Anton Hofreiter: „Putin hat Oberwasser“ - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Deutschland
  4. Anton Hofreiter: „Putin hat Oberwasser“

Deutschland Anton Hofreiter

„Wir müssen mehr tun. Putin hat Oberwasser“

„Es herrscht ein Abnutzungskrieg, Erschöpfungskrieg“

„Die Sommeroffensive der Ukraine hat überhaupt nicht die Ergebnisse gebracht, die man erhofft hat“, resümiert WELT TV-Russland-Korrespondent Christoph Wanner. Ohne Unterstützung aus der Europäischen Union sei die Ukraine aufgeschmissen.

Quelle: WELT TV/Christoph Wanner

Autoplay
Grünen-Außenpolitiker Hofreiter moniert mangelnde Hilfe für die Ukraine. Es wäre „blauäugig“, würde der Westen das Land auf diese Weise zu Gebietsabtretungen an Russland zwingen wollen. Statt „Wunschdenken“ seien jetzt deutsche Entscheidungen nötig, um Putins Imperialismus noch abzuwehren.

WELT: Herr Hofreiter, der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung zur Haushaltskrise der Ukraine weitere Waffenhilfe zugesagt. Die militärische Unterstützung steht angesichts des Sparzwangs also nicht zur Disposition?

Anton Hofreiter: Die militärische Unterstützung darf nicht zur Disposition stehen, weil die Lage in der Ukraine deutlich dramatischer ist, als das bei uns wahrgenommen wird. Die Ukraine hat den Krieg nicht verloren. Aber wir müssen mehr tun. Putin hat Oberwasser. Mit chinesischer Unterstützung läuft die russische Kriegswirtschaft seit Anfang des Jahres sehr intensiv. Die Waffenproduktion in Russland steigt ständig. Und in den umliegenden Ländern gibt es große Sorgen, dass Putin weitere Staaten attackieren könnte.

WELT: Die Ukraine geht jetzt in den zweiten Kriegswinter. Was heißt das konkret?

Hofreiter: Die Gefahr, dass es wieder zu massiven Stromausfällen kommt, ist groß. Russland bombardiert ständig Energieanlagen. Zwar ist die Luftabwehr besser geworden als vor einem Jahr. Aber die Vorräte an Transformatoren und Ersatzteilen, um das Stromnetz nach Angriffen wieder zu reparieren, sind fast aufgebraucht. Das bedeutet, dass Millionen bei Minustemperaturen frieren müssen. Deshalb darf der Westen nicht nachlassen, Anti-Raketen- und Anti-Drohnen-Systeme zu liefern. Aber wir tun da zu wenig.

Anton Hofreiter (Grüne), 53, ist Vorsitzender des Bundestagsausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Anton Hofreiter (Grüne), 53, ist Vorsitzender des Bundestagsausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Quelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com

WELT: Inzwischen glauben auch Beobachter, die nicht im Verdacht stehen, Kreml-Sympathisanten zu sein, dass die Ukraine den Krieg auf absehbare Zeit nicht gewinnen kann. Der Westen könne höchstens noch dafür sorgen, dass das Land ihn nicht verliert. Wie sehen Sie das?

Hofreiter: Die Lage ist schwierig, die Stimmung im Land nicht gut. Dennoch scheint mir der Durchhaltewillen der Ukrainer sehr hoch zu sein. Die krassen Verbrechen der Russen in den besetzten Gebieten hat niemand vergessen. Selbst Jugendliche wurden gefoltert. Aber um auch durchhalten zu können, müsste der Westen, müsste auch Deutschland mehr tun.

WELT: Der Kanzler betont, dass die Bundesrepublik nach den USA die größte Unterstützung liefert. Reicht das nicht?

Hofreiter: Es geht nicht um Statistiken. Im Krieg zählen nicht nur Kampfmoral, sondern vor allem Waffensysteme. Die Ukraine braucht mehr Munition, sie braucht Taurus-Marschflugkörper, Kampfflugzeuge, sie braucht größere Unterstützung bei der elektronischen Kriegsführung. Geschieht das nicht, droht ein jahrelanger Abnutzungskrieg.

WELT: Den gibt es ja schon. Geländegewinne hat die ukrainische Armee zuletzt vor einem Jahr gemacht. Die Sommeroffensive ist steckengeblieben, manche eroberte Städte müssen eventuell wieder aufgegeben werden. Was wir gerade erleben, ist ein verlustreicher Stellungskrieg, sozusagen Verdun mit Kamikazedrohnen. Welche Perspektiven sehen Sie?

Anzeige

Hofreiter: Hätten wir mehr Gepards geliefert, könnte man die Kamikazedrohnen auch besser bekämpfen. In denen stecken teilweise auch Bauteile aus Österreich, was Fragen nach der Einhaltung von Sanktionen aufwirft.

Dass die ukrainische Offensive nicht so funktioniert hat, wie man sich das vorgestellt hat, lag schlichtweg daran, dass insbesondere das schwere Gerät, also Kampfpanzer, erst geliefert worden sind, als es der russischen Armee gelungen ist, die Front zu verminen. Und zwar auf ungefähr 200.000 Quadratkilometern, einer Fläche, die mehr als doppelt so groß ist wie Österreich. Die Zögerlichkeit bei den Waffenlieferungen hat sich bitter gerächt. Auch der Bundeskanzler trägt hier Verantwortung.

WELT: Was werfen Sie Olaf Scholz (SPD) vor?

Hofreiter: Das Motto im Kanzleramt war leider: Too little, too late – zu wenig, zu spät. Offenbar wurde da auf eine Stimmung in der Bevölkerung Rücksicht genommen, sich nicht zu sehr einzumischen. Aber die Probleme verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert. Ich war gerade in Madrid bei einem Treffen aller EU-Ausschüsse Europas, auch von den Beitrittskandidaten.

Ich bin oft sehr besorgt gefragt worden, was jetzt die Haushaltsschwierigkeiten eigentlich bedeuten, was das für unsere Verteidigungsfähigkeit bedeutet, was das für unsere Resilienz bedeutet, ob die 100 Milliarden Sondervermögen im Feuer stehen. Das konnte ich dementieren. Aber die Sorgen sind trotzdem riesengroß, dass wir uns irgendwann wegducken.

Kommentar

.

WELT: In elf Monaten findet in den USA die Präsidentschaftswahl statt. Stand heute würde der Republikaner Donald Trump gegen den demokratischen Amtsinhaber Joe Biden wohl gewinnen. Was hieße das für Europa?

Anzeige

Hofreiter: Das wäre ein Riesenproblem. Wir wären auf die Schnelle nicht in der Lage, den großen Beitrag, den die USA leisten, zur Sicherheit Europas zu ersetzen. Allein deshalb müssen wir in dem Bereich viel, viel mehr tun. Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass die Demokraten immer die nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnen. Und auch bei denen fragen viele, ob wir die Probleme in Europa nicht endlich mal selbst regeln können. Es stimmt ja, ohne Hilfe aus den USA wäre Kiew heute vermutlich in russischer Hand. Die EU allein hätte das nicht gestemmt.

WELT: Ich will noch mal auf die Stimmung in der Ukraine kommen. Es gibt ukrainische Brigaden, in denen es seit Januar keine Rotation gegeben hat. Manche Einheiten erlitten Verluste bis zu 40 Prozent. Nicht nur in Kiew werden Männer auf offener Straße eingezogen. Manche jungen Männer trauten sich deshalb gar nicht mehr aus der Wohnung, berichten Journalisten. Die Lage verdüstert sich also nicht nur militärisch, auch gesellschaftlich?

Hofreiter: Die Sorgen sind sehr groß in der Ukraine. Deswegen halte ich die Debatten, die wir hier in Deutschland führen, oft für naiv. Die Idee, man könne in dieser Lage hier die Schuldenbremse aufrechterhalten, ist doch Traumtänzerei.

WELT: Wie meinen Sie das?

Hofreiter: Wir haben es mit einem Russland zu tun, das voll in die Kriegswirtschaft eingestiegen ist, mit einem China, das extrem aggressiv agiert und Taiwan bedroht. Wir werden dem etwas entgegensetzen müssen, auch in der Rüstungsproduktion, das ist leider so.

WELT: Putin schießt die Schuldenbremse weg?

Hofreiter: Die Schuldenbremse muss aus einer ganzen Reihe von Gründen reformiert werden. Über die Notwendigkeit einer dauerhaften militärischen Unterstützung für die Ukraine haben wir gesprochen. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir einer ganzen Reihe von Bedrohungen ausgesetzt sind, und zwar nicht für kurze Zeit. Wir sind in vielen Bereichen etwa abhängig von China, das muss sich schnell ändern.

Die Lage im Südchinesischen Meer ist hoch angespannt. Deshalb ist die Ansiedlung von Halbleiterfabriken in Deutschland so wichtig. Für mich ist das auch eine sicherheitspolitische, nicht nur eine ökonomische Frage. Wir brauchen mehr Unabhängigkeit. Aber auch das wird viel Geld kosten. Die Abschaffung der Schuldenbremse ist deshalb schon aus sicherheitspolitischen Gründen notwendig.

WELT: Ich bin nicht sicher, ob die FDP das auch so sieht.

Hofreiter: Ich empfehle den Skeptikern eine Reise ins Baltikum. Ich bin da oft unterwegs. Die Menschen dort haben einfach richtig Angst, dass Putin in der Ukraine nicht Halt macht. In Georgien und Armenien ist die Stimmung nicht anders. In den Regionen um Russland herum sind die Sorgen riesig. Wir haben als wirtschaftlich stärkstes Land Europas noch nicht wirklich begriffen, dass die Stunde geschlagen hat.

WELT: Sie klingen sehr pessimistisch.

Hofreiter: Ich rate jedenfalls dazu, sich auf Eventualitäten vorzubereiten. Ich kann mich gut erinnern, dass wir es für komplett undenkbar hielten, dass Putin in großem Umfang die Ukraine angreift. Deshalb bin ich persönlich vorsichtig geworden. Aber ich glaube, wenn wir jetzt richtige Entscheidungen treffen, können wir Putins Imperialismus abwehren. Aber diese Entscheidungen müssen halt jetzt getroffen werden.

WELT: Es gibt ja die Theorie, dass hinter der westlichen Zögerlichkeit eine Strategie steckt, dass man die Ukraine in einen kalten Verhandlungsfrieden oder Waffenstillstand mit Gebietsabtretungen zwingen will. Was halten Sie davon?

Hofreiter: Ja, es gibt Leute, die das politisch verfolgen. Ich halte das für blauäugig. Putin wäre mit so einer Lösung zufrieden, aber doch nicht gesättigt. Er wäre ermuntert, weiter anzugreifen. Der Wunsch, dass das alles bald zu Ende geht, ist im Westen groß. Aber leider bestimmen solche Wünsche nicht die Wirklichkeit.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema