„Tatort: Vergebung“ – Die TV-Kritik zum ARD-Krimi heute

„Tatort: Vergebung“ – Die TV-Kritik zum ARD-Krimi am Sonntagabend

Von wegen Vergessen. Im neuen Stuttgarter „Tatort“ kommt eine alte Liebesgeschichte hoch, in die der Rechtsmediziner Daniel Vogt und eine Wasserleiche verwickelt sind. Die TV-Kritik.  

Sebastian Bootz (Felix Klare, l.) und Thorsten Lannert (Richy Müller, r.) vermuten, dass Daniel Vogt (Jürgen Hartmann, M.) mit seinem Schweigen seine Jugendfreundin schützen will.
Sebastian Bootz (Felix Klare, l.) und Thorsten Lannert (Richy Müller, r.) vermuten, dass Daniel Vogt (Jürgen Hartmann, M.) mit seinem Schweigen seine Jugendfreundin schützen will.SWR/Benoît Linder

Wie ein Albtraum wirkt die Ouvertüre bei Nacht. Ein Mann wird gefesselt, geknebelt und vom Steg in den Fluss gestoßen. Sein verzweifelter Todeskampf unter Wasser wird begleitet vom Rezitieren eines träumerischen Poems: Jemand springt in einen Fluss, erschaudert wegen der Kühle, entert ein Boot voller junger Leute, die reihum aus einer glänzenden Schale trinken und ihm bedeuten: „Herz, ich trinke Dir Vergessen zu!“ Der Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer hatte sein Gedicht „Lethe“ genannt, also nach jenem Fluss aus der Unterwelt der griechischen Mythologie, den schon Dante, Shakespeare, Hölderlin, Schiller und Goethe zitierten. Wer im Hades vom Wasser des Lethe trank, der vergaß sein Leben.

Tage später wird aus dem Neckar tatsächlich eine männliche Leiche gezogen. Der Tote ist aber nicht der Mann aus der nächtlichen Albtraumszene. Doch dieser gefesselte Mann mit dem „Lethe“-Gedicht unter Wasser ist seltsamerweise trotzdem zu sehen: Es ist der Rechtsmediziner Daniel Vogt (Jürgen Hartmann) – und er kennt den Toten. Auf dem Seziertisch liegt sein Jugendfreund Mathias, dem er nun den Schädel aufsägen muss und in dessen Körper er Metastasen einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung findet. Den Kommissaren Lannert und Bootz (Richy Müller und Felix Klare) verschweigt er aber zunächst, dass er den Toten seit seiner Jugend kannte und von ihm erst jüngst angerufen worden war.

Jürgen Hartmann spielt schon seit 2008 den Rechtsmediziner im Stuttgarter „Tatort“, ist also so lange im Dienst wie Richy Müller und Felix Klare. Er hatte die Idee zu diesem Film, in dem Daniel Vogt nicht nur seine drei Standardsätze sagt, sondern ins Zentrum rückt. Lange Verdrängtes und Vergessenes kommen in seinen Erinnerungen mit aller Macht wieder nach oben: Vierzig Jahre zuvor gehörte er zu einer unzertrennlichen Jugendclique. Die Rückblickszenen lassen die Atmosphäre der frühen 1980er sehr anschaulich aufleben: Ob Musik von David Bowie und Co., ob die Fahrräder oder die Badehosen – alles passt. Auch die jugendlichen Darsteller von 1983 passen sehr gut zu den Figuren von 2023.

Witwe unter Verdacht

Mathias, der nun tot aus dem Neckar gefischt wird, hatte damals für Daniel geschwärmt, dann aber Sandra geheiratet und mit ihr einen Sohn bekommen. Die Witwe (Ulrike C. Tscharre) gerät unter Verdacht: Denn Sandra arbeitet als Altenpflegerin und hätte ihrem todkranken Mann ohne Probleme eine Überdosis an Schmerzmitteln geben können. Die Kommissare unterstellen ihr aktive Sterbehilfe oder sogar Mord, denn der Mann hatte kurz vor seinem Ende seine Homosexualität nicht mehr unterdrückt, sondern sich in Stuttgart immer wieder mit Männern getroffen

Das Drama ums Verdrängen, Vergessen und Vergeben lebt von seinen starken Schauspielern: Jürgen Hartmann und Ulrike C. Tscharre spielen zwei Menschen, die ihr gesamtes Leben in Frage stellen müssen. Der Regisseur Rudi Gaul, der zusammen mit Katharina Adler das Drehbuch verfasste, hat einen konzentrierten Film in Szene gesetzt, der mit einer unerbittlichen Kraft seinem hochdramatischen Finale entgegen strömt – fast so wie ein reißender Fluss auf dem Weg zu einer Stromschnelle. 

Tatort: Vergebung. Sonntag, 19. November, 20.15 Uhr, ARD (+ Mediathek)

Wertung: 4 von 5 Punkten