die Robinson-Brüder hätten ihm von dem geplanten Raub bei Rozeman erzählt und ihn aufgefordert, mitzumachen. Er habe abgelehnt. Der Polizei habe er vorher nicht sagen wollen, aus Angst vor den Robinsons, aus Angst um sein Leben. Die Brüder gelten als gefährlich, auf der Straße erzählt man sich, sie hätten schon mehrere Morde begangen.

Gefährliche Brüder

Die Monate vergehen, Ford sitzt in Untersuchungshaft. Dann befragt die Polizei Jake Robinsons Freundin, Marvella Brown. Sie sagt, Ford sei am Tag des Mordes gegen 12 Uhr mittags in ihr Apartment gekommen und habe Jake und Henry gefragt, ob die „Sache noch steigt“. Wenig später hätten die Robinsons mit Ford die Wohnung verlassen.

Um 15 Uhr seien sie zurückgekehrt mit einem Beutel voller Juwelen. Ford habe eine 22-Kaliber-Pistole bei sich gehabt, Jake Robinson einen 38-Kaliber-Revolver, eine Waffe jenes Kalibers also, mit dem Rozeman erschossen wurde.

Der Fall landet auf dem Schreibtisch des Staatsanwalts Marty Stroud. Am gleichen Tag werden Glenn Ford, Jake und Henry Robinson wegen Mordes an Isadore Rozeman angeklagt.

Marty Stroud ist heute, 31 Jahre später, ein Mann mit tiefen Augenringen, seine Schultern hängen, er spricht mit dünner Stimme. Aus einem selbstsicheren, erfolgsverwöhnten Staatsanwalt ist ein gebrochener Mann geworden. Stroud leidet an einer unermesslichen Schuld.

Ein gebrochener Mann

Er hat deshalb den Beruf gewechselt. Er ist jetzt Anwalt, er klagt nicht mehr an, er verteidigt. Er sagt, dass Ford niemals hätte ins Gefängnis gehen dürfen.

Er war es, der Glenn Ford als Haupttäter angeklagt hat. Warum, das ist bis heute sein Geheimnis, Stroud sagt dazu nichts.

Zwei Krankenschwestern kümmerten sich rund um die Uhr um den todkranken Glenn Ford
Zwei Krankenschwestern kümmerten sich rund um die Uhr um den todkranken Glenn Ford
Quelle: Tina Kaiser

Die Robinson-Brüder waren als gewalttätig bekannt, sie hatten ein langes Vorstrafenregister. Auch sonst wirkt im Rückblick vieles derart merkwürdig, dass man Strouds schlechtes Gewissen gut nachvollziehen kann.

Die Jury wählt er so, dass alles für ihn laufen muss. Von den möglichen Geschworenen sortiert er alle sechs schwarzen Kandidaten aus, mit teils hanebüchenen Begründungen. Einen schmeißt er aus der Jury, weil der innerhalb von zehn Jahren dreimal den Job gewechselt hat. Das haben zwei weiße Jurymitglieder auch getan, doch gegen die hat Stroud nichts. Der zuständige Richter genehmigt Strouds Auswahl.

So läuft es in jener Zeit oft, wenn ein Gericht nach Geschworenen sucht, nicht nur in Shreveport. Die Hautfarbe entscheidet damals nicht nur darüber, wer in einer Jury sitzt, sondern auch, wer verurteilt wird. Eine Studie des US-Rechnungshofes aus dem Jahr 1990 kommt zu dem Schluss, dass in 82 Prozent der Prozesse die Rassenzugehörigkeit des Opfers eine große Rolle spielt.

Nur ein Weißer

Wer einen Weißen ermordet, wird in den USA viel eher zum Tode verurteilt als wer einen Schwarzen ermordet. Bis zum heutigen Tag wurde im Bundesstaat Louisiana nur einmal ein Weißer zum Tod verurteilt, der einen Schwarzen umgebracht hat. Das war im Jahr 1952.

Dazu kommt, dass Fords Anwalt, ein Pflichtverteidiger, ziemlich ahnungslos ist. Paul Lawrence hat vor allem für die Ölbranche gearbeitet. Zweimal hat er Angeklagte in einem Kriminalfall verteidigt, beide Prozesse hat er verloren. Mit Kapitalverbrechen wie Mord hat er keine Erfahrung, vor einer Jury stand er noch nie.

Ich hab gedacht, wenn ich das gewesen wäre, der 30 Jahre im Gefängnis saß, dann wäre ich wütend und deprimiert
Marty Stroud, Ehemaliger Staatsanwalt

Als der Prozess beginnt, erklärt Lawrence, dass Ford den Mord nicht begangen haben kann. Der Gerichtsmediziner hatte in seinem Bericht geschrieben, Rozeman sei zwischen 14 und 15 Uhr umgebracht worden. Zeugen wollen Ford mehr als eine Stunde davor in der Nähe von Rozemans Haus gesehen haben. Außerdem hatte Dr. Abdul Ebrahim, der Rozeman um kurz nach 15 Uhr tot aufgefunden hatte, ausgesagt, er habe noch um 14.30 Uhr mit Rozeman telefoniert. Der Mord, so schließt der Anwalt, müsse zwischen 14.30 und 15 Uhr passiert sein. Da war Ford längst nicht mehr in der Nähe des Tatortes.

Später nimmt er Strouds wichtigste Zeugin ins Kreuzverhör: Marvella Brown, die Freundin eines der beiden Robinson-Brüder. Er hält ihr widersprüchliche Aussagen aus dem Polizeiprotokoll vor. Am Ende des Verhörs gibt Brown zu: „Ich habe das Gericht angelogen. Alles war gelogen.“

Stroud hat nun ein Problem. Er hat keine Tatwaffe, und er hat auch keine Augenzeugin mehr, die Ford mit dem Mord in Verbindung bringt. Was er hat, sind drei vermeintliche Experten: einen Polizisten, einen Ballistiker und einen zweiten Pathologen, den er besorgt hat.

Ein einziger Partikel

Der Polizist ist kein ausgebildeter Fingerabdruck-Gutachter, er hat noch nie als solcher vor Gericht ausgesagt. Er zeigt der Jury eine Papiertüte mit Schmauchspuren, die am Tatort gefunden wurde. Damit wurde vermutlich die Tatwaffe gehalten, um darauf keine Spuren zu hinterlassen. Er habe auf der Tüte einen Teil eines Fingerabdrucks sichergestellt. Um den Täter eindeutig zuzuordnen, reicht der Abdruck nicht. Aber das stört Stroud nicht.

Der Ballistiker erklärt der Jury, er habe einen, ja tatsächlich einen einzigen Schmauchspur-Partikel an Fords Hand gefunden. Das sei Beweis, dass Ford die Pistole abgefeuert hätte. Dass dieser Partikel auch im Polizeipräsidium – einem Ort voller Waffen – an Fords Hand gekommen sein kann, erwähnt er nicht.

Der Pathologe muss Strouds größtes Problem aus dem Weg räumen: dass der Rechtsmediziner am Tatort zu dem Schluss gekommen war, Rozeman sei zwischen 14 und 15 Uhr gestorben. Strouds Pathologe hat, anders als der Kollege, Rozemans Leiche nie gesehen. Er kennt nur Fotos und Videoaufnahmen vom Tatort. Trotzdem sagt er, er sei ohne Zweifel: Als die Polizei Rozemans Leiche um 15.24 Uhr fand, sei der Mann „mehr als eine und vermutlich mehr als zwei Stunden tot“ gewesen.

Stroud hat den Pathologen für sein Gutachten bezahlt. Fords Anwalt hat für so was kein Geld. Ihn treibt der Prozess beinahe in die Insolvenz. Er wird am Ende vom Staat Louisiana 675 Dollar für 256,6 Arbeitsstunden bekommen. Das entspricht einem Stundenlohn von 2,63 Dollar.

Gutachten gegen Geld

Ford selbst sagt während des Prozesses kein Wort. Sein Verteidiger hat ihm dazu geraten. Er wird jeden Tag von Gerichtsbeamten in Fußfesseln auf die Anklagebank gebracht und hört ungläubig zu, was passiert. Viele Jahre später wird er sagen, er habe bis zum letzten Prozesstag geglaubt, dass jemand in den Saal springt und „April, April“ ruft.

Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht verzeihen
Glenn Ford, Unschuldiger Todeshäftling

Die Dinge wenden sich gegen ihn. Immer mehr, je länger der Prozess läuft. Und weder er noch sein Anwalt wissen von den beiden anonymen Zeugen aus dem Polizeibericht, die gesagt haben, die Robinson-Brüder hätten den Mord begangen. Die Polizei und der Staatsanwalt Stroud haben sie verschwiegen. Also werden sie im Prozess nicht als Zeugen gehört.

Am 26. Februar 1985 wird Ford zum Tode verurteilt. Die Klagen gegen die Robinson-Brüder werden fallen gelassen.

Ford steht unter Schock. Er ahnt nicht, wie viele rechtliche Mittel ein Verurteilter bis zum Exekutionstermin ausschöpfen kann, um die Zeit bis zum Tod in die Länge zu ziehen. Er denkt, er wird in wenigen Monaten sterben.

Ford schweigt

Stroud, der Staatsanwalt, geht mit Kollegen und Freunden in eine Kneipe und feiert. Für einen Staatsanwalt in Louisiana ist eine Verurteilung zum Tod wie ein Ticket zur Beförderung. Mit jedem Todesurteil steigt die Chance, eines Tages Richter zu werden.

Als sich Stroud an seinen Schreibtisch setzt und seinen Brief beginnt, sind 30 Jahre und 20 Tage vergangen seit dem Urteil. Die Sache hat ihn nicht in Ruhe gelassen, sie hat in ihm gearbeitet, ihn verändert. Er weiß, er hat einen fatalen Fehler gemacht.

Er hätte genügend Möglichkeiten gehabt, Jahrzehnte, um zu reden, die Sache klarzustellen. Jetzt geht es nicht mehr anders, er muss es tun. Er muss diesen Brief schreiben. Er wird ihn an die „Shreveport Times“ schicken, die Lokalzeitung. Die wird ihn abdrucken. Vielleicht wird ihm das etwas von seiner Last nehmen, an der er seit Jahrzehnten trägt.

Stroud schreibt, vier DIN-A4-Seiten lang.

Er schreibt: „Im Jahr 1984 war ich 33 Jahre alt. Ich war arrogant, narzisstisch und selbstgerecht. Gerechtigkeit hat mich nicht interessiert, ich wollte gewinnen. Nach dem Todesurteil im Ford-Prozess bin ich mit Leuten feiern gegangen und habe ein paar Runden ausgegeben. Das ist krank.“

Er schreibt, dass Ford mit seinem Pflichtverteidiger nie eine Chance hatte.

Er hatte keine Chance

Er schreibt, dass es damals schon klare Hinweise gab, dass die Robinson-Brüder die Täter gewesen sein müssen. Dass er einen einfachen Prozess wollte und es ihm nicht passte, diesen Hinweisen nachzugehen. Dass er die Schuld an einem Urteil trägt, das Ford rund 30 Jahre seines Lebens gekostet hat.

„Ich schließe diesen Brief mit der Hoffnung“, schreibt Stroud, „dass das Schicksal mehr Gnade für mich hat als ich für Glenn Ford hatte. Aber ich bin mir darüber im Klaren, dass ich keine Gnade verdiene.“

Es ist das erste Mal, dass er sich öffentlich zu diesem Fall äußert. Und seine Selbstanklage hat es in sich. Nie hat ein Staatsanwalt so direkt das Justizsystem angegriffen, so schonungslos Fehler eingeräumt, so ehrlich Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit und Fairness des Justizapparats geäußert. Stroud gibt Fernseh-, Radio- und Zeitungsinterviews, er tut Buße.

Er redet und es scheint, als würde er nie wieder damit aufhören. Als hätte er ein Ventil geöffnet, das nicht mehr zu schließen ist. Ein paar Wochen später will er plötzlich nicht mehr. Ein Interview in seinem Büro, das er der „Welt am Sonntag“ zugesagt hatte, verschiebt er immer wieder, Wochen später lässt er seine Sekretärin ausrichten, er habe einfach keine Zeit. Er sagt schließlich zu, wenigstens Fragen per E-Mail zu beantworten, lässt aber viele unbeantwortet. Vor allem die heiklen.

Keine Erlösung

Sein offener Brief, die Interviews, ein Treffen mit Ford haben ihm nicht die erhoffte Erlösung gebracht. Stattdessen feinden ihn Kollegen an, er ist nun ein Nestbeschmutzer. Vor seinem offenen Brief galt er als exzellenter Verteidiger. Aber wer will sich von dem Anwalt vertreten lassen, der Glenn Ford auf dem Gewissen hat? Er hatte auf Vergebung gehofft und Morddrohungen bekommen.

Ein Metallbett mit einer dünnen Matratze, eine Toilette, ein Waschbecken. Fünf Quadratmeter, drei Wände, zum Gang hin ist Fords Zelle durch Stahlgitterstäbe gesichert. Die Aufseher und die Häftlinge auf der anderen Seite des Gangs können ihm beim Schlafen zusehen, beim Gang aufs Klo, beim Weinen.

Das Hochsicherheitsgefängnis Angola in Louisiana, 6300 Gefangene, 1800 Angestellte, ist das größte in den USA. Und auch das härteste. Im 19. Jahrhundert war Angola eine Sklavenplantage, daher der Name, denn die meisten Sklaven stammten aus Angola. Sie mussten Baumwolle pflücken, während weiße Aufseher über sie wachten. Seitdem hat sich nicht viel geändert. Statt Sklaven arbeiten nun Gefangene auf den Feldern. Sie sind immer noch zu einem überwiegenden Teil schwarz, die meisten Aufseher weiß.

Ford arbeitet nicht auf dem Feld. Den Häftlingen in der Todeszelle ist es verboten, den Todestrakt zu verlassen. Also ist er 23 Stunden am Tag in seiner Einzelzelle, eine Stunde darf er auf den Gang und mit einem der anderen Gefangenen durch die Gitterstäbe reden, das Programm des Fernsehers auf dem Gang umschalten oder auf den Hof in die frische Luft.

Schwarze Sklaven, schwarze Gefangene

Anfangs dürfen die Häftlinge dort noch im Kreis laufen, irgendwann müssen sie in einem Käfig draußen stehen, der kaum größer ist als sie selbst. Ab da bleibt Ford lieber drinnen, dieser Käfig ist für ihn noch unwürdiger als der andere, als seine Zelle.

Regelmäßig sind die Toiletten verstopft, laufen über. Die Wärter fluten Wasser durch den Zellenblock. Die Häftlinge bekommen Schrubber, um das Gemisch aus Wasser und Scheiße aus ihren Zellen zu wischen. Im Sommer wird es oft so heiß, dass die Temperatur selbst nachts nicht unter 30 Grad fällt.

Die Häftlinge schlafen auf dem Betonboden, um etwas Kühlung zu bekommen. Einmal gibt es eine Rattenplage. Nacht für Nacht laufen Massen von Ratten durch den Zellenblock, 80 oder 90 zählt Ford. Er empfindet es als dankbare Ablenkung. Endlich passiert mal etwas.

Doch je länger er hier einsitzt, desto deprimierter wird er. Manchmal redet er tagelang nicht, isst kaum, kann nicht schlafen. Manche dieser Phasen dauern Monate, einmal spricht er angeblich anderthalb Jahre mit niemandem. Es gibt auch nichts zu sagen.

Ratten als willkommene Abwechslung

Nachdem er verurteilt worden war, hat er den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen. Er will ihnen das Leben nicht mit seinem Schicksal versauen. Doch er vermisst sie, besonders seine Kinder. Die vier Söhne waren noch im Kindergarten und der Grundschule, als er verhaftet wurde.

Glenn Ford leidet an Lungenkrebs. Kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis stirbt er
Glenn Ford leidet an Lungenkrebs. Kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis stirbt er
Quelle: Tina Kaiser

Nach zehn Jahren hat er Briefe nach Hause geschrieben, aber er hatte den Eindruck, dass sie sich nicht mehr sehr für ihn interessieren. Vom Tod seiner Großmutter erfährt er nach fünf Jahren. Niemand ist auf die Idee gekommen, ihm Bescheid zu geben. Auch sein Vater und sein großer Bruder sterben. Er hätte sich gern am Grab von ihnen verabschiedet, aber er darf nicht zur Beerdigung.

Sein einziger regelmäßiger Kontakt in die Welt sind seine Anwälte, allen voran Gary Clements. Der arbeitet seit Anfang der 90er-Jahre für Ford und wird ihn schließlich im März 2014 aus dem Gefängnis holen.

Ford lernt im Knast, dass nach einem Todesurteil der Kampf ums Überleben erst richtig beginnt. Häftlinge wie er, Todeskandidaten, haben in den USA ein Anrecht auf Rechtsbeistand, der durch alle Instanzen klagt. Die Gerichte der Bundesstaaten sprechen zum Tode Verurteilte fast nie nachträglich frei.

Erst, wenn die Sache vor dem Supreme Court landet, dem höchsten Gericht, wird es interessant. Das kann allerdings Jahrzehnte dauern. Häftlinge wie Ford sind daher für Steuerzahler so viel teurer als solche, die lebenslänglich bekommen. Ein Häftling in der Todeszelle kostet je nach Bundesstaat bis zu 330 Millionen Dollar.

Todeskandidaten sind am teuersten

Während Glenn Ford in seiner Zelle allmählich zermürbt wird, plagen Stroud die ersten Gewissensbisse. Vier Jahre nach dem Urteil kommen die Zweifel. Stroud glaubt allmählich nicht mehr, dass die Todesstrafe eine gute Sache ist. Er glaubt auch nicht mehr, dass das US-Justizsystem unfehlbar ist. Dass es die Schuldigen hinter Gitter bringt und die Unschuldigen freispricht. Er hat zu viel erlebt und selbst zu viele Fehler gemacht.

Es ist 1989, als Stroud seinen Job als Staatsanwalt kündigt und Strafverteidiger wird. Er konzentriert sich auf schwere Fälle, Menschen, die wegen Mords, Totschlags oder Sexualverbrechen angeklagt sind. Einige entgehen dank ihm der Todesstrafe. Er wird der Anwalt, den Ford gebraucht hätte. Es ist eine Art Ablasshandel mit sich selbst. Stroud tut Buße für das, was er Ford angetan hat. Doch als es darauf ankommt, hilft er Ford nicht.

Er hätte in einem der Berufungs- und Revisionsverfahren aussagen können. Er hätte vor Gericht sagen können, was er 2014 in der „Shreveport Times“ schreiben wird. Aber er traut sich offenbar nicht. Vielleicht hätte er Ford das Leben retten können.

Denn Ford wird krank im Gefängnis, sehr krank. Im Jahr 2011 finden Ärzte bei einer Untersuchung Tumormarker in seinem Blut, womöglich hat er Krebs. Ford bittet darum, zu einem Facharzt zu dürfen. Er darf nicht. So geht es vielen Häftlingen in diesem Gefängnis.

Schreckliche Zustände

Im Mai 2015 haben Häftlinge eine Klage gegen die Gefängnisleitung von Angola und die zuständigen Behörden eingereicht. Sie werfen der Gefängnisleitung vor, ihnen systematisch medizinische Hilfe verweigert zu haben. Die Klageschrift, 63 Seiten lang, listet eine Horrorstory nach der anderen auf: Ein Mann durfte nach einem Schlaganfall keinen Arzt sehen. Er ist heute blind und querschnittsgelähmt.

Ein Querschnittsgelähmter saß tagelang in seinen eigenen Fäkalien, bis Wärter ihn aus seiner Einzelzelle holten. Ein Mann musste mit einem gebrochenen Schlüsselbein auf einem Feld arbeiten. Die Wärter glaubten ihm nicht, dass er Schmerzen hatte.

Als Ford im März 2014 durch die schwere Stahltür des Gefängnisses in die Freiheit hinaustritt, denkt er nicht an den Staatsanwalt Stroud, nicht an Rache. Er ist frei, er will endlich leben, aufholen, was er verpasst hat.

Er sagt: „Ich kann das nicht, wenn ich wütend auf Marty Stroud bin.“

Die Polizei und die Staatsanwaltschaft in Shreveport glauben nun, was die Polizei und der Staatsanwalt Stroud 1983 nicht glauben wollten: dass die Gebrüder Robinson den Juwelier Isadore Rozeman ermordet haben. Fords Anwalt Clements sagt, ein neuer Informant habe die entscheidenden Beweise gegen die Robinsons geliefert. Es hat mit einem völlig anderen Fall zu tun, dass die Polizei sich noch mal damit befasst hat. Ein Zufall.

Aber wie soll es weitergehen, wo soll er wohnen? Die 20,04 Dollar, die ihm die Gefängniswärter bei seiner Entlassung gegeben haben, sind sein einziger Besitz. Seine Familie hat kein Geld und keinen Platz, ihn aufzunehmen. Doch er hat Glück. Ein Mann lädt ihn ein, bei sich zu wohnen. John Thompson. Ford hat ihn vor vielen Jahren im Gefängnis kennengelernt, sie saßen Zelle an Zelle im Todestrakt. Auch Thompson wurde freigesprochen.

Wie weiter mit 20,04 Dollar?

Eine DNA-Analyse hatte ergeben, dass ein anderer der Mörder war, für den man ihn hielt. Er saß 18 Jahre unschuldig im Gefängnis. Im Jahr 2011 sprach der Supreme Court ihm 14 Millionen Dollar Schmerzensgeld zu. Thompson kaufte zwei Häuser in New Orleans. Dort gibt er Männern wie Ford ein neues Zuhause. Männer, die zu Unrecht verurteilt und irgendwann doch noch freigesprochen wurden.

Ford zieht bei Thompson ein, in ein schönes, altes Haus in New Orleans, nur zehn Minuten vom berühmten French Quarter entfernt. Aber die verlorene Zeit lässt sich nicht einfach aufholen. Ford scheitert oft schon an den kleinen, alltäglichen Dingen.

Er weiß nicht, wie man ein Smartphone benutzt oder wie man im Internet surft. Einmal geht er allein Zigaretten kaufen in einen Laden um die Ecke. Er findet den Weg nicht zurück, er hat verlernt, wie das geht: sich einen Weg zu merken.

Und dann stellen Ärzte fest, was Ford lange befürchtet hat. Er hat Lungenkrebs, unheilbar. Hätte die Gefängnisleitung ihm schon 2011 einen Besuch bei einem Spezialisten erlaubt, er hätte eine Chance gehabt. Jetzt ist es zu spät. Er kann nur noch versuchen, die wenige Zeit zu genießen, die ihm noch bleibt. Dazu braucht er Geld.

Krebs, unheilbar

Sein Freund Thompson organisiert für ihn eine Internetkampagne. Er sammelt Spenden für Fords medizinische Versorgung. Und laut dem Gesetz von Louisiana steht Ford eine Entschädigung von 330.000 Dollar zu – das sind 11.000 Dollar für jedes Jahr, das Stroud ihm gestohlen hat.

Fast ein Jahr vergeht, bevor eine Shreveporter Richterin im März 2015 eine Entscheidung fällt: Ford bekommt keine Entschädigung, keinen Cent für die fast 30 Jahre. Sie begründet es damit, dass Ford von dem Raubüberfall auf Rozeman gewusst und nichts unternommen habe. Dass er unschuldig ist, höchstrichterlich festgestellt, interessiert sie nicht.

Als Stroud davon in der Zeitung liest, weiß er, dass er nicht weiter schweigen kann. Es ist, als ob dieser Mann ein zweites Mal zu Unrecht verurteilt würde. Nicht von ihm, Stroud, aber er war ja der Grund für alles.

Am 20. März 2015 erscheint sein offener Brief in der „Shreveport Times“. Er schreibt: „Glenn Ford sollte so viel Entschädigungszahlungen wie irgend möglich bekommen, weil unser fehlerhaftes Justizsystem sein Leben zerstört hat.“

Stroud gesteht seine Schuld ein, gleichzeitig versteckt er sie in der Schuld des Systems. Und er bittet Ford um ein Treffen.

Der Mensch und das System

Ford weiß nicht, ob er das will. Was soll das noch bringen? Er ist inzwischen bettlägerig, der Krebs hat gestreut, vier Krankenschwestern kümmern sich rund um die Uhr um ihn. Nichts und niemand wird ihm seine verlorenen Jahre zurückgeben. Andererseits, wenn das Fernsehen dabei wäre und die Welt von seinem Fall erführe, von dieser schreienden Ungerechtigkeit, das wäre immerhin etwas.

Glenn Ford konnte zuletzt nur mit Sauerstoffflasche leben
Glenn Ford konnte zuletzt nur mit Sauerstoffflasche leben
Quelle: Tina Kaiser

So etwas wie ihm soll nie wieder jemandem passieren. Außerdem haben seine Anwälte Schadensersatzklagen eingereicht. Gegen die Gefängnisleitung von Angola, gegen heutige und frühere Angestellte der Staatsanwaltschaft von Shreveport. Auf der Liste der Beklagten steht auch Strouds Name.

An einem Donnerstagabend Anfang April dieses Jahres holt ein Team des Fernsehsenders ABC Stroud am Flughafen in New Orleans ab. Stroud trägt einen schlecht sitzenden, grauen Anzug, die rot gemusterte Krawatte hängt schief über seinem Bauch. Er macht ein Gesicht, als ginge er zu seiner eigenen Hinrichtung. Stroud setzt sich auf die Rückbank einer schwarzen Limousine. Der Journalist fragt ihn, was er sich von dem Treffen erwarte. Stroud atmet lange aus. „Ich weiß es nicht. Mir tut das alles schrecklich leid.“

Ford hat den ganzen Tag im Bett gelegen. Für das Treffen mit Stroud haben ihn zwei Krankenschwestern in seinen Rollstuhl gehoben. Obwohl es draußen angenehm warm ist, trägt er einen dicken, braunen Wollpullover. Ihm ist ständig kalt, das kommt vom Krebs. Ford hat binnen zwölf Monaten 65 Kilo abgenommen, mehr als die Hälfte seines Gewichts.

65 Kilo Gewichtsverlust

Stroud betritt das Zimmer, geht auf Ford zu, ein schüchternes Lächeln auf den Lippen. Er nimmt Fords Hand und schüttelt sie mit beiden Händen.

„Mr. Ford.“

„Hey, wie geht’s?“ Ford hat den Blick auf seinen Schoß geheftet.

„Ich wollte, dass Sie wissen, dass es mir sehr leid tut. Ich habe einen Makel auf mir lasten, den ich mit ins Grab nehmen werde.“ Stroud hat sich vorher lange überlegt, was er sagen wird. Nun baumeln seine Hände unsicher am Körper. Er sieht verloren aus, beißt sich auf die Unterlippe. „Und ich war kein guter Mensch und dafür entschuldige ich mich.“

Ford hat die Augen geschlossen, die Stirn auf seine Hand abgestützt. Es dauert, bis er etwas sagt. „Ok, aber das hat mich 31 Jahre meines Lebens gekostet und am Ende wartet nichts auf mich, außer der Tod. Man gibt mir noch sechs bis acht Monate zum Leben.“

„Es gibt nichts, was ich sagen könnte, das Ihnen diese 30 Jahre zurückgeben würde. Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich viel über mich gelernt habe in diesen 30 Jahren. Und obwohl das die gleiche Person ist“, Stroud deutet mit der rechten Hand auf seine Brust, „möchte ich denken, dass ich mich verändert habe. Ich habe viel von Ihnen gelernt.“

Ich kann nicht verzeihen

Ford schaut zum ersten Mal auf, erstaunt. „Haben Sie?“

Der ehemalige Staatsanwalt Marty Stroud besuchte Glenn Ford kurz vor dessen Tod. Er konnte seinem Jäger nicht verzeihen
Der ehemalige Staatsanwalt Marty Stroud besuchte Glenn Ford kurz vor dessen Tod. Er konnte seinem Jäger nicht verzeihen
Quelle: picture alliance / AP Photo

„Ja, als ich Sie im Fernsehen gesehen habe. Ich hab’ gedacht, wenn ich das gewesen wäre, der 30 Jahre im Gefängnis saß, dann wäre ich wütend und deprimiert.“

„Es ist passiert, es ist passiert.“ Ford starrt auf seine Hände. „Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht verzeihen.“

„Das verstehe ich.“

Stroud senkt den Blick. Er dreht sich um und verlässt das Zimmer. Ford blickt ihm traurig hinterher. Mit hängenden Schultern sitzt er in seinem Stuhl, den Kopf gesenkt, er atmet schwer, stöhnt, weint.

Einige Wochen später stirbt er.

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